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1 // Donatello

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Fare la stesa – ein paar Leute abknallen, egal wen.

Für Angst und Schrecken sorgen, einschüchtern. Das Revier markieren, die Vorherrschaft verteidigen oder an sich reißen. Es geht um viel Geld, Respekt und Macht. Für die schießwütigen Straßenpinscher von Neapel geht es um nichts weniger als um ihre Daseinsberechtigung.

Unweit des Hafens und der geschäftigen Quartieri Spagnoli las Jo Kilian im dämmrigen Straßenlicht der Piazza Trieste e Trento die Chat-Nachrichten eines gewissen Donatello. Der wollte an diesem Abend mit seiner Bande zuschlagen, irgendwo hier in der Nähe.

Das Profilbild zeigte einen Bengel von vielleicht sechzehn Jahren in geschmacklos kombinierten Markenklamotten, vermutlich alles geklaut, mit wuchtiger Gucci-Sonnenbrille und kurzen, weiß gebleichten Haaren. Auf dem Wangenknochen prangte ein amateurhaft gestochenes Kreuz mit einer Reihe von Punkten, was man als Rosenkranz interpretieren konnte.

Zugang zur Chatgruppe hatte Kilian über den Account eines jungen Einbrechers erhalten, den er in der Villa seines Auftraggebers auf frischer Tat ertappt hatte. Der Knirps war nicht älter als zwölf gewesen, hatte aber bereits eine russische Makarow dabeigehabt, die nun in Kilians Gürtel steckte.

Auf dem Handy des Nachwuchsganoven hatte er etwas Unerwartetes gefunden, etwas, wonach er seit Jahren suchte – den Namen Gallo, nur einmal erwähnt in einer Nachricht von diesem Donatello.

Die Tür hinter Kilian ging auf, Stimmen wurden laut. Jemand stimmte ein Lied aus den guten, alten Zeiten an, die niemals gut, sondern immer nur eine unstillbare Sehnsucht gewesen waren, ein Nachtigallenkonzert für eine Fata Morgana. Für die geplagten Neapolitaner mussten die Worte heute klingen wie blanker Hohn.

Serenata quasi a mezzanotte … wo Räuber und Gendarm sich bekämpfen und ein einsamer Junge noch romantisch ist …

»Kiliano, komm rein. Du holst dir noch den Tod in der Kälte.«

Francesco zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und wandte sich mit eingezogenem Kopf von der Hafenseite ab.

Eine kühle Brise wehte von dort herauf und vertrieb für einen Augenblick den allseits schwelenden Gestank der Müllberge in den Straßen und Gassen.

»Sagt dir dieser Kerl was?«, Kilian hielt ihm das Handy hin. »Soll einer dieser Baby-Gangster aus der Sanità sein«, ein berüchtigter Stadtteil im Norden, wo jeder jeden kannte und Kilian bei der ersten Frage nach Donatello zur Zielscheibe geworden wäre.

»Was interessiert’s dich?«, erwiderte Francesco nach einem kurzen, angewiderten Blick, schniefte und schob die Hornbrille hoch. »Bastarde sind sie, Rattengesindel. Ausräuchern und ins Meer treiben. Basta.«

Derart martialisch sprach Francesco erst seit ein paar Jahren. Zuvor war er ein lebenslustiger und spitzbübisch dreinschauender Kellner von Il vero bar del professore gewesen, einer kleinen, auf urig gemachten Bar, deren Besitzer sich gerne mit berühmten Gästen schmückte – Lucio Dalla, Andrea Bocelli, Stefano Gabbana und dergleichen mehr. Hin und wieder schaute auch ein in die Jahre gekommener Camorrista vorbei, sofern er nicht Revierkämpfen und Streitereien zum Opfer gefallen war oder in einem Hochsicherheitsgefängnis verfaulte.

Verglichen mit den Baby-Gangstern von heute, schwadronierte Francesco, seien die Camorra-Capos von früher die wahren guten, alten Zeiten gewesen. Damals wusste man, woran man war.

»Das Kreuz mit den Punkten auf seiner Wange«, insistierte Kilian, »ist das ein Zeichen seines Clans?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gibt so viele Zeichen und Clans. Über hundert allein in Neapel. Sie breiten sich aus wie ein Virus. Niemand wird ihrer Herr.«

»Er droht mit einem Angriff auf die Piazza, heute Abend.«

»Dummes Geschwätz. Er hat keine Chance hier im Süden. Die Calabroni pusten ihn weg, bevor er auf die Piazza del Plebiscito kommt.«

Die Calabroni waren die Hornissen, eine Baby-Gang aus dem Hafenviertel, die Bewohner und Geschäftsleute terrorisierte und regelmäßig Angriffe rivalisierender Gangs aus anderen Stadtteilen abzuwehren hatte. Sie führte aber auch selbst welche durch, um ihr Territorium zu erweitern.

Heute wie damals wildes Gockelgehabe.

»Kann schon sein«, lenkte Kilian ein.

Sein Blick ging über die vielen Köpfe der Touristen hinweg, die aus den Quartieri Spagnoli auf die Piazza strömten und sich auf die Bars und Restaurants verteilten. Dazu gesellten sich Geschäftsleute, Angestellte und Arbeiter auf ihrem Weg nach Hause. Autos und Mopeds bogen in den Kreisel um die Fontana del Carciofo ein. Unmöglich, in diesem Gewusel den Überblick zu behalten.

»Bist du wieder auf der Jagd nach dem Gespenst«, fragte Francesco besorgt, »deinem geheimnisvollen Gallo?«

»Er ist kein Gespenst. Er ist so real wie du und ich.«

Francesco warf die Zigarette in den Rinnstein und seufzte, wie immer, wenn das Thema zur Sprache kam.

»Mach endlich deinen Frieden mit der Vergangenheit.«

»Frieden gibt es erst, wenn ich ihm das Licht ausgeblasen habe.« Kilian schnippte mit einem Ping das Zippo auf, entzündete die Flamme und inhalierte tief, um den aufsteigenden Schmerz zu lindern.

Gallo. Pia.

»Wie geht’s Raffi?«, fragte Francesco.

Kilian blies den Rauch in den wolkenverhangenen Abendhimmel und lächelte bemüht, dilettantisch.

»Gut. Bestens.«

»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«

Das reichte. »Kümmer dich um deinen Scheiß, okay?«

Vielleicht beim nächsten Mal würde er sich bequatschen lassen, nach einem Abendessen und reichlich Wein auf der Terrasse, wenn sie übers Meer schauten, den Mond anhimmelten und sich bis in die Morgenstunden in Erinnerungen verloren.

Gemeinsame Urlaube. Grillen am Strand. Tanzen im Mondlicht … Als Pia eine Muschel im Sand entdeckte, so schön und wohlgeformt wie von Botticelli gemalt. Die Muschel aufs Herz gedrückt und mit dem Geschmack von Salzwasser auf den Lippen wollte sie an diesem Strand, in dieser Bucht, ein Haus bauen.

»Pass auf dich auf«, gab sich Francesco zufrieden und ging zurück in die Bar. Da drehte er sich noch mal um. »’ne finstere Gestalt war mal da, sprach kaum Italienisch, irgendwas vom Balkan.«

»Und?«

»Hatte so ein Kreuz mit Punkten auf dem Handrücken …«

Schon war Kilian bei der Sache. »Was wollte er?«

»Was im Viertel los ist, wer Geschäfte macht, das Sagen hat …«

»Ja, weiter.«

»Hab ihn zu den Calabroni geschickt. Sollen die ihm beibringen, dass er hier nichts verloren hat.«

»Wo kann ich deren Anführer finden?«

»Vergiss es. Mit den Straßenkötern kannst du nicht reden.«

»Warum nicht?«

»Weil sie nichts anderes können als schießen. Und jetzt hör endlich auf und geh nach Hause zu deinem Sohn. Er braucht dich.« Francesco öffnete die Tür und verschwand im Gedränge der fröhlichen Bargesellschaft.

Nach Hause … Es gab kein Zuhause mehr, das war in abertausend Stücke zerrissen worden. Ein Ring und eine Muschel, mehr war ihm nicht geblieben.

Kilians Handy vibrierte. Dr. Kohlschreiber, zum x-ten Mal. Kilian setzte an, ihm endlich zu antworten, da röhrte ein Motorrad von der Piazza del Plebiscito her, beschleunigte und eine grün-weiß lackierte Straßenmaschine schoss an ihm vorbei in die Via Toledo.

Fußgänger kreuzten, Touristen flanierten gedankenverloren.

Drei Motorroller folgten der Maschine, Schützen auf der Rückbank, die ihre Waffen in Anschlag brachten.

Kilian zog die Makarow aus dem Gürtel, aufflammendes Schnellfeuer zwang ihn zu Boden. Projektile prasselten auf Mauern, Türen, Fenster und Autos, Splitter und Querschläger sirrten durch die Luft. Getroffen wurde auch eine asiatische Reisegruppe mit lustigen I-love-Napoli-Mützen auf den Köpfen und allerlei Tand in den bunten Einkaufstüten beim Selfieknipsen. Sie sackten in sich zusammen oder wurden umgerissen, Händler und Geschäftsleute retteten sich geistesgegenwärtig in Hauseingänge und um die nächsten Ecken.

Ein Auto krachte in ein anderes, Pistolenschüsse knallten, dazu das Wüten der Motoren, das sich in der engen Via Toledo brach, bis es sich nach und nach verlor.

Für einen Augenblick kehrte Stille ein.

Unwirklich und grotesk kam sie Kilian vor, der noch immer mit der Makarow auf die geflüchteten Angreifer zielte, doch sie zu keiner Zeit von der Menschenmenge hatte separieren können.

Dann gellten die ersten Schreie über den Platz, erstickte Hilferufe erhoben sich, in Kilians unmittelbarer Nähe weinte ein Kind. Eine Frau stolperte vorbei, Blut tropfte ihm auf Kopf und Hände, sie stürzte und gab das plärrende Bündel frei.

Mitten auf der Straße. Zwischen den Fronten.

Blendende Lichter tauchten am Nadelöhr zur Piazza del Plebiscito aus dem Dunkel auf, ein Schwarm fuchsteufelswilder Hornissen, heiser, laut und auf Vergeltung aus.

Kilian schnellte hoch. Ein paar beherzte Schritte weiter bekam er das Kind zu fassen, blickte auf. Für den Rückweg reichte die Zeit nicht mehr … dann eben anders: Muße für ein Rendezvous der anderen Art.

Mit dem Kind im Arm legte er auf die vorderste Hornisse an.

»Schschschhhh«, besänftigte er die Kleine, »ruhig.«

Er spannte den Hahn und krümmte den Finger bis zum Widerstand, doch die Hornissen hatten andere Pläne, ein lohnenswerteres Ziel vor Augen, als einen Irren mit Kleinkind von der Straße zu fegen. Sie ließen ihn links liegen.

Spielverderber.

»Kiliano!«, hörte er Francesco rufen, der wie erstarrt am geborstenen Fenster der Bar stand. Verletzte stolperten heraus, andere rannten panisch davon.

»Kümmer dich um das Kind.« Kilian reichte ihm das Bündel. »Die Mutter …«, lag tot auf der Straße, der Inhalt ihrer Handtasche im Rinnstein. Babyrassel, Papiertaschentücher, Lippenstift, Telefon …

»Du bist voller Blut«, sorgte sich Francesco.

»Nicht meins.«

Kilian steckte die Makarow zurück in den Gürtel und schwang sich auf die alte Harley, die mindestens genauso heruntergekommen aussah wie er mit seinen ungepflegten, langen Haaren, der verschlissenen Jeans und ausgebeulten Lederjacke. Aber sie waren beide zäh und wussten die Treue des anderen zu schätzen.

»Was hast du vor?«, fragte Francesco.

Kilian startete den Bock, der mürrisch grollte, als sei er aus dem Schlaf gerissen worden.

»Bleib erreichbar. Vielleicht brauch ich dich.«

Dann lenkte er das Streitross in die Straße der Toten.

Gallo rosso

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