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7 // Shefkije

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Die Luft war frisch und klar.

Anders als Neapel, hatte sich Bari in den letzten Jahren zu einer Vorzeigestadt herausgeputzt und war bestens organisiert, sodass man kaum glauben konnte, in einer süditalienischen Stadt zu sein. Nur lag das nicht allein an der Geschäftstüchtigkeit der Einwohner Baris, sondern auch an der apulischen Mafia, der Sacra Corona Unità und ihren Familienclans.

Alle profitierten vom Tourismus, man biss nicht die Hand, die einen fütterte. Blutfehden rivalisierender Clans hatten im Sommer Pause.

Das Büro von Kotor Trans befand sich vis-à-vis des Parks Piazza Umberto I, gerade mal fünf Gehminuten von der Altstadt und dem ebenso weitläufigen wie geschäftigen Hafen entfernt. In der gepflegten Grünanlage ragten Palmen in den bewölkten Himmel, gestutzte Rosen- und Oleandersträucher erwarteten den Frühling, ein Brunnen gurgelte Wasser.

Zwei kleine Espressobars entlang der gekehrten Wege luden Geschäftsleute und Passanten zu einem Plausch ein. Kilian wählte einen Platz im Schatten, in den Gesprächen an den Nachbartischen ging es um wegbrechende Buchungen aus Asien und Stornierungen von Hotelzimmern, Kreuzfahrten und Ausflügen in die Umgebung, nach Alberobello, Matera und Polignano a Mare, in die Grotte di Castellana und natürlich zum berühmten Schloss Castel del Monte des Stauferkaisers Friedrich II.

Da bahne sich eine Katastrophe an, prophezeite einer. Ein anderer beruhigte, das Problem sei mit der Festnahme zweier chinesischer Touristen in Rom, die das Coronavirus ins Land gebracht hatten, doch schon längst erledigt. Man solle nicht länger auf Fake News und Panikmache hereinfallen, ab Montag gehe alles wieder seinen gewohnten Gang. Und wenn wirklich alles schief ginge mit den Chinesen, dann gebe es ja noch die Deutschen. Die ließen sich nicht so schnell von ihrer Reise abbringen. Für die Deutschen sei der Urlaub heilig, auf die Deutschen sei Verlass.

Bevor Kilian bei Kotor Trans nach Amer fragte, wollte er sich ein Bild machen, mit wem er es gleich zu tun bekam. Auf der Website offenbarte sich eine Spedition, die zu Wasser, Luft und auf der Straße Waren quer durch Europa karrte.

Das Büro in Bari leitete Amer Damjanovic, schwarzer Kurzhaarschnitt, markante Ohren und Wangenknochen, eine leicht schiefe Nase, die vermutlich mal gebrochen worden war.

Daneben gab es Kotor Ferries & Cruises, die Kreuzfahrten durchführten und Fährverbindungen im Mittelmeerraum unterhielten. Als Reiseveranstalter und Hotelbetreiber trat Kotor Holidays auf.

Die Firmengruppe, die Niederlassungen in ganz Europa unterhielt, hatte ihren Hauptsitz im montenegrinischen Küstenort Kotor. Chef der inhabergeführten Firma war Luka Shkaljar, ein Mann, der offensichtlich Wert auf Äußeres und Wirkung legte.

Das Colgate-Lächeln eines graumelierten, dezent gebräunten Selfmade-Milliardärs in einem zehntausend Euro teuren Anzug eines italienischen Schneiders.

Kurz darauf betrat Kilian das Firmengebäude.

Disponenten mit Headsets auf den Köpfen redeten in verschiedenen Sprachen, tippten, klickten und starrten auf Computerterminals. Eine Frau, die das Team zu beaufsichtigen schien, kam auf Kilian zu. Ihr Blazer wurde ihrer zierlichen Figur nicht gerecht und glänzte vom vielen Gebrauch schon am Revers. Aber ihr dreister Blick sagte mehr über sie aus als die bemüht adrett gehaltene Firmenkleidung.

Laut Namensschild hieß sie Roana.

»Sie wünschen?«

Ihr Lächeln war einem ungebetenen Gast geschuldet und so geizig wie Kilians Antwort.

»Zu Amer.«

Sie stutzte. »Wer sind Sie?« In ihrer Stimme lag ein Ton, der nicht hierher gehörte.

»Donatello schickt mich«, sagte Kilian in gebrochenem Italienisch und garnierte es mit einer Prise Deutsch, das sie einem Lkw-Fahrer zuschreiben sollte.

Ein kurzer, zweifelnder Blick. »Wer?«

»Donatello. Zu Amer.«

Endlich schluckte sie den Köder. »Hier warten. Nicht weggehen. Hast du verstanden?«

Kilian nickte.

Sie ging auf Abstand, telefonierte. Im Gebrabbel der Disponenten ringsherum war nichts zu verstehen, aber nach wenigen Worten gab es eine Entscheidung.

»Amer kommt heute Nacht zurück …«

»Keine Zeit«, unterbrach Kilian, »Lieferung nicht warten.«

Vorbei war es mit dem Lächeln und der Hilfsbereitschaft, jetzt befahl sie. »Nein, heute Nacht, wenn Amer …«

Die Tür hinter Kilian ging auf und dieses Mal bemühte sich der Vorzimmerdrachen erst gar nicht um falsche Freundlichkeit, die Besucherin schien ihr wohlbekannt, aber ebenso wenig willkommen wie der sture Lkw-Fahrer.

»Shefkije«, fauchte sie eine junge Frau an, deren Profession offenkundig war – hochhackige, schwarze Lackstiefel bis übers Knie, Netzstrümpfe, knapper Lederrock und eine kurze Schaffelljacke, die blonden Haare glänzten unnatürlich. Echt waren hingegen die aufgesprungene Lippe und ein geschwollenes Auge, Wimperntusche klebte tränenverschmiert an den Wangen.

Die Straßenschwalbe machte in irgendeiner Sprache ihrem Unmut Luft, schimpfte, protestierte und drohte. Die Disponenten verloren das Interesse an ihrer Arbeit, hörten aufmerksam hin. Nicht alle waren bestürzt, da gab es schadenfrohes Grinsen und Zustimmung, dass die Prügel die Richtige getroffen hatten.

Im Schwall von Klage und Leid schnappte Kilian zwei Worte auf: Hotel und Amer.

»Geh jetzt«, wies die Bürofrau Kilian die Tür. Ein Wink von ihr, und zwei Disponenten erhoben sich, um der Aufforderung Nachdruck zu verleihen.

Für den Moment gab Kilian nach, verließ das Büro, setzte sich auf die Parkbank gegenüber, beobachtete und wartete.

Er stellte eine Suchanfrage für ein Hotel von Kotor Holidays in Bari, wo er nach Amer Ausschau halten konnte, sofern er hier nicht weiterkam.

Ein Dutzend Treffer mit Bewertungen von Absteige bis Edeltempel, von Stundenhotel bis Amigotreff. Typisch Mafia, was ein Gastkommentar bestätigte, in Apulien regiere die Sacra Corona Unità, die jüngste Mafiafamilie neben den weitaus bekannteren Camorra, ’Ndrangetha und Cosa Nostra.

Ihr Herrschaftsgebiet erstrecke sich vom Gargano, der Gegend am Sporn des Stiefels mit der Provinzhauptstadt Foggia, bis hinunter zum Absatz nach Brindisi und Lecce. Über Mafia und organisierte Kriminalität verlor man hier besser kein Wort. Zum Einen, weil man um sein Leben bangen musste, zum anderen, weil man nicht dort sein Geschäft verrichtete, wo man aß.

Apulien, der aufgehübschte Wilde Westen Italiens, lautete ein anderer Bericht. Rund 80 Prozent der Ladenbesitzer, Hoteliers und sonstigen Unternehmer zahlten Schutzgeld an die Mafia, weitere Einnahmen erzielte sie aus Drogenhandel, durch Raubüberfälle auf Geldtransporter, Falschgeld, Glücksspiel und die illegale Entsorgung von Giftmüll.

Zwei lukrative Geschäftsbereiche waren seit 2015 hinzugekommen: Menschenhandel und Zwangsprostitution – in bester Kooperation mit der albanischen Mafia.

Von einer Zusammenarbeit verschiedener Mafiaorganisationen hatte Kilian schon mal gehört, aber das war die Ausnahme. Die einzelnen italienischen Familienclans waren sich untereinander schon nicht grün, wie sollte das mit einem ausländischen funktionieren, noch dazu aus einem anderen Kulturkreis, der sich womöglich auch noch konfessionell unterschied?

Die Tür von Kotor Trans öffnete sich, heraus kam die junge Frau mit den hochhackigen Stiefeln und der Schaffelljacke. Sie stöckelte hastig die Straße entlang, ohne nach links oder rechts zu schauen. Das Hupen eines abbiegenden Autos konterte sie mit wüsten Beleidigungen.

Sie war bedeutend kommunikativer als die Beißzange im Büro, Kilian schwang sich auf seine Maschine und folgte ihr.

Sie wählte die Via Argiro Richtung Altstadt, querte den Giardino Corso Vittorio Emanuele, schlug die Einladung eines Kellners zu einem Espresso mit Kusshand aus, bog in die Via Benedetto Petrone ein, dann in die Largo Chiurlia, die geradeaus in eine schmale und verwinkelte Gasse überging, sodass Kilian sie um ein Haar aus den Augen verloren hätte, wenn da nicht plötzlich ein Kerl auf einer Vespa aufgekreuzt wäre, der ihr den Weg abschnitt.

Es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung, und erneut verstand Kilian kein Wort. Doch als ein Messer aufklappte und ihr an die Kehle gehalten wurde, zögerte er nicht länger.

Der Bursche ging mit einem Ächzen in die Knie, ein zweiter Schlag beförderte ihn in die Bewusstlosigkeit. Noch bevor Kilian die Frau am Arm fassen konnte, schnappte sie sich das Messer und bedrohte ihn.

»Kush je ti?!«

»Lass das«, erwiderte er.

»Wer bist du?!«

»Ich will dir nichts tun. Komm.«

»Mann von Amer?« Wie schon zuvor beim Bürodrachen ein Akzent, der nicht hierher gehörte. Sie trat dem bewusstlosen Angreifer in die Seite. »Wie der?! Scheiß auf Omertà! Niemand macht Shefkije schweigen!«

Vom Balkon gegenüber blickte eine Frau in Schürze herunter. Als sie erkannte, dass da jemand am Boden lag und vermeintlich ein Messer zwischen Freier und Prostituierter im Spiel war, belegte sie sie mit Flüchen, drohte mit der Polizei.

Die Frau an Kilians Seite bellte mit dem Messer fuchtelnd zurück.

»Du machst Omertà! Du!«

Kilian nahm es ihr ab, zog sie um die Ecke, stellte sie an die Wand.

»Beruhige dich, ich will nichts von dir. Ich suche Amer. Wo kann ich ihn finden?«

»Woher soll ich wissen?«

»Lüg nicht, ich habe seinen Namen aus deinem Mund gehört.«

»Du im Büro, ja?«

»Ja.«

Sie verzog den Mund und sah ihn schief von unten an. »Was willst du von Amer?«

»Etwas fragen. Also, wo?«

Eine neue Verhandlungsbasis tat sich auf. »Was zahlst du?«

Sie feilschte, nachdem er ihr das Leben gerettet hatte?

»Ich kann dir sagen. Was zahlst du?«

»Vergiss es.« Kilian wandte sich ab, er würde noch mal mit dem Bürodrachen sprechen müssen.

Doch Shefkije war schlauer als gedacht. »Roana nicht weiß, wo Amer. Nur ich.«

Kilian winkte ab.

»Amer in Versteck, nicht in Bari.«

»In einem Hotel, ich weiß, und ich werde es finden.«

»Dummkopf. Amer mit Leuten von Gallo.«

Die Altbauwohnung im dritten Stock lag nur wenige Schritte entfernt in einer abgelegenen Ecke des Gassenwirrwarrs. Sie verfügte über fünf Zimmer, Küche, Bad und eine Terrasse, von der man über die Dächer Baris aufs nahe Meer blicken konnte. Das Objekt wäre ein Traum für jeden Italiener und Möchtegern-Italiener gewesen, sofern es nicht durch seine Bewohner zweckentfremdet worden wäre.

Kilian schätzte, dass in der Wohnung etwa zehn Prostituierte in drei Zimmern ihre Kunden bedienten, in den zwei übrigen Räumen standen Stockbetten und ein großer Schminktisch mit beleuchtetem Spiegel. Auf einem Ständer hing Arbeitskleidung – Strapse, Korsetts, kurze Krankenschwesternkittel bis hin zum Leder-Outfit und der Rute einer Domina. Alles, was offenbar das unbefriedigte Männerherz erfreute.

»Shefkije, mein Name«, sagte sie, während sie im Schminkspiegel die Katastrophe in ihrem Gesicht betrachtete. »Albanisch, heißt Sehnsucht. Für Frau, aber macht nichts.« Sie nahm eine Flasche mit klarer Flüssigkeit, gönnte sich einen kräftigen Schluck und betupfte damit die Verletzungen an Lippe und Wange. »Raki, beste Medizin. Für alles. Schmerz von Körper und Seele. Du?« Sie hielt ihm die Flasche hin.

Kilian wehrte ab. »Nein, danke.«

Er saß auf der unteren Matratze eines Stockbetts. Sie roch nach Schweiß, billigem Parfüm und Verzweiflung. An der Wand klebten Bilder von Verwandten vor armseligen Hütten in bergigen Schluchten, am Gestänge hing ein Rosenkranz mit Marienbild. Es war stickig und düster hier drin, die Fenster mit dunkler Folie zugeklebt, außen vermutlich vergittert. Auf dem abgetretenen Teppich erkannte er einen Fleck, der dunkle Tropfen nach sich zog, diverse Brandlöcher und einen kleinen Ohrring.

»Gallo? Woher kennst du?« Mit einer routinierten Bewegung griff sie sich an den Haaransatz und streifte die blonde Perücke ab. Halblange, schwarzgelockte Haare fielen herab, die sie hinter die Ohren schob. Mit einem Papiertaschentuch und einer Creme entfernte sie die verlaufene Schminke aus dem Gesicht.

»Eine lange Geschichte«, seufzte Kilian, beugte sich vor und klaubte den Ohrring auf. Ein Kranz aus billigem Silberblech umfasste einen blau schimmernden Stein, der für eine erwachsene Frau zu klein und auch zu verspielt war. So etwas schenkte man Mädchen zur Kommunion. »Erst vor Kurzem habe ich die Spur wieder aufnehmen können. Reiner Zufall.« Er holte sein Handy hervor und suchte nach dem Bild von Donatello, das er in der Baia Trentaremi gemacht hatte. »In einer Nachricht von diesem Typen hier.« Er zeigte ihr das Bild.

Sie grinste verächtlich. »Bojan«, und spuckte zur Seite. »Stück Dreck.«

»Bojan … Ist das sein richtiger Name?«

Sie nickte. »Verflucht Bosniak!«, als wäre der Name Gift auf ihrer Zunge. Sie erhob sich und knöpfte die Bluse auf. Blutspritzer zierten ihren Schulter- und Brustbereich wie eine eilig daraufgeworfene Blütenkette.

Kilian wandte den Blick ab, versuchte sich zu erklären, was ein Kinderohrring hier verloren hatte. »Kein Albaner?«

»Reines Blut, Familie und Gesetz … gibt nicht mehr, vorbei.« Sie öffnete den Reißverschluss des Rocks und stieg heraus, es folgten die Lackstiefel und die Netzstrümpfe. »Neue Zeit. Religion, Heimat nix mehr. Nur Streit wegen Geld. Geld gut, kein Problem. Geschäft gut. Mafia mit Mafia, Corona mit ’Ndrangheta, mit Mafia Albanien, China, Afrika. Geld gut, kein Problem. Globalizimi.« Globalisierung.

»Sicher«, aber es hatte auch die Kriege auf dem Balkan gegeben, ethnische Säuberungen, Massenerschießungen, unbeschreibliches Leid und unstillbaren Rachedurst. Und die Schießereien der Familienclans in deutschen Städten? Italienische Mafiabanden, Serben, Kroaten, Bosniaken, Kosovaren und Albaner, sie waren sich untereinander und gegeneinander immer spinnefeind gewesen. Sollte das jetzt alles Geschichte sein?

»Hilf mir«, sagte Shefkije.

Kilian sah hin. Vor ihm stand in Unterwäsche eine gertenschlanke Frau mit langen Beinen, schmalen Hüften und auffällig breiten Schultern.

»Was soll ich tun?«, fragte er.

»Schnalle«, sie meinte die am BH, »mach auf. Tut weh.«

Er kam der Bitte nach, und in dem Moment, als die vorletzte Hülle fiel, sah er keine Brüste im Spiegel, sondern nur schwach definierte Muskeln, die eines Jünglings.

»Surprise«, amüsierte sie sich und streifte auch noch den straff sitzenden Slip ab. »Mach Mund zu.«

Aus dem Schrank holte sie Boxershorts, Jeans und T-Shirt.

»Der Kerl von letzter Nacht«, rätselte Kilian, »wusste nicht, dass du eine Transe bist?«

»Quatsch, hat bei Amer bestellt. Aber keine Schläge, nein, niemals, nicht für Shefkije.«

»Und Amer kennt Gallo?«

Sie … er knöpfte sich die Jeans zu und stieg in bequeme Sneakers. »Arschficker mach ich tot«, steckte das Springmesser ein und schlüpfte in eine Lederjacke.

»Moment, was hast du vor?«

»Altes Gesetz, Familie. Blut nehmen, Blut geben.«

Kilian dämmerte, was er damit meinte. »Blutrache?«

Shefkije nickte. »Nach Andria, fahr mich«, die Stadt lag rund 60 Kilometer westlich.

»Nein, warum?«

»Andria. Dann Gallo.«

Kilian reichte ihm den Ohrring. »Hier, lag auf dem Boden.«

Shefkije erkannte ihn sofort und schluckte.

»Von Leonora, Kind von Donika … Donika tot gemacht, Leonora verkauft.«

Gallo rosso

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