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Hennings Finger flogen wütend über das Touchpad.

Scheiß Familie!

Vor einigen Tagen noch konnte er von sich sagen, dass ihn sein Vater nicht im Geringsten interessierte. Das ließ sich nun nicht mehr behaupten. Nicht, dass sich seine Beziehung zu ihm mit dessen Tod verbessert hätte, es standen inzwischen nur zu viele Fragen im Raum – ein Defizit, mit dem Henning noch nie umgehen konnte.

Er kramte in älteren Nachrichten, auf der Suche nach der E-Mail-Adresse seines Vaters. Anfang des Jahres hatte er ihm ein Dokument geschickt. Welches, war nicht von Bedeutung. Er brauchte nur die Adresse.

Yahoo war es nicht. Googlemail gab es vermutlich noch nicht, als er ihm den Account damals eingerichtet hatte. dr.oswald.geiger, soviel wusste er. Nur die Endung bekam er nicht mehr ins Gedächtnis.

Bis er sie fand.

dr.oswald.geiger@web.de

Anmeldung.

Passwort vergessen.

Sicherheitsfrage.

Der Laptop brauchte einige Sekunden, sie anzuzeigen.

Geburtsname der Mutter?

Oswald Geiger hatte selten E-Mails geschrieben. Er nutzte sein Postfach nur, um wichtige Dokumente hochzuladen und sie nicht zu verlieren, falls es wieder so ein heißer Sommer wie 2014 würde oder ein beliebig anderer Grund seinen Praxisrechner auf dem Gewissen haben könnte. Es hatte den angenehmen Vorteil, über die Unterlagen an praktisch jedem Ort mit Internet verfügen zu können.

Schillack.

Neun Buchstaben und Henning befand sich im Postfach des Vaters. Nachdem die Polizei den PC aus der Arztpraxis sichergestellt hatte, wäre dies der einzige Weg, in Erfahrung zu bringen, warum die ganze Familie gerade verrückt spielte.

Die zuletzt hochgeladene Datei war ein Protokoll. Henning überflog es. Fachchinesisch. Er brauchte einen Arzt, der ihm dabei half. Er würde sich einen suchen und hatte bereits jemanden im Hinterkopf.

Er klickte auf das vorletzte Dokument, das auf einem der Web.de-Server lag. Ein kurzer Bericht des Vaters von einem Tag, dessen Datum sich nicht mehr nachvollziehen ließ.

Ich musste innehalten, mich am Geländer abstützen. Gleich sollte es wieder gehen. Nur einen Augenblick.

Alles um mich machte den Eindruck, als zöge urplötzlich die Geschwindigkeit an. Menschen unterhielten sich. Doch die Worte fielen ihnen viel zu schnell aus dem Mund, sodass es mir nicht gelang, sie zu Sätzen zusammenzusetzen.

Nur waren es nicht allein die Menschen, denn diese Beschleunigung betraf ausnahmslos jedes Detail, jede Bewegung.

Wolken schossen über den Himmel, aber es stürmte nicht. Ein Feuerzeug flammte auf und erlosch wieder, als es die Hitze an eine Zigarette weitergegeben hatte. Zu schnell für mein Auge. Ich sah es nicht, obwohl ich in die Richtung starrte, registrierte nur, wie die Frau Qualm ausstieß, die bis eben noch in ihrer Tasche nach etwas gesucht hatte.

Ein Rollladen fiel. Ich schaffte es nicht den Kopf rechtzeitig zu drehen, um einen Rest davon mitzubekommen.

Der Ort, an dem ich mich befand, hatte ein Mehrfaches von der Geschwindigkeit aufgenommen, bei der ich hätte Schritt halten können. So kam es mir zumindest vor. Doch es war nicht der Ort, der den Pulsschlag erhöht hatte. Ich war die Ursache.

Angst zerrte an meiner Lunge, lähmte sie. Ein Ausläufer des Schocks, der selbst auf dem Herzen lag und das Blut kaum noch voran schob. Alles in mir wurde derart langsam, dass ich hinter die Zeit zu geraten drohte.

Genauso fängt es an. Erst mit kaltem Schweiß. Später mit dem Unvermögen, dem Lauf der Zeit zu folgen, und dem ekelhaften Gefühl, welches immer dann eintritt, wenn nur noch Sekunden fehlen, bis man das Bewusstsein verliert – etwas, das sich nicht beschreiben lässt, weil es keine Übelkeit und kein Schwindel ist. Früher dachte man, es wäre die Konsequenz dessen, dass der Kreislauf absackte. Aber es war vielmehr das, was alle empfinden, sobald sie mit der Zeit nicht mehr synchron laufen. Eine Gratwanderung, bei der nur ein Quäntchen zu viel ausnahmslos im Tod endet.

Wie heilsam schien da die Ohnmacht, in die ich fiel, und die geeignet war, meinen Zustand ein weiteres Mal zu heilen. Wenn ich aufwachte, würde es wieder gut sein, mit mir und der Zeit.

Anfang Mai, vier Monate bevor Doktor Geiger starb, kam er das dritte Mal dem Tod nahe. Er verhielt sich nicht anders als jemand, der Kontakt mit dem Sekundenschlaf gemacht hatte.

Beim ersten Mal überkam ihn Entsetzen – der kurze Verlust des Bewusstseins hätte für ihn das Ende bedeuten können. Dann geschah es erneut und er gewöhnte sich an den Gedanken. Hoffte, dass es ihn auch in Zukunft sicher zurückbrächte. Bis er darauf vertraute und davon überzeugt war, dass er immer wieder unbeschadet aufwachen würde.

Das Zwillingsparadoxon

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