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Allmählich legte sich Hennings Aufregung. Der Tag war denkbar ungeeignet, um sich über eine überhebliche Alte aufzuregen, die eine Einfahrt blockierte.

Ein Thema bekommt nur so viel Raum, wie man ihm gibt. Seine frühere Therapeutin hatte zu diesem Satz geraten, wenn ihn etwas zu überfordern drohte. Man müsse das nur oft genug zu sich sagen, damit es wirkt, und natürlich daran glauben. Ihm war nach einer Schimpftirade zumute, was für Geldschneider Psychologen seien, und wie fernab aller Realität ihre Ratschläge lagen. Doch was brachte es, sich in einer Ladenstraße über einen Personenkreis aufzuregen, der nicht anwesend war.

Das Smartphone gab einen Ton von sich, eine E-Mail. Es dauerte, bis sich das mitgesandte Foto aufbaute. Jemand hielt den Stadtanzeiger in der Hand. Henning vergrößerte den Ausschnitt. Die Handschrift seines Vaters. Leserlicher als sonst, mit weniger Schnörkeln, aber der kurze Satz war von ihm. Kein Zweifel. Wer benutze schon braune Tinte und gierte nach jedem kleinen »t«, um dessen Querstrich über das gesamte Wort zu ziehen.

Dr. Oswald Geiger, mit der Unterschrift wurde auch Außenstehenden der Urheber bekannt.

»Nicht einmal krepieren kann er, ohne den Leuten seinen Doktor unter die Nase zu reiben.«

Das Telefon klingelte. Es war der Absender der E-Mail. Henning ignorierte ihn.

Noch ein knapper Kilometer bis zum Südfriedhof und noch mehr als eine Stunde Zeit.

Die Bänke der Kapelle hatten nicht ausgereicht, um die aufzunehmen, die sich verabschieden wollten. Martin stand seit einer halben Stunde an die Wand gelehnt und wartete darauf, dass etwas passierte, über das es zu schreiben lohnte.

Er sah den Kollegen eines anderen Blattes einige Reihen vor sich und ließ ein stummes Hallo über die Lippen kommen, um dessen Gruß nicht unerwidert zu lassen. In Großstädten verhielt man sich nicht so, aber hier, in einer Stadt, die trotz der neunzigtausend Einwohner das Provinzielle nicht ablegen konnte, wusch eine Hand die andere. Kaum erbitterte Konkurrenz zwischen den beiden lokalen Tageszeitungen.

»Seine Gebete gehen an seine Frau und vor allem an seine Söhne«, sagte der Mann neben dem Sarg, dessen doppelter Windsorknoten wie aus dem Bilderbuch schien.

Was für ein aufgesetzter Mist. Henning empfand keine Wut. Die Inszenierung war schlichtweg lächerlich.

Oswald Geiger hatte seine Grabrede vorformuliert. Nicht einmal jetzt konnte er Dinge anderen überlassen. Als hätte er Angst gehabt, dass jemand an diesem Tag aus dem Nähkästchen plauderte. Nicht ganz unbegründet, da ihm die nächsten Angehörigen ziemlich egal gewesen waren, und sein älterer Sohn nicht grundlos zwei Jahre lang jeden Mittwoch beim Therapeuten gesessen hatte.

»Seine Gebete gehen an seine Frau«, äffte Henning den Redner nach. Gebete!

Mit der Kirche stand der Vater zeitlebens auf Kriegsfuß. Warum wohl hielt kein Pfarrer die Rede, sondern der Inhaber des Bestattungsunternehmens? Letzterer hatte bereits die halbe Familie unter die Erde gebracht.

Wenn man sich in dieser Gegend Brandenburgs für einen Bestatter entschied, dann baute man eine seltsame Beziehung zu ihm auf, die erst endete, wenn er aus dem Amt ging oder in der Familie niemand mehr übrig war. Man grüßte sich in der Stadt, unterhielt sich intensiver, wenn eine Beerdigung anstand, achtete aber grundsätzlich darauf, den Kontakt so gering wie möglich zu halten, damit das Verhältnis zwischen zwei Todesfällen ausreichend abkühlen konnte, und man getrost auch nach dreißig Jahren noch beim Sie bleiben konnte.

Eine halbe Stunde später war es an der Zeit, den Verstorbenen an seinen letzten Ort zu bringen. Die Gäste erhoben sich. Martin tat es ihnen gleich, allerdings ohne mit den Gedanken bei der Sache zu sein. Er grübelte.

Die Arbeit in der Redaktion war für ihn seit der Geburt seiner Tochter stressig geworden. Er hatte es sich einfacher vorgestellt, Frau, Säugling und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Früh zur Arbeit gehen und erst nach zwanzig Uhr heimzukommen ging jetzt nicht mehr, ohne den Haussegen zu gefährden. Er brauchte ein anderes Zeitmanagement.

Vielleicht sollte ich mir an den Nachmittagen zwei, drei Stunden für die Familie frei halten und ab halb sieben regelmäßig eine Spätschicht einlegen?!

Der Gedanke tat gut, denn er zeigte, dass Martin noch Alternativen hatte – und Alternativen waren zwingende Voraussetzung für seinen Optimismus.

Langsam ließ er sich an das Ende des Trauerzugs zurückfallen und bog schließlich Richtung Parkplatz ab.

Das Zwillingsparadoxon

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