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Es war an einem Dienstag, einem frühen Nachmittag, als Henning bewusst wurde, dass jemand fehlte. Die vergangenen Tage über hatte er Zeit gehabt, die Tatsache anzunehmen. Doch er war meist zu betrunken oder auf eine andere Weise abgelenkt. Also entschied sich sein Innerstes, damit bis zu diesem Zeitpunkt zu warten, als er allmählich ausnüchterte.

Henning war nicht der Typ, den man in einem Café fand. Aber er war verkatert, ausgehungert und brauchte endlich einen anständigen Kaffee – nicht so einen maschinengefilterten.

Café Central. Der Name ließ Großes vermuten, einen Ort, der das Leben einer Stadt zu bündeln in der Lage war. Mehr noch, da die Zeiten Generationen zurücklagen, in denen man Central mit »C« schrieb.

Man könnte Henning als herablassend beschreiben, aber so abseits – zwar innerhalb der Altstadt, aber doch eine entscheidende Nebenstraße vom Strom der Touristen und damit von allem entfernt – fehlte ihm für den Namen des Ortes jegliches Verständnis, der zu allem Übel keine Geschichte vorzuweisen, sondern erst im vergangenen Jahr eröffnet hatte.

Dennoch befand er sich an ebendiesem, getrieben von dem, was ihm passierte, aber noch nicht in ihm angekommen war. Um dies zu ändern, bedurfte es lediglich eines Kaffees. Richtigerweise bedurfte es nur eines bestimmten Augenblicks, in dem er rein zufällig Kaffee trank.

»Eine kenianische oder brasilianische Mischung? Neu ist der Arabica«, fragte ihn eine Frau Anfang zwanzig nach knapper Begrüßung.

»Wenn ich von Ihnen wissen wollte, ob sie lieber französischen oder südafrikanischen Wein bevorzugen, wäre die Frage nicht ebenso unsinnig?«, maulte Henning. »Als ob es in bestimmten Ländern nur Gutes und anderswo ausschließlich Schlechtes gäbe. Wie viele brasilianische Kaffees gibt es. Hunderte? Und schmecken die nicht alle unterschiedlich?«, brabbelte er in seinen Bart, der zwischen Kinn und Oberlippe exakt in schmaler Linie geschnitten war. Er lenkte vom Doppelkinn ab, das sich nicht mehr leugnen ließ.

Sie brachte ihm die Tagesempfehlung in einer Miniaturausgabe eines Kaffeebereiters. Ein Glasgefäß mit einem Stempel, den sie langsam nach unten drückte. Henning bekam es nicht mit. Er starrte aus der leicht bronzefarben getönten Scheibe auf das gegenüberliegende Geschäft. Minutenlang.

Ist noch alles in Ordnung bei Ihnen?«

Henning schreckte auf. Da war sie wieder, die oberflächliche Bedienung.

»Sicher«, winkte er die Nachfrage ab – sie galt nicht seinem Wohl, sie sollte nur sicherstellen, dass er nicht länger als nötig einen der guten Fenstertische blockierte, ohne etwas zu sich zu nehmen.

Er schenkte sich ein.

Heiß war der Kaffee und dunkel. Es fiel ihm auf, wie gut die kleine Kanne die Temperatur behielt. Als hätte man eben erst aufgegossen.

Vorsichtig hob er die Tasse, berührte sie mit der Unterlippe. Er atmete nicht durch die Nase – der Duft interessierte nicht. Auch kein Tropfen sollte vorerst seinen Mund treffen, dafür neigte er das Geschirr zu wenig. Die Lunge zog lediglich in tiefen Zügen den aufsteigenden Dampf in den Rachen und versuchte ihn zu schmecken. Etwas bitter, empfand er, doch wahrscheinlich war das nur Einbildung.

In diesem Moment erreichte Henning schlagartig das, was die meisten seiner Verwandten seit Tagen Schwarz tragen ließ. Es hatte in seinem speziellen Fall einen fahlen Beigeschmack und nichts mit Trauer zu tun, aber von einer Sekunde auf die nächste wurde deutlich, dass es etwas zu ersetzen galt, auf dem seine gesamte Vergangenheit aufbaute.

Henning Geiger hatte keinen Respekt vor seinem Vater. Schließlich distanzierte er sich zu Lebzeiten so weit von ihm, wie es nur möglich war. Dennoch fehlte er.

Als ihm das klar wurde, lösten sich seine Finger vom Henkel der Tasse. Unfreiwillig.

Das Porzellan traf hart auf die Tischplatte. Seltsam, dass es nicht zersprang.

Henning ließ kein Geld auf dem Tisch liegen, von dem verschütteter Kaffee lief. Er hetzte nach draußen, rannte. Für Außenstehende, die nur einen kleinen Teil seiner Vergangenheit kannten, mochte es so aussehen, als wollte er einem Stück Zeit nacheilen, in welchem sein Vater noch lebte.

Doch darum ging es nicht.

Es war etwas mehr als eine Woche her, dass ihm der Arzt in der Notaufnahme sagte, dass der Vater es nicht geschafft hatte. Diese Nachricht verlangte ihm keine Träne ab. Sie war die logische Konsequenz des Zustandes, in dem man ihn aufgefunden hatte.

Ebenso logisch wie unveränderbar folgten die Vorbereitungen für die Beerdigung. Alles in sich schlüssig, alles Dinge, die zu tun waren und wenig Raum für die Bestürzung ließen, die von Anfang an beabsichtigte, ihn heimzusuchen. Doch es kam erst jetzt, wo das Wichtigste in die Wege geleitet schien, einige Stunden, nachdem er am Vormittag einen letzten Anruf an seine Mutter richtete.

Ob sie noch Hilfe brauchte, hatte er gefragt.

Sie schüttelte den Kopf. An seinem Ende der Leitung wurde das Schütteln zu einem Schweigen.

»Wir sehen uns dann nachher. Zieh den dunkelgrauen Anzug an.«

Henning nickte. Auch daraus machte das Telefon nichts als Stille.

Nach kurzem Zetern sprang der Motor des Volvos an. Er ließ sich manchmal etwas bitten, versah seinen Dienst aber recht ordentlich. Beim letzten Mal, als er Henning die Treue brach, lagen die Temperaturen zwanzig Grad unter null, im Winter vor drei Jahren. Kein Vergehen, das der Maschine aus den Neunzigern anzulasten wäre – es lag seinerzeit an der Batterie.

Der Auspuff dröhnte, als er den Hinterhofparkplatz des Cafés verließ und auf die schmale Durchfahrt zusteuerte. Bevor er sie passieren konnte, rauschte ihm ein Wagen von der Straße entgegen und der Fahrer stieg hupend vor ihm in die Eisen.

Früher ließ man Leute erst hinaus, ehe man irgendwo hinein wollte. Das müsste grundsätzlich auch für Hinterhöfe gelten, dachte Henning.

Wieder ein Hupen. Diesmal nerviger. Er legte den Rückwärtsgang ein und den rechten Arm auf die Beifahrerkopfstütze, um sich nach hinten zu drehen. Seit er acht oder zehn Kilo zugenommen hatte, raubte ihm Schnürsenkel zubinden und durch die Heckscheibe schauen etwas die Luft.

Von der Hofseite rauschte ein Mercedes heran. Er ignorierte Hennings Bemühungen, zurückzusetzen und hielt hinter dessen Stoßstange. Der Fahrer kannte wohl auch den Knigge-Grundsatz: Erst raus, dann rein.

»Großartig!« Henning blendete ein paar Mal auf. Keine Reaktion beim Wagen in der Durchfahrt.

Wie bescheuert muss man denn sein? Gleich gehe ich rüber!

Wieder die Hupe. Sein Blutdruck erhöhte sich erheblich. Bremse, Gang raus, Handbremse. Er warf die Tür auf und ging wütend zur Einfahrt. Er klopfte gegen die Scheibe der Fahrertür. Eine ältere aufgetakelte Frau dachte nicht einmal daran, sie herunterzulassen.

Das gibt’s doch nicht.

Er hämmerte energischer auf das Glas ein.

Nichts.

»Kriegen Sie nicht mal das Fenster runtergekurbelt?«

Nach einer Pause, um Henning noch etwas mehr zur Weißglut zu bringen, drückte sie den Fensterheber.

»Und Sie sind sich zu fein, rückwärts zu fahren?«, ging sie ihn in einer Heftigkeit an, dass er auf die Schnelle keine passende Antwort fand.

Hat die ‘nen Knall?, durchfuhr es Henning.

Aber die Frau war noch nicht fertig.

»Wollen Sie allen Ernstes von mir verlangen, dass ich rückwärts auf die Straße zurücksetze? Was, wenn mir dann einer hinten drauf kachelt? Es kotzt mich an, dass in dieser Stadt scheinbar nur Idioten wohnen!«, wetterte sie. An ihrem Hals pulsierten Adern, was sie noch unansehnlicher machte.

Sie fuhr die Scheibe wieder nach oben.

Und wie soll ich nach hinten?, dachte Henning. Da steht jemand, inzwischen sind dort sogar zwei weitere Wagen. Wir machen doch jetzt nicht alle Platz, damit die gnädige Frau auf den Hof kommt? Warum fährt sie mich eigentlich so an? Warum heute?

Er spürte, dass es ihm nicht mehr gelang, die Fäuste ruhig zu halten. Das Herz schlug wütend bis zum Hals. Er hatte die nötige Betriebstemperatur, um auszurasten, wie so oft, wenn man ihn aufstachelte. Entweder rutschte ihm dann die Hand aus oder er drosch etwas kurz und klein.

Jedoch nicht in diesem Fall. Henning stampfte zurück zu seinem Wagen. Er beugte sich über den Fahrersitz und zog den Schlüssel ab. Dann steckte er ihn in die Tasche seines Parkas, ebenso wie die geballten Fäuste, um sie im Zaum zu halten und mit ihnen keinen Unsinn zu machen, während er sich am Auto der Frau vorbei auf die Straße zwängte.

Zurück blieb ein herrenloser Volvo mit offener Tür.

Das Zwillingsparadoxon

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