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7. Kapitel: Vor 20 Jahren im Internat

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Elf Jahre alt waren sie damals und Michael räumte gerade seine Kleider im frisch bezogenen Zweierzimmer des Internats ein, als sich die Tür öffnete und ein kleiner, braunhaariger Junge mit Sommersprossen eintrat.

"Hallo, ich bin der Joachim und du bist der Michi, stimmt's?"

"Ja, woher weißt du … ?"

"Steht an der Tür."

"Oh, ja."

"Komm, Michi, gehen wir gemeinsam das Internat auskundschaften …"

"Ich möchte aber noch meine Kleider einräu…"

"Nein, nein, einräumen können wir später. Komm jetzt, los, wir sollten gleich herausfinden, wo sich der Mädchentrakt befindet."

Einige Wochen später tanzte im Internat alles nach Joachims Pfeife. Nicht nur die Kommilitonen, auch die Lehrer konnten sich seinem Charme nicht entziehen.

Gegensätzlicher hätten die beiden nicht sein können. Aus Michael, dem Intellektuellen, der vom Internat jedes Jahr den Preis als Jahrgangsbester erhielt, wurde ein großer, stattlicher Mann. Joachim, der Bauernschlaue, war auf den ersten Blick eher ein durchschnittlicher Typ, er wirkte sportlich und sein Gesicht war nicht im klassischen Sinne schön, aber interessant. In Joachims Nähe war immer etwas los und mit ihm kam nie Langeweile auf. Die ganzen Jahre im Schweizer Internat wohnten sie im gleichen Zimmer, besuchten die gleichen Kurse und klebten auch bei den Freizeitaktivitäten wie Pech und Schwefel aneinander. Beide nahmen Klavierunterricht, traten in den Kickbox-Klub des Internats ein und wurden Mitglieder im Art Circle. Nur bei den Hausaufgaben gingen sie getrennte Wege. Während Michael meistens für beide die Aufgaben erledigte, trieb sich Joachim irgendwo im Mädchentrakt herum.

Im Art Circle wurde Kunst theoretisch und praktisch vermittelt. Der Leiter des Art Circle, Dr. Loretan, war Kunsthistoriker und hatte das richtige Gespür dafür, wie man pubertierende Jugendliche für Kunst begeistern konnte. Im Art Circle lernten sie malen, zeichnen, besuchten Ausstellungen und Museen. Dr. Loretan entdeckte nach kurzer Zeit die außergewöhnliche Begabung von Joachim und Michael. Jahrelang unterrichtete er mehr oder weniger begnadete Kunstschüler und plötzlich hatte er zwei Hochbegabte in einer Klasse. Nach dem Abschluss des Abiturs wurden damals beide auf Empfehlung von Dr. Loretan als Meisterschüler von Professor Diggelmann, einem Studienfreund von Dr. Loretan, an der Kunstakademie in Köln angenommen.

Professor Diggelmann war ein kleiner, rundlicher Mann, der die besondere Begabung von Michael und Joachim sofort erkannte und das Potenzial, das in diesen Jungs steckte, gezielt zu fördern begann. Nach wenigen Monaten erhielten sie einen Schlüssel zum Atelier des Professors und er gab ihnen die Erlaubnis es jederzeit, auch nachts und an Wochenenden, benutzen zu dürfen. Die Jungs machten regen Gebrauch davon und waren nur noch selten in ihrer Studenten-WG anzutreffen. Gegenseitig trieben sie sich immer wieder zu Höchstleistungen an.

Michael hatte die Ideen und die ruhige Hand, seine Bilder hatten etwas Magisches und zogen die Betrachter unweigerlich in ihren Bann. Joachim war mehr der experimentelle, chaotische Typ. Seine Bilder glichen bis kurz vor der Fertigstellung einem Schlachtfeld und Michael war immer wieder erstaunt darüber, was für Meisterwerke am Ende daraus wurden. Michaels Werke waren zugänglicher als Joachims Arbeiten, aber künstlerisch waren beide damals schon gleichbedeutend.

Regelmäßig tauchten sie während des Studiums ins Nachtleben von Köln ein. Die Discos und Bars, die laute Musik, die Partylaune der jungen Leute waren ein guter Ausgleich zur Universität. Michael und Joachim waren ein perfektes Team. Ihre Masche war einfach und funktionierte meistens: Joachim nutzte das gute Aussehen von Michael schamlos aus. Er setzte sich mit ihm an die Bar und platzierte ihn so, dass man ihn gut sehen konnte. Michael, dieser große, blonde Schönling, zog die Frauen an wie das Licht die Motten. Die ersten, die nach kurzer Zeit zu ihnen kamen, wimmelte Joachim meistens gleich ab. Das waren nicht die Ladys, die ihn interessierten. Die Frauen, die sich etwas später an Michael heranpirschten, diejenigen mit mehr Klasse, auf die war Joachim scharf. Es lief eigentlich immer gleich ab. Der Barmann brachte Michael einen Drink mit der Bemerkung: Von der Blonden mit der hellen Bluse dort drüben, oder: Von der Brünetten mit dem Mini. Michael hob dann das Glas und prostete ihr dankend zu. Das war die Einladung die sie brauchte, um sich zu ihnen zu gesellen. Michael war der perfekte Gentlemen. Er erhob sich sofort, gab ihnen einen Kuss auf die Wange und bot ihnen seinen Stuhl an. Nachdem sie einige Nettigkeiten ausgetauscht hatten, sah er auf die Uhr und bemerkte, dass er in Kürze gehen müsse, da er mit seiner Freundin verabredet sei. Jetzt war die Stunde von Joachim gekommen. Er begann, die etwas enttäuschte Sitznachbarin zu trösten und mit seiner fröhlichen, aufgestellten Art konnte er meistens punkten. Joachim liebte damals die schnellen, unverkrampften Beziehungen. Zwei, drei Tage, höchstens eine Woche dauerten sie. Viele der Frauen verliebten sich in der kurzen Zeit die sie mit ihm verbrachten in ihn und litten nach der Trennung. Michael taten die Mädchen damals leid, wenn sie weinend vor der Wohnungstür standen und er wusste, dass Joachim schon mit einer Neuen unterwegs war. Meistens lud er sie auf einen Kaffee in die Küche ein und hörte ihnen zu. Joachim war der zärtlichste Liebhaber, den ich je hatte, oder: Joachim war der erste Mann, dem ich alles erzählen konnte, der mir wirklich zuhörte, oder: Sein Charme hat sogar meine Mutter entzückt, erzählten sie ihm damals. Er hörte ihnen geduldig zu und meistens hatten sie sich nach einiger Zeit beruhigt und gingen wieder.

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