Читать книгу Entscheidung in New York - Ron Wall - Страница 4
1. Kapitel: Frühstück bei Agostino
ОглавлениеEs war morgens 3:50 Uhr, als Michael die Tür zu Agostinos Coffeebar an der 26th Street Ecke 2th Avenue in New York aufstieß und in die angenehme Wärme, in der es nach Kaffee roch, eintrat.
Selbst für New Yorker Verhältnisse war es eine außergewöhnlich kalte Septembernacht. Hinter der Tür standen zwei uniformierte Polizisten, die trotz Rauchverbot genüsslich an ihren Zigaretten zogen und dazu Kaffee tranken. Michael und die Cops musterten sich kurz und verloren gleich wieder das Interesse aneinander. Die Polizisten erkannten den großen, blonden, deutschen Künstler, der seit rund sechs Monaten in ihrem Bezirk wohnte. Sie wussten, dass er ein gültiges Visum besaß und weder mit Drogen dealte noch irgendwie kriminell auffiel.
Michael fühlte sich in der Nähe von Polizisten unwohl, auch wenn er nichts ausgefressen hatte. Um möglichst weit entfernt von ihnen sein Frühstück genießen zu können ging er bis ans Ende der Theke und setzte sich auf den letzten Barhocker.
Außer den beiden Cops und ihm waren zu dieser Zeit keine weiteren Kunden im Café. Agostino, ein ungefähr 70-jähriger, kleiner, rundlicher Italo-Amerikaner, kam mit Kaffeekanne und Tasse. "Warmes Käsebrot mit Rührei … wie immer?", fragte Agostino zur Sicherheit, denn der Deutsche aß eigentlich immer dasselbe zum Frühstück. Es war immer Kaffee schwarz ohne Zucker und warmes Käsebrot mit Rühreiern.
Michael bejahte die Frage mit einem kurzen Nicken.
Er spürte in diesem Moment, dass er die letzten 24 Stunden durchgearbeitet hatte. Es war eine angenehme Müdigkeit, denn endlich hatte er das große Gemälde Schatten der Vergangenheit, das 3x6 Meter maß, fertiggestellt. Lange, sehr lange hatte ihn dieses Bild gefordert — herausgefordert; nie war das Resultat zufriedenstellend gewesen, immer und immer wieder mussten Teile umkonzipiert, neu geordnet und übermalt werden. Wie viele Male er es beiseitegestellt hatte, weil er nicht mehr weiterkam, wusste er nicht mehr. Es schien, als würde sich das Gemälde gegen die Fertigstellung wehren. In den letzten 24 Stunden hatte sich dieser Kampf endlich zu seinen Gunsten entschieden. Immer wieder hatte er den Pinsel eingetaucht und die Farbe mit heftigen, schnellen Hieben gleichenden Pinselstrichen, die mehr einem Fechtkampf als einem Malen glichen, auf die hohe und breite Leinwand gezwungen. Seit 20 Minuten war es vollbracht und der Kampf gewonnen. Ich habe es geschafft … endlich, sagte er zu sich selbst und nahm einen Schluck Kaffee.
Er war sich bewusst, dass ihm seit Langem wieder ein wichtiges Gemälde gelungen war. Allmählich entspannten sich seine Muskeln und die angenehme Müdigkeit breitete sich weiter in seinem Körper aus. Noch das Frühstück und ab ins Bett, murmelte er zu sich selber, als ihn eine Stimme aus seinen Gedanken riss:
"Gib mir sofort den verdammten Stoff zurück, gib ihn mir zurück! Schließlich habe ich für das scheiß Heroin meinen Arsch hingehalten und nicht du! Gib mir den verdammten Stoff zurück", wiederholte die Stimme immer lauter schreiend.
Es kam aus dem hinteren Teil der Bar. Dort standen einige Tische im Dunkeln, die Agostino normalerweise nur am Mittag zum Essen aufdeckte. Erst jetzt realisierte Michael, dass die Worte nicht an ihn gerichtet waren: Im Dunkeln waren zwei Personen schemenhaft zu erkennen, die sich stritten. Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber woher? Da der Streit immer lauter wurde, versuchte er angestrengt zu erkennen, um wen es sich handelte. Als sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, glaubte er Joanna, seine Nachbarin die in der Wohnung direkt unter ihm wohnte, zu erkennen. Dass es sich bei der zweiten Person um einen Mann handelte, konnte er erst sehen, als die Gestalt sich erhob. Als Joanna dem Mann mit beiden Fäusten auf die Brust schlug und hysterisch zu schreien begann, erkannte er auch den Mann: es war Sergeant Jim Mc Cullogh.
Mc Cullogh war sauer auf Joanna, die es wagte ihn tätlich anzugreifen und an ihn Forderungen zu stellen. Er sah sich um: Außer ihm und Joanna befanden sich nur vier andere Personen im Lokal. Zwei Streifenpolizisten, der kleine alte Barbesitzer Agostino und dieser deutsche Künstler, der im Haus auf der anderen Straßenseite direkt über Joannas Wohnung sein Atelier hatte. Die stellten für Mc Cullogh keine Bedrohung dar und damit war der Weg frei dieser Schlampe zu zeigen, wer hier der Boss war.
Jim erhob seine rechte Hand und schlug ihr mitten ins Gesicht: "Du elende, dreckige Straßennutte hast hier überhaupt nichts zu sagen!" Als er erneut auf sie einschlug, stellten die zwei Polizisten ihre Kaffeetassen auf den Tresen und verließen die Bar so schnell sie konnten. Sie kannten Jim Mc Cullogh von der Drogenfahndung und hatten keine Lust sich mit ihm anzulegen. Da war es einfacher ein paar Nachtvögel draußen auf der Straße zur Ordnung zu rufen.
Agostino brachte Michael das herrlich duftende, warme Essen: "Hier, dein Käsebrot mit Ei", sagte er mit seiner gewohnt ruhigen Stimme und schien von der momentanen Situation unbeeindruckt zu sein.
"Danke, Giuseppe", erwiderte Michael und beschloss sich um sein Frühstück zu kümmern. Auf eine nähere Bekanntschaft mit Sergeant Jim Mc Cullogh war er nicht besonders scharf.
Jim war im ganzen Quartier als äußerst aggressiver, korrupter Bulle bekannt; einer, der es mit dem Gesetz nicht immer genau nahm. Michael hatte genug Geschichten über Mc Cullogh gehört um zu wissen, dass man sich in diesen Streit besser nicht einmischte.
Jim schlug Joanna noch zweimal mitten ins Gesicht, bevor er sich etwas beruhigte. "Wir gehen jetzt aufs Damenklo und du wirst mir dort einen blasen … und vielleicht, aber nur vielleicht, wenn der Blowjob gut war, bin ich bereit den Stoff mit dir zu teilen."
Sie war bereits auf Entzug und das Angebot vom Sergeant nahm sie sofort an. Dass es sich bereits um ihren Stoff handelte, für den sie die ganze Nacht angeschafft hatte, war ihr mittlerweile egal. Es ging jetzt darum, möglichst schnell an das Heroin zu kommen.
Die beiden verschwanden auf der Damentoilette. Kurz darauf hörten Agostino und Michael Jim laut stöhnen. Sie sahen sich an und wussten, dass sich Joanna dort drin Mühe gab einen guten Job zu machen.
Nach fünf Minuten war das Stöhnen vorbei und nach weiteren zehn Minuten ging die Tür der Toilette auf. Michael sah, wie Jim und Joanna durch die Tür torkelten. Die zwei hielten sich aneinander fest und kicherten dabei wie zwei Kinder, die gerade etwas ausgefressen hatten. Als sie an ihm vorbei zum Ausgang wankten konnte er erkennen, dass beide zugedröhnt waren.
Joanna und Mc Cullogh nahmen keine Notiz von Michael und Agostino, als sie an ihnen vorbei zum Ausgang gingen. Mc Cullogh öffnete die Tür und winkte sie mit einer kleinen Verbeugung an sich vorbei ins Freie. Sein Dienstwagen stand ungefähr 50 Meter weiter oben, direkt auf der Kreuzung 26th Street Ecke 2th Avenue. sie hakte sich bei ihm ein und begleitete ihn zu seinem Auto. Als sie beim Auto angekommen waren, umarmten sie sich und er küsste sie leidenschaftlich zur Verabschiedung.
Als Jim hinter sich ein leises, amüsiertes Kichern hörte, lies er Joanna los und gab ihr mit einem Klaps auf den Hintern zu verstehen, dass die Zärtlichkeiten beendet waren und sie nach Hause gehen sollte. Mc Cullogh drehte sich um; er wollte sehen, welches weibliche Wesen sie allem Anschein nach amüsiert beobachtet und dabei gekichert hatte. Sein Schmunzeln wich schnell einem angewiderten Gesichtsausdruck.
***
Michael hatte sein Frühstück beendet und wollte nach Hause ins Bett. "Giuseppe, die Rechnung bitte."
Agostino tippte den Betrag in die Kasse ein. "Das macht 5 Dollar und 30 Cents."
Er griff in die äußere Tasche seines Mantels und da war sie, diese Karte. Wegen dieser Karte, die vor zwei Tagen in seinem Briefkasten gelegen hatte, hatte er die letzten 42 Stunden nicht mehr schlafen können. Wegen dieser Karte musste er Schatten der Vergangenheit fertigstellen, denn da, auf dieser Karte waren sie, diese Schatten der Vergangenheit. Er zog die Karte aus der Tasche und las den Text mittlerweile schon zum 20. Mal durch: Einladung zur Vernissage der Ausstellung von Joachim Rau im Chelsea Museum of Contemporary Art in New York. Das Datum der Eröffnung war am Freitag, 29. September, um 18:00 Uhr. Nach kurzem Überlegen realisierte er, dass es bereits Donnerstagmorgen war und somit die Eröffnung schon am nächsten Abend stattfinden würde. Was ihm aber wirklich in die Glieder gefahren war, als er die Karte vor zwei Tagen das erste Mal in seinen Händen gehalten hatte, war die kleine, handgeschriebene Notiz unten rechts: Wir würden uns freuen, dich zu sehen, stand da. Auch wenn es ganz klein geschrieben dastand, diese Schrift war für ihn unverwechselbar und eindeutig wiederzuerkennen. Es war ihre Schrift, Michael glaubte sogar einen leichten Hauch ihres Parfums an der Karte zu riechen. Es war die Schrift von Christine.
Er legte einen Zehndollarschein auf die Theke, verlangte von Agostino zwei Dollar zurück und verließ das Lokal.