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5. Kapitel: Die Schatten der Vergangenheit

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Es war Freitag, der 29. September, genau 16:00 Uhr, als Michael erwachte. Seit neun Uhr früh lag er im Bett und hatte wie ein Ohnmächtiger geschlafen. Sieben Stunden — das reichte, um sich erholt zu fühlen.

Das hat gut getan, endlich genug geschlafen, fuhr es durch seinen Kopf, als das erfrischende Wasser aus dem Duschkopf auf seine Haut traf. Beim Rasieren lächelte ihm ein erholtes Gesicht entgegen, das ihm gut gefiel.

Während des Frühstücks überflogen seine Augen den Text der Einladungskarte sicher zum 30. Mal. Was wäre, wenn sie gar nicht dort ist? Ein leichtes Schaudern fuhr durch seinen Körper. Daran, dass nur Joachim anwesend sein könnte, hatte er bisher nicht gedacht. Aber nein, Michael entspannte sich wieder; sie hatte ja diese kleine Notiz für ihn unten hingeschrieben. Es würde uns freuen, stand da und es war eindeutig ihre Handschrift. Und die Kleine, wird die Kleine dort sein? Lauter Fragen gingen durch seinen Kopf. Michael hoffte die Antworten, die ihn mittlerweile seit fast zehn Jahren beschäftigten, im Chelsea Contemporary Museum zu erhalten.

Beim Anziehen war es bereits 17:00 Uhr und ihm blieb noch eine Stunde, um zu der Vernissage zu gelangen. Das Museum befand sich an der 21. Straße Ecke First Avenue, genau sechs Blocks von seiner Wohnung entfernt. Das entsprach einem Fußmarsch von etwa 40 Minuten, also hatte er noch genügend Zeit, um sich in Ruhe vorzubereiten. Der Himmel war bedeckt und es sah nach Regen aus.

Genau das richtige Wetter, passend zu meiner Stimmung, dachte er, als er etwas später das Haus verließ.

Um 17.45 Uhr bog Michael in die 26. Straße ein und sah, dass sich bereits eine lange Schlange von Leuten vor dem Eingang des Museums gebildet hatte. Ebenso standen einige Wagen von Fernsehstationen und der Presse davor. Er war über den Aufmarsch der New Yorker zur Ausstellungseröffnung von Joachims Werken nicht überrascht. Das Interesse an Joachim Raus Bildern war mittlerweile weltweit sehr groß und die New Yorker bildeten da keine Ausnahme.

Michael stellte sich in die Warteschlange. Es mussten Hunderte von Leuten sein. Seit Joachim vor zwei Jahren den renommierten Turner Preis gewonnen hatte — so etwas wie der Oscar für Künstler — stieg sein Stern unaufhaltsam in den Olymp des Kunsthimmels empor. Seither war er der Mann der Stunde. Weltweit luden ihn die wichtigsten Museen zu großen Einzellausstellungen ein und die Preise für seine Bilder stiegen ins Astronomische. In der Zwischenzeit waren Museen und Kunstsammler weltweit bereit, siebenstellige Summen für ein Werk von Joachim hinzublättern. Michael musste daran denken, dass er selber noch zwei große Bilder von Joachim besaß. Diese Frühwerke von Joachim stammten aus der Zeit, als sie sich noch mittellos ein Atelier in Berlin-Weißensee teilten. Damals tauschten sie manchmal die frisch gemalten Bilder untereinander aus. Michael schmunzelte bei dem Gedanken, dass die zwei Bilder, die er noch von Joachim besaß, im Moment in Berlin in einer unverschlossenen Abstellkammer herumlagen und jedes dieser Frühwerke unterdessen einen Marktwert von über eineinhalb Millionen Euro hatte.

Dabei standen die Zeichen ganz anders vor zehn Jahren. Damals war er, Michael, der Mann der Stunde. Eine Berliner Galerie nahm damals einige seiner Bilder mit zur Art Basel. Für einen 22-jährigen, der gerade mit dem Kunststudium fertig war, eine große Ehre. Bei der Presse und den Sammlern fanden seine Bilder starke Resonanz. Die Presse feierte ihn als die Neuentdeckung des Jahres, mit einer großen Zukunft vor sich. Der Galerist verzehnfachte damals über Nacht die Preise von 4.000 auf 40.000 Euro pro Bild. Michael hatte den Eindruck, dass die halbe Welt von ihm Gemälde kaufen wollte. Neben den Verkäufen an deutsche Sammler kamen Bestellungen aus den USA, Japan, England, Frankreich und der Schweiz. Die Sammler waren damals bereit, längere Wartezeiten auf sich zu nehmen, um in den Besitz eines Bildes von Michael Breuer zu kommen. Michael verdiente damals bis zu 800.000 Euro pro Jahr.

Für seinen Freund Joachim Rau war es zur selben Zeit nicht einfach gewesen zuzusehen, wie seinem Atelierkumpel die fertigen Bilder aus den Händen gerissen wurden und wie die schicken Luxusschlitten vor dem Atelier hielten und die Sammler, die ausstiegen, nur Augen für Michaels Arbeiten hatten. Joachims Bilder ließen die Sammler damals links liegen. Michael erkannte jedoch das Potenzial von Joachim und war gerne bereit, einige Bilder mit ihm zu tauschen. Die Preise für ein Bild von Joachim waren damals quasi irrelevant und heute kostete dasselbe Werk 1,5-2 Millionen. Ganz schöne Wertsteigerung, dachte Michael schmunzelnd.

Während Joachim sich langsam emporkämpfte und sich jeden Erfolg hart erkämpfen musste, wurde Michael damals gleich nach der Art Basel in den Kunst-Olymp katapultiert. Dies war für ihn aber viel zu früh gewesen, wie er später feststellen musste. Der ständige Erfolgsdruck, die Aufmerksamkeit die ihm damals zuteilwurde … damit konnte er nicht umgehen. Mein Gott, zehn Jahre sind seither vergangen, dachte er erschrocken.

Je näher er dem Eingang kam, desto schneller wurde sein Puls. Direkt vor der Tür angelangt, raste sein Herz förmlich und dennoch rief er sich die Zeit vor zehn Jahren noch einmal intensiv ins Gedächtnis.

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