Читать книгу Entscheidung in New York - Ron Wall - Страница 7
4. Kapitel: Michael wird Lillys Daddy
ОглавлениеVor sechs Monaten, gleich nach seiner Ankunft in New York, lernte Michael Lilly kennen und sie drängte ihn schnell in die Rolle des Ersatzvaters hinein, was ihm am Anfang überhaupt nicht passte. Aber nach kurzer Zeit eroberte dieses kleine blonde Mädchen sein Herz, und er merkte, dass die Verantwortung für Lilly eine gewisse Stabilität in sein eigenes Leben brachte; eine Stabilität, die nach seinem eigenen Entzug auch für ihn wichtig war. Das regelmäßige Aufstehen am Morgen, die Kleine zur Schule bringen, bei Agostinos frühstücken um anschließend im Atelier seiner Arbeit nachzugehen, begann er zu schätzen. Dieser geregelte Tagesablauf hielt ihn davon ab nachts um die Häuser zu ziehen und selber wieder Gefahr zu laufen, zu legalen sowie illegalen Drogen zu greifen.
Am Anfang war es Michael etwas unangenehm, wenn Lilly ihm vor der Schule die Hand reichen wollte und einen Abschiedskuss von ihm verlangte. Ihr war es aber sehr wichtig. Alle anderen Kinder wurden von ihren Eltern in die Schule gebracht und zum Abschied geküsst, nur sie hatte — bevor sie Michael kannte — niemanden gehabt, der sie in die Schule brachte, zum Abschied küsste oder nach der Schule auf sie wartete, um sie in die Arme zu schließen. Jahrelang war sie alleine zur Schule gegangen. Während die anderen Kinder nach Schulschluss ihren Müttern in die Arme gefallen und Händchen haltend nach Hause gegangen waren, hatte sie niemanden gehabt, mit dem sie über das Erlebte, die neusten Neuigkeiten, über ihre Sorgen oder Ängste, hatte reden können.
Dies hatte sich geändert, nachdem Lilly vor sechs Monaten das erste Mal auf Michael getroffen war. Sie saß damals im Treppenhaus und spielte mit ihrem Teddy. Plötzlich stand er mit zwei großen Taschen vor ihr und lächelte sie freundlich an.
"Wie heißt dein Teddy?"
"Einauge. Er heißt Einauge."
Einauge war schlimm zerzaust und voller Löcher. Ein Auge und ein Arm fehlten ihm.
"Hallo Einauge, wie heißt das nette kleine Mädchen hinter dir?"
"Sie heißt Lilly, Prinzessin Lilly."
Michael machte damals eine kleine Verbeugung. "Hallo Prinzessin Lilly, ich bin Michael und wohne ab heute in der Wohnung ganz oben, direkt unter dem Dach." Mit einem Augenzwinkern verabschiedete er sich und ging die Stufen hoch.
Er steckte den Schlüssel, den ihm die Vormieterin Dora — welche er nur vom Mailen her kannte — zugesandt hatte, ins Schloss und die Tür sprang auf. Das Wohnatelier befand sich im Dachgeschoss eines fünfstöckigen Hauses in Chelsea, auch bekannt als Hell's Kitchen, in Manhattan. Es war ein großes, möbliertes Wohnatelier, das aus drei Räumen bestand. Er untersuchte den Kühlschrank und fand zwei Flaschen Bier, eine Flasche Milch, etwas Käse, Butter, Konfitüre und einen selbst gebackenen Kuchen mit einem Zettel darauf: Lieber Michael, ich wünsche dir einen schönen Aufenthalt in New York. Ich habe mein Jahr im Big Apple sehr genossen. In der Kommode liegen frische Laken, Decken und Handtücher. Nimm dich vor den Kolumbianern im vierten Stock in Acht (Drogenmafia). Alles Liebe, Dora . Er fand es damals nett, dass sie ihm etwas im Kühlschrank zurückgelassen hatte, bevor sie zurück nach Deutschland reiste.
Nachdem er etwas gegessen hatte, war es 17:00 Uhr. 24 Stunden zuvor war Michael noch in Berlin gewesen, und jetzt saß er mitten in New York. Obwohl er von der Reise und dem langen Flug müde war, wollte er damals um diese Zeit noch nicht schlafen gehen. Michael verließ die Wohnung wieder und stellte überrascht fest, dass Lilly noch immer im Treppenhaus saß und spielte. Er strich ihr beim Vorübergehen kurz übers Haar und winkte ihr im Weggehen zu.
Der Lärm, der Geruch, die angenehme Frühlingswärme, die ihn umgab, als er auf die Straße trat … Das ist New York, fuhr es ihm durch den Kopf. Jetzt bin ich im Mekka der zeitgenössischen Kunst angekommen! Neugierig begann Michael seine Nachbarschaft auszukundschaften. Beim Spaziergang durch sein neues Quartier fand er schnell heraus, wo der Gemüsehändler, die Bäckerei, Bekleidungsgeschäfte und ein kleiner Supermarkt zu finden waren. Einige Bars, Restaurants und Coffeeshops hatte er auch schon erspäht.
Gegen 22:00 Uhr hatte Michael seine erste New Yorker Erkundungstour beendet und war zufrieden vom Rundgang zurückgegangen. Nachdem er festgestellt hatte, dass der alte Lift wie bereits bei seiner Ankunft am Nachmittag immer noch defekt war, stieg er müde die Treppe empor. Zu seinem Erstaunen saß das kleine Mädchen immer noch dort und schien auf ihn gewartet zu haben.
"Ist deine Mutti nicht da?"
"Nein, sie ist noch nicht zurück."
"Soll ich mich neben dich setzen und mit dir auf sie warten?"
"Oh ja, gerne!"
Michael und Lilly saßen damals rund 15 Minuten auf der Treppe und plauderten, dann hörten sie, wie die Haustür aufging.
Sie vernahmen mehrere spanisch sprechende Männerstimmen. Unten vor dem kaputten Lift fingen die Männer laut an zu fluchen und gleich darauf hörten Michael und Lilly, wie sie missmutig die Treppe emporzusteigen begannen. Da das Treppenhaus um den Liftschacht herumgebaut war, versperrte dieser die Sicht auf die unteren Stockwerke und somit konnte man bis zum letzten Moment nicht sehen, wer die Treppe hochkam. Rechts vom Treppenhaus befand sich ein offener Schacht, der über alle Etagen verlief und wie ein Megafon sämtliche Geräusche, welche im Treppenhaus entstanden, über alle Stockwerke verteilte. Michael und Lilly sahen die Männer erst, als sie auf ihren Treppenabsatz einbogen und direkt vor ihnen standen.
"Holà Gringo, bist du der Neue von oben?"
"Ja", antwortete Michael und stand auf, um den Männern die Hand zu reichen.
"Ich bin Enrique," stellte sich der Erste der drei vor. "Das ist mein Cousin Jesus und der Kleine da ist unser Neffe José."
Michael merkte, dass sie ihn musterten. Die drei wirkten ungepflegt und schmuddelig. Enrique und Jesus schienen in den späten Dreißigern zu sein. José war viel jünger, Mitte 20 vielleicht, und einiges größer als die anderen.
"Hey, Hombre, Freund, du musst uns unbedingt besuchen. Wir wohnen gleich unter dir in Appartement 41, direkt neben Lilly."
Waren das die kolumbianischen Mafiosi, vor denen Dora ihn im Brief gewarnt hatte? Alle drei wirkten freundlich, zu freundlich vielleicht. Als sie schulterklopfend an Michael vorbei zu ihrer Wohnung schritten, entging ihm der Blick, den Enrique Lilly zuwarf, nicht. So starrte man eine Nackttänzerin in einer Tabledanceshow an, aber nicht ein achtjähriges Mädchen.
Unter diesen Umständen konnte er Lilly damals nicht mehr mit gutem Gewissen alleine im Treppenhaus zurücklassen: "Du kannst, bis deine Mutti kommt, zu mir rauf kommen."
"Oh ja, toll, ich und Einauge kommen gerne zu dir rauf!", rief sie, während sie aufsprang und vor ihm die Treppe hinauf hüpfte.
Nachdem sie bei ihm ein Glas Milch und ein belegtes Brot gegessen hatte, war er so müde, dass er nur noch schlafen wollte und sich entschloss, die Kleine nach unten zu bringen. Mein Gott, hatte Michael beim Anblick der Wohnung damals gedacht. Ein richtiges Rattenloch, schmutzig und stinkig. Alter Abfall, schmutzige Kleider und leere Spritzen lagen herum. Ihm wurde damals sofort klar, wieso die Kleine lieber im Treppenhaus spielte als in der Wohnung. Lillys Mutter war offensichtlich ein Junkie und er realisierte, wieso die Kleine viel alleine war. Stoff besorgen und das nötige Geld dafür aufzutreiben beanspruchte die meiste Zeit des Tages, Michael kannte das. Ihre Mutter war damals immer noch nicht zu hause. Nachdem er Lilly ins Bett gebracht hatte, wollte er damals von ihr wissen wann sie aufstehen müsse, um zur Schule zu gehen. Am darauffolgenden Morgen stand er damals um sieben auf, duschte und klopfte kurz darauf unten an Lillys Tür, um sie zur Schule zu bringen. Danach ging er zu Agostino, bevor er im Atelier mit seiner Arbeit begann.
In den letzten sechs Monaten war eine Art Ritual daraus geworden: früh aufstehen, Lilly zur Schule bringen, Frühstück bei Agostinos und ab ins Atelier. Lilly kam manchmal nach der Schule zu ihm, um Hausaufgaben zu machen und blieb oftmals sogar zum Abendessen. Nach einigen Wochen begann sie ihn plötzlich Daddy zu nennen. Anfänglich wehrte sich Michael noch dagegen, der Hartnäckigkeit von Lilly hatte er jedoch auf Dauer nichts entgegenzusetzen, und so wurde er ihr Daddy. Dank seiner Unterstützung wurde sie in den letzten sechs Monaten von einem vernachlässigten Kind mit sozialen Defiziten zu einem neugierigen, gebildeten Mädchen, das sich auf jeden neuen Tag freute und auf die Herausforderungen, die jeder dieser Tage mit sich brachte. Bei den Lehrern wurde sie eine beliebte Schülerin und unter ihren Schulkameraden fand sie viele neue Freunde und Freundinnen.
Nur ihre Mutter Joanna bekam von diesen Veränderungen nichts mit. Das Auftreiben von Geld und Drogen beanspruchte ihre ganze Zeit und Aufmerksamkeit, der nächste Schuss war alles, was zählte.