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6. Kapitel: Berlin vor 10 Jahren

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Anfangs wurde regelmäßig, jeden Tag, im Atelier gearbeitet und erst nachts gefeiert. Diese Partys wurden mit der Zeit immer häufiger und ausschweifender, und die Arbeit hingegen immer weniger. Zuerst floss der Champagner in rauen Mengen, dann kamen die Pillen und zuletzt das Kokain. Mit 22 Jahren auf Koks — da gehörte Michael damals die Welt. Unschlagbar fühlte er sich und bemerkte nicht, dass er sich bereits auf dem Weg nach unten befand. Die Feste dauerten immer häufiger mehrere Tage. Michael hatte plötzlich viele neue Freunde, die mit ihm feierten und ihm bestätigten, dass er der Größte sei. Frauen hatte er so viele er wollte. Auf Koks reichte ihm eine Frau nicht mehr, meistens lag er mit zwei oder drei Kunstgroupies gleichzeitig im Bett. Stundenlang dauerte es oft, bis er befriedigt war. Diese Kunstgroupies waren zumeist junge Russinnen und auch viele seiner neuen Freunde stammten aus dem Osten.

Die drogenfreien Tage wurden damals immer seltener. Den Alltag zu Hause, die Anrufe seines auf neue Bilder wartenden Galeristen und den enttäuschten Blick seiner damaligen Freundin Christine hielt er nicht mehr aus, es nervte ihn alles. Nüchtern fühlte sich Michael dem Alltag immer weniger gewachsen, empfand er ihn als Bedrohung. Sein Körper schmerzte und sein Hirn wollte Kokain, es wollte abheben. Auf Koks, da war er der König. Die Partykumpel, die waren nun seine richtigen Freunde, die kannten seinen Wert, und die jungen Russinnen, mit welchen er kokste und schlief, die waren immer willig. Die wollten nur Party, keinen Beziehungsstress.

Er hielt es damals zu Hause nicht mehr aus, die Blicke von Christine machten ihn fertig. Wie sie dastand vor ihm, mit diesem traurigen Blick … mitleidig schaute sie ihn an, verzeihend sogar, aber nie vorwurfsvoll. Hätte sie ihn nur geschlagen und aufs Übelste beschimpft, das hätte er verdient gehabt, und das hätte ihm das schlechte Gewissen genommen. Einige Stunden zuvor noch war er mit drei Russinnen im Bett, voll zugedröhnt, und jetzt saß er da zu Hause und Christine kümmerte sich liebevoll und zärtlich um ihn. Was ihn damals fertig machte war die Tatsache, dass Christine genau wusste, was er während der tagelangen Ausflüge trieb. Sie roch das fremde Parfum, fand das Koks in seiner Manteltasche und die Quittungen der Etablissements, in denen er die Tage und besonders die Nächte durchgefeiert hatte. Sie war eine zu intelligente Frau, um nicht zu wissen was da auf seinen Sumpftouren im Milieu ablief.

Zum endgültigen Bruch mit Christine kam es, als Michael nach einer mehrtägigen Sumpftour gegen Mittag nach Hause kam und sich nach dem Duschen im Bad eine Linie Koks reinzog. Da war er wieder der König und bereit seiner Freundin zu zeigen, wer der Mann im Hause war. Christine stand damals in der Küche und wusch ab. Hart würde sie es jetzt von ihm besorgt bekommen, der König würde ihr jetzt zeigen, was ein richtiger Ritt mit ihm war. Sie erschrak, als sie seine Hand unter ihre Bluse gleiten fühlte.

Sie drehte sich um und als sie in seine Augen sah, war ihr alles klar: "Ich schlafe nicht mit dir, wenn du auf Drogen bist."

"Was soll das heißen? Ich bin der Mann und wenn ich bumsen will, hast du gefälligst deine Beine breitzumachen!", schrie er sie wutentbrannt an.

Christine kannte ihn nicht mehr; wo war dieser zärtliche, verspielte, lustige Jüngling geblieben, in den sie sich drei Jahre zuvor verliebt hatte? Beide hatten damals nach kurzer Zeit das Gefühl gehabt, dass sie füreinander bestimmt waren. Und jetzt stand Michael vor ihr mit geöffnetem Bademantel, erigiertem Glied und wollte sie zum Sex nötigen.

"Ich werde nicht mit dir schlafen," wiederholte sie bestimmt.

"Na gut" entfuhr es ihm. "Ich weiß wo ich bekomme was ich will!" Demonstrativ holte er sein Handy und wählte eine Nummer.

"Hallo Natalia, Schatz, wo bist du? Ich habe Lust auf einen guten Fick. Ja, natürlich … okay, in einer halben Stunde!"

Als Michael da mit geöffnetem Bademantel vor ihr stand und sich am Telefon mit irgendeiner russischen Nutte zum Sex verabredete, da hatte Christine nur noch Mitleid für ihn übrig. Mitleid und Abscheu. Da wusste sie, dass ihre Beziehung am Ende war. Ausgerechnet jetzt, da sie von ihm schwanger war, musste sie sich diese bittere Wahrheit eingestehen. Heute hätte sie die Absicht gehabt es ihm bei einem Candle-Light-Dinner zu sagen. Sie hatte — seit sie wusste, dass sie schwanger war — gehofft, dass ihre Liebe zu ihm und das Kind ihn wieder auf den rechten Weg führen würden.

Während Michael damals das Haus verließ, setzte sich Christine weinend in die Küche und rief Joachim an um ihn zu fragen, ob sie für eine Weile bei ihm wohnen dürfe.

Michael wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ihn jemand aufforderte seine Einladungskarte zu zeigen. Nach der Kartenkontrolle wurde er ins Museum eingelassen. Der Museumsdirektor hielt gerade die Ansprache, als Michael in den großen Saal kam, und während die Gäste der Laudatio zuhörten, beschloss er, sich die Bilder in Ruhe anzusehen, bevor die Meute durch die Ausstellung strömte.

Langsam schritt er die noch menschenleeren Gänge des Museums ab; viele der Bilder kamen ihm bekannt vor.Bei dem Bild habe ich ihm damals beim Malen geholfen, der Himmel ist sogar von mir und dieses Bild basiert auf einer Idee von mir … Bei diesem Sujet gab ich ihm damals den Tipp mit dem Vorhang. Bei einigen der neueren Werke fiel ihm die Ähnlichkeit auf, die sie mit seinen eigenen Bildern hatten. Es schien ihm, als würden hier kleine Michael Breuers und nicht Joachim Raus hängen, da hatte sich Joachim zweifelsohne ungeniert bei ihm bedient. Ach, Joachim, du kleines Schlitzohr! Zuerst klaust du mir meine Frau, dann angelst du dir meinen Galeristen und jetzt kopierst du auch noch schamlos einige meiner Arbeiten. Ein Lächeln huschte über Michaels Gesicht: typisch Joachim! Michael musste aber anerkennend zugeben, dass Joachim sich in den letzten zehn Jahren weiterentwickelt hatte und mittlerweile in Michaels Augen zu Recht zu den bedeutenden lebenden Künstlern zählte.

Nachdem er die Ausstellung, welche sich über zwei Stockwerke verteilte und um die 120 Exponate umfasste, abgeschritten war, kehrte er in den großen Saal zurück. Der Kunsthistoriker, der die Vernissagegäste 40 Minuten lang über die Bedeutung Joachim Raus Werk für die zeitgenössische Kunst aufgeklärt hatte, beendete zu seiner Erleichterung gerade seine Rede.

Michael nahm sich ein Glas Weißwein und stellte sich in eine Ecke, um den Saal überblicken zu können. In der Mitte des Saales sah er Joachim. Souverän wie immer sprach dieser zu den Leuten, die fasziniert an seinen Lippen hingen und ihm zuhörten, als würde ihr Gott zu ihnen sprechen. Leute in seinen Bann zu ziehen, das war schon im Schweizer Internat, in dem Michael und Joachim sich vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal getroffen hatten, Joachims Stärke gewesen. Schon nach kurzer Zeit hatte Michael damals gemerkt, welche Wirkung Joachim auf andere Menschen hatte.

Michael konnte sich gut an ihre erste Begegnung erinnern …

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