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4. Philologie und antiquarische Gelehrsamkeit als dominante Disziplinen in einer Epoche der Skepsis

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Lipsius war eher Philologe als Philosoph, lebte aber in einer Zeit, in der Philologen und Vertreter einer antiquarischen Gelehrsamkeit, die aus historischen Quellen – und seien sie auch fragmentarisch – ein Ordnungsmodell für die Gegenwart zu konstruieren versuchten, noch eine absolut zentrale Stellung im intellektuellen Leben einnahmen.89 Wenige Jahrzehnte später waren Philologen und Historiker, die Überreste und Urkunden früherer Zeiten als Raritäten und moralische Exempla, aber auch als Zeugnisse einer idealen Vergangenheit sammelten, nicht mehr dazu in der Lage, den intellektuellen Diskurs zu dominieren. Dafür waren der Aufstieg einer rationalistischen Philosophie, die wie im Fall von René Descartes und Thomas Hobbes, aber auch von Grotius „more geometrico“ argumentierte, und der Siegeszug einer neuen Naturwissenschaft, die Aristoteles und das Denken der Antike hinter sich ließ, verantwortlich.90 Aber die enorme Wirkung dieses Aufstiegs war, obwohl seine Anfänge zu Beginn des 17. Jahrhunderts schon sichtbar waren, noch nicht abzuschätzen. Noch dominierten Männer wie der französische Gelehrte Nicolas-Claude Fabri de Peiresc (1580–1637), dem der amerikanische Historiker Peter Miller mehrere wichtige Studien gewidmet hat, das intellektuelle Leben, jedenfalls außerhalb des Kreises der Theologen.91 Miller stellt mit Blick auf Peiresc fest: „Never again would an antiquary represent and be represented as the ideal of individual excellence.“92 Männer wie Peiresc waren geprägt durch den Neustoizismus und orientierten sich an Autoren wie Paolo Sarpi, der in seiner Geschichte des Konzils von Trient (gedruckt 1619 in London) die Autorität des Papstes angriff, aber auch an Hugo Grotius, der in seiner Abhandlung über das Kirchenregiment (siehe unten, S. 156–158) die Machtansprüche des Klerus zurückgewiesen hatte. In England vertraten Gelehrte wie Willam Camden (1551–1623) oder in der folgenden Generation Robert Cotton (1570–1631) neben vielen anderen ein ähnliches Ideal antiquarischer Gelehrsamkeit wie Peiresc. Die Entwicklung in England ist hier besonders instruktiv. Ab den 1580er Jahren rekurrierten Historiker und Juristen wie Sir Edward Coke (1552–1634), der wie kein anderer das englische juristische Denken des frühen 17. Jahrhunderts prägte, verstärkt auf eine stark idealisierte mittelalterliche Verfassungsgeschichte Englands. Damit sollte nicht nur die Legitimität der eigenen nationalen Kirche gegen den universalen Geltungsanspruch der römischen Kirche verteidigt werden, es ging auch darum, das nationale Recht, das Common Law, gegen das römische Recht, das – neben einem selektiv genutzten alten kanonischen Recht – von den englischen kirchlichen Gerichtshöfen zur Disziplinierung oppositioneller Richtungen in der Church of England instrumentalisiert wurde, zu verteidigen. Nach 1603 schließlich dienten die Berufung auf die Magna Carta und die Verherrlichung einer vermeintlich bis auf die Spätantike oder zumindest das Frühmittelalter zurückgehenden parlamentarischen Tradition auch dazu, die sehr spezifische politische Kultur Englands und die Autorität des Parlamentes zu verteidigen. Gefährdet sah man diese politische Kultur vor allem durch das mögliche Aufgehen des Landes in einem gemeinsamen englisch-schottischen Staat, wie ihn König Jakob I. schaffen wollte (siehe unten, S. 179–187).93

In Deutschland wäre unter anderen der calvinistische Polyhistor Melchior Goldast von Haiminsfeld (1578–1635) zu nennen, der vor allem in seiner großen Monarchia Sancti Romani Imperii (1612–14) eine Fülle von Quellen zur Geschichte des Reiches edierte – mit der klaren Absicht, die Autoritätsansprüche des Papsttums in politischen Fragen zurückzuweisen und einem zeitgemäßen protestantischen Reichspatriotismus ein historisches Fundament zu geben.94 Entscheidend war für Gelehrte wie Peiresc, Cotton, Sir Edward Coke oder Goldast der Glaube, dass man aus der Rechts- und Verfassungsgeschichte vergangener Epochen eine ideale politische Ordnung auch für die Gegenwart ableiten könne.95

Neben Lipsius und Sarpi war gerade für Peiresc dabei noch ein weiterer Autor von zentraler Bedeutung: der französische Theologe und Philosoph Pierre Charron (1541–1603), der heute weitgehend vergessen ist.96 Charron war vielleicht kein sehr selbstständiger Denker, aber er verkörperte bis zu einem gewissen Grad den Geist der Skepsis, der im Geistesleben des ausgehenden 16. Jahrhunderts nicht nur in Frankreich präsent war und der auch die Lebensphilosophie des Neustoizismus und die Deutung der Mechanismen höfischer Machtkonstellationen mithilfe taciteischer Maximen inspirierte. Einerseits knüpfte Charron an die Essays von Montaigne an, der bereits den Zweifel zum Ausgangspunkt des individuellen Selbstverständnisses gemacht hatte; andererseits systematisierte er diesen skeptischen Ansatz und präsentierte ihn in einer Form, die auch von Theologen ernst genommen werden musste. Die Botschaft seines Hauptwerkes De La sagesse von 1601 war, dass die Prinzipien des Christentums sich nicht rational beweisen ließen und dass man die Ethik auf keinen Fall auf den Glauben gründen dürfe, der allenfalls jene ethischen Regeln abschließend legitimiere und kröne, die ihr Fundament in der Natur des Menschen selbst hätten.97 An diese natürliche Veranlagung des Menschen müsse man sich halten, nicht an theologische oder sonstige Meinungen.

Charrons Intentionen mögen vor allem pädagogisch oder didaktisch gewesen sein; der Rückgriff auf skeptische Argumente hatte eine erzieherische Funktion und sollte den Leser am Ende doch auf den Weg des Glaubens führen.98 In einer Welt widerstreitender theologischer Meinungen waren in dieser Perspektive theologische Fragen nicht rational zu entscheiden; die einzige Möglichkeit bestand darin, der Offenbarung zu folgen, so wie sie von der Lehrautorität der einzig wahren Kirche, der römischen, ausgelegt wurde.99 Charrons Schriften fanden jedenfalls bei den Vertretern des tridentinischen Katholizismus in Frankreich wie etwa Saint-Cyran (Jean Duvergier de Hauranne, gen. Saint-Cyran, 1581–1643) oder Kardinal Bérulle (Pierre de Bérulle, 1575–1629) im frühen 17. Jahrhundert durchaus ihre Verteidiger.100

Man kann in Charrons Skeptizismus einen Versuch sehen, jedes Lehrgebäude, das nur auf der Bibel und scheinbar plausiblen theologischen Argumenten aufgebaut war, ohne sich auf eine höchste Glaubensautorität zu berufen – und das war ja beim Protestantismus der Fall –, zum Einsturz zu bringen.101 Darüber hinaus kann man Charron auch so lesen, dass es ihm um die Kritik an einer äußerlichen Frömmigkeit ging, die auf der bloßen Anpassung an soziale Erwartungen beruhte, und um den Angriff auf eine unaufrichtige Moral, die nur der Furcht vor der göttlichen Strafe entsprang. Aber indem Charron für einen reinen Fideismus und eine negative Theologie, die die Unerkennbarkeit Gottes betonte, eintrat, vollzog er eben doch einen Bruch mit philosophischen und theologischen Traditionen wie der Scholastik und dem Aristotelismus, die den Katholizismus bis dahin geprägt hatten, und bereitete, ob nun bewusst oder unbewusst, einer weiteren Ausbreitung des Skeptizismus den Boden, die an der Wende zum 17. Jahrhundert die Suche nach belastbaren, unwiderlegbaren Wahrheiten, die dem konfessionellen Meinungsstreit entzogen waren, nur umso dringlicher erscheinen lassen musste.102

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