Читать книгу Trude - Rose Marie Gasser Rist - Страница 10

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1925 Die Liebe

T rudes Leben war rund und ganz. In Olgas Obhut hatte sie Arbeit, Schutz und Nahrung. Bei Livonia bekam sie Spiel, Zugehörigkeit und Spiritualität. Der Vater und sein Gott hatten keine Macht mehr über sie. Trude war mit ihrem Leben im Reinen und konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass ihr Leben noch reicher werden könnte.

Am Samstag, dem 4. Juli 1925, warteten alle gespannt auf den neuen Geigenspieler, der in der Kapelle die Lücke schließen sollte. Valentin betrat das Lokal, schaute sich im Raum um und schritt selbstbewusst auf die Musiker zu. Seine gepflegte Erscheinung, seine wohlgeformten Gesichtszüge und die schlanken Hände gefielen Trude auf Anhieb. Im Schutz der Gruppe beobachtete sie ihn und spürte, dass der Neue ihren Herzschlag beschleunigte. Nachdem die Musiker ihn mit einem Handschlag begrüßt hatten, nahm Valentin auf dem zugewiesenen Stuhl Platz, sortierte die Noten und blickte sich abwartend im Raum um. Seine Augen streiften die Tänzer. Seine und Trudes Augen trafen sich und in dem Moment war es besiegelt. Es war ein Wiedererkennen eines vor langer Zeit an einem vergessenen Ort gegebenen Versprechens. Eine innere Stimme sagte Trude, dass sie ihn kannte und dass sie und Valentin zusammengehörten.

Nach der Probe wartete sie auf Valentin. Sie war nicht aufgeregt, sie fühlte auch keine Scham. Es schien folgerichtig, auch wenn sie bis dahin kein einziges Wort gewechselt hatten. Er gesellte sich zu der wartenden jungen Frau, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Von Beginn an waren sie sich vertraut. Sie redeten, sie vergaßen alles um sich herum.

Trude erfuhr, dass Valentin aus Berlin stammte. Er war angehender Ingenieur und beabsichtigte, an einer ausländischen Fakultät sein Studium zu vertiefen. Zur Wahl hatten Danzig, Tartu oder Leningrad gestanden. In Polen und Russland hätte er Schiffsbau belegen können, was sein Vater ihm nahegelegt hatte. Tartu war der Bauchentscheid von Valentin, den er gegen den Wunsch seines autoritären Vaters gefällt hatte.

„Ich weiß jetzt, warum meine innere Stimme gegen alle Argumente für Tartu sprach. Ich weiß jetzt, dass ich richtig entschieden habe. Der einzige Grund, warum ich nach Tartu gekommen bin, ist, dich hier wiederzutreffen“, kokettierte Valentin.

Eine Woche später küssten sie sich unter einem blühenden Bauernjasmin. Zwei Wochen später verlobten sie sich. Die beiden waren sich ihrer Sache sicher. Trude war mit siebzehn noch nicht volljährig und so planten sie, ein Jahr später, im Sommer 1926, zu heiraten. Trudes Vater war heilfroh, dass sie so schnell unter die Haube kam. Vater sah in Valentin einen unerwarteten Glücksfall und gab seinen Segen, bevor der Bräutigam oder seine Familie es sich anders überlegen würden.

Mit einem Telegramm kündigte Valentin seinen Eltern die Verlobung und den bevorstehenden Besuch an. Er wollte, wie es sich gehörte, seine Braut vorstellen. Trude konnte nächtelang kaum schlafen. Das Leben überwältigte sie und übertraf ihre kühnsten Zukunftsträume. Erst die Verlobung, dann auch noch eine große Reise! Sie würde Deutschland und Berlin kennenlernen. Die Weltstadt war die populärste Kulturmetropole der Zwanzigerjahre. Und noch nicht einmal Lena, für die alles möglich war, hatte Berlin gesehen.

Lena borgte ihrer Freundin zwei feine Kleider und gab ihr wertvolle Instruktionen, worauf Trude achten sollte. Valentin kam aus gutem Haus. Der erste Eindruck in der feinen Gesellschaft musste sitzen. Während der beschwerlichen Reise war Trude ständig darauf bedacht, ihre Röcke nicht zu beschmutzen. Sie reisten in einer Kutsche auf staubigen Straßen bis Riga und mit der Eisenbahn bis nach Berlin.

Valentin unterwies sie während der langen Fahrt in die Gepflogenheiten der gehobenen Kreise. Insgeheim war Trude der deutschen Wehrmacht dankbar, dass sie während der Besetzung Deutsch gelernt hatte. Sie würde sich mit den zukünftigen Schwiegereltern in deren Muttersprache unterhalten können. Trude fühlte sich gerüstet.

Doch die Verlobten blieben keine Nacht.

Valentins Vater und Mutter empfingen sie zum Nachmittagstee. Vom Dienstpersonal wurden sie zu den Herrschaften geführt, die sie distanziert und förmlich begrüßten. Valentin hatte seine Eltern mehrere Monate nicht gesehen und küsste Mutters Hand und siezte die Eltern, was Trude befremdete.

„Was für eine Gefühlsarmut! Wenn ich meinen einzigen Sohn so lange nicht gesehen hätte, würde ich ihn ans Herz drücken und abküssen!“

Trude wurde in die Teestube gebeten, während Valentin von seinem Vater zu einem Männergespräch unter vier Augen in ein angrenzendes Zimmer geführt wurde. Die Mutter richtete keine einzige Frage an Trude. Das Gespräch erstarb, als Anreise und Wetter durchgenommen waren und die Gastgeberin erkannte, dass das Bauernmädchen von weiteren Konversationsthemen der Damengesellschaft keine Ahnung hatte. Trude begriff, dass die Schwiegermutter ihr nur aus Höflichkeit Gesellschaft leistete, bis die Herren ihre Unterredung beendet hatten. Oft schaute sie an der jungen Frau vorbei auf die Pendeluhr in ihrem Rücken, räusperte sich und stellte die Teetasse mit einem abgespreizten kleinen Finger sorgsam auf den Unterteller zurück.

Aus dem Nebenraum drang kein hörbares Wort. Es war unheimlich still und Trude schwante, dass sich die Audienz beim Vater nicht zu ihren Gunsten entwickelte. Es fiel dem Mädchen schwer, die ihrem Naturell entsprechend zappeligen Beine ruhig zu halten. Sie biss sich unentwegt auf die Unterlippe, wohlbedacht, nichts Unschickliches aus ihrem Mund zu entlassen. Wenn sie mit Olga beim Kartoffelschälen saß oder sie miteinander im Garten Unkraut zupften, plapperte sie frei von der Leber über Valentin. Auf jede kleine Anekdote von den Frischverliebten antwortete Olga mit einem herzhaften Lachen oder mitfühlenden Nicken. Bei ihr musste sie kein Wort abwägen.

Bei seiner Mutter riss sie sich zusammen. Nichts wollte sie von Valentin und sich preisgeben. In dieser bangen Stunde, in der ihre gemeinsame Zukunft mit Valentin ausgehandelt wurde und sie sich vor dem steifen Richter in Gestalt seiner Mutter um Form bemühen musste, war ihre Vorstellungskraft wie so oft die Rettung. Als alles gesagt war, klinkte sie sich im Geiste aus. Der Körper schützte Präsenz vor, doch sie ging in Gedanken auf Wanderschaft.

Sie schwelgte in der Erinnerung an den ersten innigen Kuss, an seine forschen Hände auf ihrem Busen und zwischen ihren Beinen. An ihre Verwegenheit, als sie seinen behaarten Schoß und seine Männlichkeit zum ersten Mal erforschte. Trude dachte daran, wie Valentin von seinen Zukunftsplänen erzählte, in denen sie neben ihm die Hauptrolle bekam. Sie wusste um seinen Ekel vor Spinnen oder seinen Tick, sich ständig die Augenbrauen mit Spucke glatt zu streichen. Ihr Liebster wusste, dass sie gerne las, und belieferte sie mit Büchern aus der Universitätsbibliothek. Valentin war längst nicht mehr Mutters Söhnchen, er war bereits zum feindlichen Lager, seiner neuen Verbündeten, übergelaufen. Trude wusste mehr über ihn, als seiner Mutter lieb war.

Siegesgewiss sah Trude dann Valentins Rückkehr in den Salon entgegen. Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich. Der Qualm verriet, es war viel geraucht worden. Die Verlobte hatte Valentin noch nie mit einer Pfeife oder Zigarre gesehen. Schon daran hätte sie erkennen müssen, dass sich das Blatt gewendet hatte. Vater rief das Dienstmädchen und bat es, Valentin und Trude hinauszugeleiten. Valentin hielt den Kopf gesenkt und vermied es, Trude anzuschauen. Das Unheil war zu erahnen.

Reserviert verabschiedeten sich Valentins Eltern von dem jungen Paar.

Trude betrat dieses Haus nie mehr.

Vor der Eichentür bat Valentin Trude, umgehend nach Tartu zurückzureisen, und überreichte ihr das Geld für die Fahrt. Er küsste sie flüchtig auf die Wange und wandte sich ab, um ins Haus zurückzugehen. Trude fiel aus allen Wolken. Sie wollten doch vier Tage in Berlin bleiben! Alle Sehenswürdigkeiten standen auf dem Programm: das Brandenburger Tor, der Reichstag, der Botanische Garten! Und er wollte ihr einen großen Wunsch erfüllen: mit Straßenbahn quer durch die Stadt zu fahren. Jetzt schickte er sie einfach weg. Trude ergriff Valentins Hände, suchte seine Augen. Er drehte den Kopf weg, doch Trude blieb nicht verborgen, dass er mit den Tränen kämpfte.

„Valentin, was ist vorgefallen?“, bettelte Trude.

Ihr Verlobter richtete sich auf, wurde steif, nahm eine Haltung an, die sie an ihm noch nie erlebt hatte. „Es ist einfach so!“, fuhr Valentin sie barsch an, machte auf dem Absatz kehrt, schritt fluchtartig durch die Tür, die mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fiel.

Trudes Welt stürzte zusammen. Sie waren auf dem Sprung, die Welt zu erobern. Sie wollten nach Valentins Studium in Deutschland wohnen, später Europa bereisen. Sie waren hoffnungsvoll, dass Trude auch als Frau eine weiterführende Schule besuchen konnte. Sie hatten Amerika in Betracht gezogen. Als Ingenieur stand ihm die Welt offen. Und nun war Trude mit einem Schlag die Tür zur Freiheit vor der Nase zugeschlagen worden. Sie hatte an diesem unheilvollen Nachmittag in Berlin nicht nur ihre große Liebe, sondern auch die Eintrittskarte in eine verheißungsvolle Zukunft verloren. Ein Fiaker kutschierte Trude zum Bahnhof. Die Eisenbahn brachte sie nach Riga. Sie kehrte als leere Hülle, als hätte sie ihre Seele auf dem Weg verloren, nach zwei Tagen und zwei Nächten Odyssee in Olgas Schoß zurück. Doch weder Olga noch Lena vermochten Trude zu trösten. Sie verstanden Valentins Wandlung genauso wenig wie Trude. Denn was immer auch sein Vater zu ihm gesagt haben mochte, zumindest hätte er den Anstand haben müssen, sich zu erklären.

Erst wollte Trude nicht mehr leben. Sie hatte sich alle Varianten ausgemalt, wie es am schmerzfreisten vonstatten gehen könnte. Dann baumelte sie zwischen blinder Wut und bodenloser Traurigkeit. Aber das Schlimmste kam danach: eine graue Gleichgültigkeit. Sie ging nie mehr zum Tanzen, nahm an keiner Zeremonie mehr teil. Sie mied die gemeinsamen Freunde. Ihre Lebensfreude und ihr Glück hatten sich davongeschlichen. Nur Olga und Lena ließ Trude manchmal zu sich durchdringen. Und Olgas Kleinste. Mit Malena hatte sie schon immer eine besondere Zuneigung verbunden. Das Mädchen fand Trude überall. Wenn sie sich zwischen dem Vieh ins Stroh setzte, weil sie von einer Welle der Sinnlosigkeit übermannt wurde, hüpfte die Kleine leichtfüßig zu ihr und schob ihre kleinen Finger zwischen ihre, die sich zu einer bitteren Faust gekrümmt hatten. Wortlos saßen sie so zwischen den warmen Leibern der Tiere. Dies tröstete Trude mehr als alle gut gemeinten Worte der Erwachsenen.

Es war die kleine Malena, die Trude vor dem leisen Sterben bewahrte.

Nach einem Jahr gab es Tage, an denen Trude es schaffte, nicht an Valentin zu denken. Mit der Zeit verflüchtigte sich die Frage nach dem Warum. Doch was sie weder wegreden, wegschließen noch verfluchen konnte, war diese starke Emotion, die sofort im Brustraum entbrannte, sobald sie nur einen Gedanken an Valentin verlor. Das Herz liebte einfach weiter. Und jedes Mal, wenn sie es zuließ, klaffte unmittelbar auch diese hässliche, wütende Trauer um die betrogene Zukunft auf. Trude wurde müde vom ständigen Aufbäumen der heftigen Gefühle und sie begann erfolgreiche Strategien zu entwickeln, alles zu umschiffen, was sie an ihren ehemaligen Verlobten erinnern konnte.

Trude schickte sich in ihr Leben und verrichtete die Arbeit. Antriebslos. Bei der Morgentoilette sah ihr aus dem Spiegel eine verhärmte, ausgemergelte Jungfer entgegen. Unerträglich wurde sie sich. Einmal schleuderte sie den Spiegel zornig an die Wand. Die Erleichterung war allerdings nur von kurzer Dauer.

Von Livonia wandte sie sich auch ab. Unerträglich wurde ihr das Gegurre und Gebalze der jungen Menschen. Mit Männern wollte sie sowieso nie mehr etwas zu tun haben. Lena hatte zu Beginn Versuche angestellt, Trudes Mauer von Gram zu durchbrechen. Doch irgendwann gab sie auf. Sie hatte, wie Trude zu Ohren kam, einen Jeronim geheiratet. Die Enttäuschung, dass sie nicht eingeladen war, hielt nur kurz. Auch diese lästige Emotion schüttelte Trude mit einem müden Achselzucken ab.

Ganz nach Olgas Vorbild verinnerlichte Trude, dass es keinen Mann für eine gute Existenz brauchte. Olga, die Mädchen und sie waren eine eingeschworene, fast klösterliche Frauengesellschaft. Was sie vom Kloster unterschied, war, dass sie ihr Dasein keinem Gott zollten. Die Naturzeremonien, die Trude die Jahre davor so viel bedeutet hatten, hatte sie ersatzlos aus dem Leben gestrichen. Sie traute weder einem autoritären Kirchengott noch Naturgeistern mehr über den Weg. Die einzige verlässliche Konstante in ihrem Leben war Olga. Sie gab Trude Nahrung, Arbeit und Schutz. Olga wusste im richtigen Moment zu schweigen und wann es Zeit war, zu feiern und zu lachen.

Olga war das Flaggschiff für ihre Mädchen und Trude. In ihrem Kielwasser war es möglich, allem die Stirn zu bieten. Der Hof warf genug ab, um alle zu ernähren. Trudes Anwesenheit und tatkräftige Hilfe war willkommen und damit war ihre Existenz auf Jahre hinaus garantiert. An dieser Sicherheit begann sie ihr Leben auszurichten. Und allmählich Valentin zu vergessen.

Trude

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