Читать книгу Trude - Rose Marie Gasser Rist - Страница 14

Оглавление

1930 Die Kinder

Im Juli 1930 wurde Juri geboren. Ein pflegeleichtes Kind. Die Schwangerschaft verlief beschwerdefrei. Die Eheleute verfolgten die Veränderungen von Trudes Körper wie ein spannendes Forschungsprojekt. Die werdende Mutter war Objekt und Beobachtende gleichzeitig.

Eine unzimperliche Hebamme begleitete die Gebärende durch die Niederkunft. Männer waren im Kreissaal nicht erwünscht und so war Trude ohne Valentin dem Ereignis ausgeliefert. Ludmilla, eine unerschütterliche Matrone, die schon Tausende wimmernde, klagende, schreiende Frauen durch das Entbinden gelotst hatte, ging überhaupt nicht auf Trudes Ängste und Befindlichkeiten ein. Auf ihre Erfahrung und Souveränität war Verlass. Sie begleitete Trude durch alle Phasen der Wehen und spornte sie an, bis der kleine Junge aus ihrer weit gedehnten Öffnung herausflutschte.

Ludmilla legte ihr das schmierige, rosa Bündel in die Arme. Trude griff nach den winzigen Fingerchen, strich über das flaumige Köpfchen und als Juri die verklebten Lider aufschlug und seiner Mutter mit tiefblauen Augen zublinzelte, begann Trude zu schluchzen. Noch wund von der Entbindung, glückselig über das kleine Wunder in ihren Armen, erinnerte sie sich an ihre Mutter. Die vollbrachte Leistung, einem Kind trotz bestialischer Schmerzen ins Leben verholfen zu haben, schenkte Trude große Selbstachtung. Sie war unbeschreiblich stolz auf sich.

Wie gerne hätte Trude ihren Sohn Marthe gezeigt. In den Stunden nach der Entbindung fehlte ihr die Mutter wie nie zuvor. Selber Mutter geworden, wurde sie ihr ebenbürtig. Auf einmal konnte Trude nachempfinden, was sieben Kinder Marthes Leib abverlangt hatten. Wie wenn ein Hebel umgekippt wurde, betrachtete Trude Mutters Tod mit einem Mal mit anderen Augen. Der Körper hatte schlicht keine Kraft mehr gehabt. Die Schwangerschaften, das Stillen, die schwere körperliche Haus- und Feldarbeit hatten ihren Zoll gefordert. Nicht Trude war schuld an ihrem Tod! Sondern die harten Lebensbedingungen und die Geringschätzung der Frau in dieser patriarchalen Gesellschaft! Plötzlich verflüchtigte sich der schwere Schatten.

Die frischgebackene Mutter hatte keine Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Säuglingen. Doch Juri machte ihr den Einstieg in die Mutterschaft sehr leicht. Er trank gut, gönnte ihr nachts erholsamen Schlaf und gedieh prächtig. Es war schön, mit diesem zufriedenen Kind die Tage zu verbringen. Trude dachte sich, wenn Muttersein so ein Spaziergang ist, wäre es ein Leichtes, nebenher ein Dolmetscherdiplom zu erwerben. Sie schmiedete an ihrem Zukunftsplan. Wenn Juri schlief und später, wenn er zur Schule gehen würde, wollte sie als Übersetzerin arbeiten. Trude war überzeugt, dass ihre Sprachfertigkeiten ihr den Einstieg in die Berufswelt ebnen würden.

Im Mai 1931, kurz nachdem sie sich bei der staatlichen Sprachakademie für den Lehrgang eingeschrieben hatte, stellte Trude fest, dass sie erneut schwanger war. Dieses Mal waren die Zeichen nicht die ausbleibenden Tage, sondern die Morgenübelkeit, von der sie bisher nur vom Hörensagen wusste. Trude konnte keinen Bissen halten. Bestimmte Gerüche, wie zum Beispiel Kaffee, wurden ihr unerträglich. Valentin musste sich eine geruchsneutrale Seife zulegen, sonst hätte ihn Trude nur auf Distanz ertragen können. Während dreier Monate war Trudes Radius sehr beschränkt. Sie pendelte zwischen Bett, Küche und Kinderzimmer hin und her mit einem Emailbecken als ständiger Begleiter.

Bei Sergejs Geburt im November verlor Trude viel Blut. Das Viereinhalbkilokind hatte sich zu schnell und zu heftig herauskatapultiert, als hätte es nicht abwarten können, die Welt zu erobern. Der Junge riss alles mit, was im Unterleib seiner Mutter auf seinem Feldzug in die Freiheit im Weg stand. Zum einen war es wohl die enorme Verausgabung, aber auch die Kälte außerhalb der geschützten Höhle, die dem kleinen Kerl den Atem verschlugen. Sergej bekam nach der Geburt keine Luft in seine Lungen, lief blau an und die Hebamme machte sich schon auf das Schlimmste gefasst. Doch sie unterschätzte den Lebenswillen des Jungen.

An ein Studium oder an Arbeit war nicht mehr zu denken. Trude musste ihre Pläne begraben. Juri übte sich in seinen Gehversuchen und dehnte allmählich seinen kleinen Radius in der Wohnung aus. Sergej trug sie praktisch immer im Arm, weil er so am wenigsten schrie. Sie brachte es nicht übers Herz, wie es damals üblich war, die Kinder in ihren Betten anzubinden und stundenlang schreien zu lassen.

So wie Sergej die Welt betrat, so führte er sich auch als Kind auf. Mit Pauken und Trompeten ging er etwas an. Nie böse oder berechnend. Er war sich schlicht seiner körperlichen Kräfte und Grenzen nicht gewahr. Tollpatschig stieß er manch kleinen Spielkameraden einfach im Vorbeigehen um. So ungestüm sein Auftritt bei Menschen auch war, so sanft war seine versteckte Seele. Dies zeigte sich insbesondere daran, wie er mit Tieren umging.

Jedem herrenlosen Streuner näherte er sich furchtlos, kniete vor ihm nieder und streckte dem Hund die Hand zum Lecken hin. Trude beobachtete, wie das Herz des Jungen für die verwahrlosten Kreaturen überfloss. Sergej hatte eine besondere Gabe, wortlos mit Tieren zu kommunizieren. Seine Gesichtszüge wurden sanft, wenn eine Schnecke über seinen Handrücken kroch. Aus unerfindlichen Gründen konnte er diese zärtliche Seite den Menschen selten schenken. Anderen Kindern gegenüber war er meistens ruppig und abweisend.

Sergej bereitete seinen Eltern manchen Kummer. Er war oft krank und fügte sich beim Spiel unbeabsichtigt Verletzungen zu. Er trieb die Mutter mit seiner Aufmüpfigkeit, die ihrer nicht unähnlich war, manchmal zur Weißglut. Er forderte seinen älteren Bruder und seine Eltern heraus. Trude wusste jedoch um seine sanfte Seele unter der ruppigen Schale und konnte ihm nie lange böse sein. Sie sprach seinen Namen am liebsten auf Französisch aus, weil Serge mit weichem „sch“ am Ende sie weicher machte für ihn.

Der Winter 1931/1932 war unbarmherzig kalt. Minus dreißig Grad waren die Spitze. Trude verlangte dem kleinen Kohleofen alles ab, um die Wohnung einigermaßen warm zu halten. Kälte, Schlafmangel, das Schleppen von Kohle, Besorgungen und zwei Kleinkinder erschöpften sie. Seit Ankunft in Leningrad hatte Trude gegen zehn Kilogramm Gewicht verloren. Sie beklagte sich nie und dachte auch nicht daran, eine Hilfe einzustellen, die sie sich mit Valentins Gehalt hätte leisten können.

Im Vergleich zu anderen Müttern in der Straße, mit denen sie lose Kontakte geknüpft hatte, erging es ihr gut. Die junge Familie hatte weder materielle Sorgen noch Eltern, Schwiegereltern oder Geschwister, die sich mit an den Tisch setzten. Trude musste nicht arbeiten und zuverdienen. Nicht wie die anderen Frauen, die ihre Kinder tagsüber in der Wohnung einschlossen oder der Obhut der älteren Geschwister überließen, während sie selber in der Munitionsfabrik Patronenhülsen drehten.

Im Frühjahr 1932, nach dem zweiten Leningrader Winter, war Trude ausgemergelt und am Ende ihrer Kräfte. Die Ehe verkam zu einer Hülle, die weder Trude noch Valentin mit Leben und Freude zu füllen vermochten. Der junge Vater war tagsüber von der Arbeitswelt absorbiert und kehrte abends müde nach Hause. Dort erwartete ihn eine ermattete Gattin mit zwei plärrenden Kleinkindern.

Die Unbeschwertheit und schwirrende Verliebtheit waren verflogen. Trott und Anstrengungen lagen bleiern über dem Paar. Es gab zwischen Valentin und Trude kein fröhliches Turteln mehr. Nicht selten begleitet von Sergejs Wimmern, das aus dem Kinderbettchen drang, gab sie dem Drängen ihres Mannes nach. Sie konnte bald nicht mehr unterscheiden, ob sie das monotone Kindergeschrei oder Valentins ernsthafte Bemühungen, ihr Freude zu bereiten, mehr abstumpfte.

Der Körper der Mutter hatte alle Vitalität und Lust verloren. Der Liebesakt verkam zum verzweifelten Versuch, die verlorene Nähe wiederherzustellen. Trude verscheuchte den lästigen Gedanken, dass Valentin sie als Ventil missbrauchte. Sie war einfach nur froh, wenn er schnell fertig war, sie sich nicht zu sehr verkrampft hatte und es nicht zu sehr schmerzte. Inständig hoffte Trude jedes Mal, von einer dritten Schwangerschaft verschont zu werden.

Trude bekam Heimweh nach Olga. Nach ihrer Ordnung, Zuverlässigkeit und Herzlichkeit. Der Gedanke an sie wärmte die müde Mutter. Olga hatte ihren Mann früh verloren und sich alleine mit ihren Töchtern durchgekämpft. Sie hätte allen Grund gehabt, eine griesgrämige Alte zu werden. Doch Olga hatte sich ein warmes Herz bewahrt und war eine Sonne für ihre Mitmenschen, wenn ihr niemand zu nahe trat. Es hatte schnell die Runde gemacht, als sie einem Nachbarsburschen mit dem Knie in dessen Gemächt getreten hatte, nachdem er ihr vor den Mädchen unflätig den Busen begrabscht hatte. Trude hatte sie nie über ihr Schicksal klagen hören. Es blieb immer ein Geheimnis, wie sich Olga ihre Frohnatur bewahren konnte.

Besonders in den kalten Wintertagen wünschte sich Trude zurück auf Olgas Hof. Es war ihr nach frischer, kuhwarmer Milch oder nach dem Biss von einer am Kraut aus guter Erde gezogenen süßen Karotte. Auf Olgas Hof hatte es nie an Nahrung gemangelt. Auch wenn sich manchmal Gäste an die Tafel setzten: Alles, was Boden und Stall hergab, wurde geteilt. Alle wurden satt an Leib und Seele.

Trude fehlte in Leningrad eine gute Freundin, mit der sie die langen Tage unterbrechen konnte. Die Frauen im Quartier waren freundlich. Doch sie lebten in ihrer eigenen Welt. Die meisten arbeiteten sowieso tagsüber. Und mit denjenigen, die sie beim Einkaufen in der Warteschlange antraf, erschöpften sich die Gespräche sehr bald nach den Höflichkeitsfloskeln. Gebildete oder kulturell interessierte Frauen und Männer verkehrten nicht auf dieser Straße. Für Einkäufe sandten sie ihre Dienstboten. Zu den interessanten Kreisen der Gesellschaft hatte Trude mit zwei Kindern an der Hand keinen Zugang.

Die ersten beiden Leningrader Winter waren eisig und einsam.

Mildere Temperaturen Ende April brachten Regen und lösten die Schneedecken in den Straßen in Matsch auf. Inzwischen wusste Trude, dass sich der Frost noch einmal hämisch zurückmelden konnte, bevor er endgültig das Feld räumen würde. Doch sie war froh um die ersten Zeichen des Frühlings, die ein Ende des Winters ankündigten. Mit dem Regen kommt der Machtwechsel der Jahreszeiten.

Beim Tauwetter hatte sie die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Sie verbrachte den langen Tag mit zwei Kerlchen mit Bewegungsdrang in der kleinen Wohnung. Oder sie ging bei kühlen Frühlingstemperaturen im Regenmatsch in den Park. Da Lederstiefel, Kleider und Wollmäntel keinen ausdauernden Schutz vor der Nässe boten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich die Buben erkälteten und Trude dies in der Folge mit Nachtschichten wieder auszubaden hatte. Vom langwierigen Trocknen von Kleidern und Schuhen auf engem Raum ganz zu schweigen. Doch Trudes Bedürfnis nach frischer Luft war größer als die Vernunft. Sie verweilten den ganzen Nachmittag im Freien.

Am Tag darauf bekamen Juri, Sergej und sie selber Fieber. Schwitzend versorgte sie die beiden Buben, die apathisch und glühend in ihren Bettchen lagen. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie von Schüttelfrost gebeutelt in der Fleischbrühe auf dem Herd rührte und Valentins Ankunft herbeisehnte, damit er sie ablösen und sie sich endlich ins Bett legen konnte.

Viel später wachte Trude im Schlafzimmer auf. Sie erkannte durch einen Schleier die vertraute, sich ablösende grüne Tapete im Eck ihrer Kammer und wie Valentin auf der Bettkante sitzend die matte Hand seiner Frau streichelte. Und wieder später – wie viele Tage mochten vergangen sein? – tauchte Olga in Trudes Gesichtsfeld auf. Olga!

Trude wollte sich aufrichten, um nachzuprüfen, ob sie ihren Augen trauen konnte. Doch starke Gliederschmerzen hielten sie in den Laken zurück. Olga war nach Leningrad gekommen, nachdem Valentin ihr telegrafiert hatte. Er hatte seine Frau ohnmächtig auf dem Küchenboden vorgefunden. Von der Suppe klebte noch eine schwarze Kruste in der Pfanne. Valentin dankte der Fügung, dass er die frühere Tram erwischt und die Küche betreten hatte, bevor die Gasflammen den Topf zum Glühen bringen konnten. Nicht auszudenken, wenn er die Wohnung abgefackelt und die verkohlten Körper seiner Liebsten vorgefunden hätte.

Später erfuhr Trude, dass sie sieben Tage und Nächte zwischen Leben und Tod geschwebt hatte. Der Körper brauchte eine Weile, sich zu entscheiden, ob er kämpfen oder aufgeben wollte. Ihr Hausarzt Medwedew war täglich dreimal vorbeigekommen, um nach der Patientin und der Familie zu schauen. Medwedew heißt Bär auf Russisch. Kein anderer Name hätte besser gepasst zu ihm.

Der Bär war Valentin während der Tage, als die Zukunft seiner Familie in der Schwebe lag, der Fels in der Brandung. Der gute Doktor war eine Seele von einem Menschen, mehr Seelsorger als Mediziner. Der Arzt war es denn auch, der Valentin auf die Idee brachte, Trude die Medizin zu besorgen, die sie ins Leben zurückholen konnte: Olga. Medwedews scharfer Verstand zog schnell Schlüsse aus Valentins Schilderungen. Wenn überhaupt, so konnten nur die Wärme und Fürsorge ihrer Ziehmutter Trude wieder zu Kräften kommen lassen.

Olga folgte Valentins Notruf umgehend. Ihre Töchter waren inzwischen selbstständig genug, sie für eine Weile zu entbehren und den Hof zu führen. Sie traf am fünften Tag nach Trudes Zusammenbruch ein und übernahm das Zepter. Die Erleichterung und Zuversicht reihum war groß. Und in der Tat – Trude genas.

Vier Wochen später fuhr Trude mit den beiden Buben in Olgas Begleitung nach Tartu.

-----------------

Trude blieb den ganzen Sommer auf Olgas Hof, zu ihrem, aber auch dem Segen der Jungen. Mühelos hatte sich Trude wieder in den Tagesrhythmus eingefügt. Die Handgriffe waren nicht vergessen. Körperliches Zupacken und der rege Austausch mit den anderen waren für Trude die Kur, die ihr Ausgeglichenheit und Lebensfreude zurückbrachten. Ständig war irgendjemand zugegen. Beim Melken, Rübenziehen oder Kochen schwatzten die Frauen rege oder schwiegen einvernehmlich.

Getreide, Gemüse und Schmalz führten dazu, dass die junge Mutter bald wieder im Besitz ihrer alten Kräfte war. Aus ihren dürren Gliedern formten sich ansehnliche muskulöse Arme und Beine. Es gefiel ihr, dass über dem Gerippe der Busen wieder Rundungen und sich an den Hüftknochen ein kleines Fettpölsterchen ansetzte. Sonne und Arbeit in der freien Natur schenkten ihr eine gesunde Gesichtsfarbe. Nach und nach fühlte sie sich wieder gesund und vital.

Olga bemerkte einmal: „Du kommst mir vor wie ein Spatz, der immer wieder aus dem Nest fällt und den ich immer wieder aufs Neue aufpäppeln muss. Damit uns das erspart bleibt, verbringst du von nun an die Sommer bei uns und lässt dich durchfüttern, damit du die Winter in der Stadt überstehst. Ich kann eine zusätzliche Erntehelferin gebrauchen. Jetzt, wo meine Ältesten bald flügge sind und es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie von Männern abgeworben werden. Ich werde das mit Valentin schon regeln.“

Die Jungs liebten die Monate auf dem Land. Endlich war ausreichend Platz für ihren Bewegungs- und Erforschungsdrang. Das Hofleben wirkte sich ausgezeichnet auf die Entwicklung der Buben aus. Und auf das Wohlbefinden der ganzen Familie. Sergej machte seine ersten Schritte auf dem Hofplatz und Juri tapste brav den arbeitenden Frauen nach. Mit Stolz und Staunen beobachtete Trude, wie sich geballte Kraft in den kleinen Bubenkörpern entfaltete. Die rohe Energie wollte sich in Taten ausdrücken. Was in der kleinen Leningrader Wohnung stets gezähmt werden musste, konnte sich auf dem Land entladen und austoben.

Trude und Olga lehrten sie dem Alter entsprechend mit Werkzeug umzugehen. Jede Verantwortung, die den Buben übertragen wurde, ließ sie innerlich wachsen. Die Kinder lernten, dass ein offenes Knie vom Umfallen gut wegzustecken ist, dass ein Aufrappeln und Weiterennen wie ein kleiner Sieg über die eigene Grenze ist. Ein Holzsplint in der Haut war halb so schlimm, wenn der Holzstapel erklommen und das Ziel erreicht ist.

Für Trude war es eine unermessliche Entlastung, die Knaben nicht ständig alleine beaufsichtigen zu müssen. Andere Augen teilten die Aufmerksamkeit, andere Hände trösteten. Für die Hofgemeinschaft waren die Ankömmlinge aus der Stadt eine willkommene Abwechslung. Olgas Töchter liebten es, die Buben zu versorgen, ihnen Geschichten zu erzählen und Lieder vorzusingen. Vielleicht dachten sie dabei schon an ihre eigenen Kinder. Die Zeit auf dem Hof war kurzweilig und verflog im Nu. Der Herbst und damit die Rückkehr in die Stadt nahten viel zu schnell für Trudes Empfinden.

Die Freude über ihr Aufblühen wurde von einem Schatten getrübt, den sie nicht wegstecken konnte. Sie vermisste Valentin nicht. Es erging ihr sehr gut ohne ihn. Ihr Leben war prall. Ganz anders als in Leningrad. Und sie fühlte sich schuldig deswegen. Es war ja nicht so, dass Valentin ihr Leid zugefügt hatte oder fremdgegangen war. Sie hatte da ganz andere Geschichten von Ehemännern gehört. Ihr Mann ließ sich nichts zuschulden kommen. Pflichtbewusst verrichtete er seine Arbeit. Seinen Söhnen war er immer ein fürsorglicher Papa. Trude gegenüber hatte er sich stets bemüht, die Unbeschwertheit der Anfänge wiederherzustellen. Er war sich bewusst, dass die Geburten und Leningrad seiner Frau zusetzten und hatte sich angestrengt, Trudes Leben zu erleichtern.

Valentin hatte alles gegeben, seiner kleinen Familie ein gutes Leben in der Stadt zu ermöglichen. Und doch war es nicht genug. Trude realisierte: Sie liebte ihn nicht mehr. In ihr war kein Platz für ihn. Wenn sie an seine nächtlichen Anstrengungen dachte, schnürte sich ihr Unterleib zusammen. Sein Pflichtbewusstsein war lobenswert, doch es erstickte sie. Valentin war in Leningrad die einzige konstante erwachsene Person. Trude erkannte, dass es zwischen ihnen nichts Neues mehr zu entdecken gab. Die Einsicht, dass ihr Valentin im Gegenteil lästig und überdrüssig geworden war, erschreckte Trude, als sie darüber nachdachte.

Die Distanz war Trude mehr als recht und sie hätte diesen Zustand gerne so aufrechterhalten. Zu kläglich waren die Überreste ihrer Ehe. Ganz heimlich, nach einem langen Arbeitstag auf dem Hof, wenn niemand mehr Ansprüche an sie stellte, wenn sie nachts alleine lag, ging sie in Gedanken und mit ihren Händen auf Entdeckungsreise. In ihrem Körper, von Sommersonne und Lebensfreude erwärmt, keimte leise verloren geglaubtes Lustgefühl auf. Sie entdeckte, dass sie sich selber guttun konnte. Mehr Glück brauchte sie nicht.

Eines Nachts, nachdem sich Trude erfüllt im Federbett einrollte, ploppte ein Gedanke auf, der ihr unangenehm war und den sie dennoch mit einem Mal in Betracht zog: Eine Scheidung war auf einmal eine mögliche Option. Während vieler Wochen war die räumliche Trennung ein Schutzschild und ersparte ihr, eine folgenschwere Erwägung auszusprechen. Doch der Tag würde kommen, der Tatsache ins Auge zu sehen, Valentin ins Gesicht zu sagen, dass es ihr ohne ihn besser ging.

Valentin kündigte sich mit einem Telegramm an: „Ankunft: 16.7.33 in Tartu. Freue mich auf Dich und Kinder.“

Trude wusste, sie hätte sich freuen müssen. Jede andere an ihrer Stelle hätte ihren Geliebten ersehnt. Die knappen Worte wirkten auf die Gattin wie eine turmhohe Erwartung und sie sah der Begegnung mit Angst entgegen. Sein Wunsch, seine Frau und die Kinder zu sehen, forderte Trude heraus, Stellung zu beziehen. Er würde sich mit ihr unterhalten wollen, er würde mit ihr schlafen wollen, er würde mit den Buben und ihr Familie sein wollen.

In den Nächten vor Valentins Ankunft zerbrach sich Trude den Kopf und fand kaum Schlaf: „Was hat uns nur entzweit? Leningrad? Die Kinder? Die zerplatzten Träume? Was hat mir meine Unbeschwertheit geraubt? Welche Macht war stärker als unsere Liebe, die wir einst füreinander empfanden? Gibt es noch eine Chance für uns?“

Mit je einem Buben an der Hand wartete sie am Bahnsteig von Tartu auf Valentins Ankunft. Juri und Sergej waren außergewöhnlich brav. Sie bemerkten die Spannung in der Luft und ahnten, dass ihre Mutter ihnen heute keine Aufmerksamkeit schenken würde, so sehr sie sich auch anstrengten. So ließen sie es bleiben, sich wie sonst zu hänseln.

Die Buben trugen ihre Sonntagsanzüge. Die Mutter hatte ihnen das braune Haar am Vortag kurz geschnitten, die wilden Locken waren anders nicht zu bändigen. Trude hatte sich hübsch, aber nicht übertrieben herausgeputzt. Sie trug ein schlichtes weißes Sommerkleid, das mit blauen Kornblumen und grünen Ranken verziert war und das sie sich erst kürzlich hatte anfertigen lassen. Die Kleider, die sie in den ersten Monaten in Leningrad getragen hatte, passten immer noch nicht, so sehr hatte sie abgenommen. Die schönen Stoffe hingen nur schlaff an Trude herunter.

Valentin stieg aus dem Zug, suchte den Bahnsteig nach seiner Familie ab. Er ließ den Koffer stehen und eilte seinen Liebsten entgegen. Er umschloss alle drei mit seinen Armen. Den Buben wurde es rasch zu eng und sie befreiten sich aus dem Griff. Die Kinder plapperten und fragten, sie zerrten und stupsten. Es machte den Anfang einfacher. So still die Buben vor der Zugseinfahrt standen, so aufgeregt tanzten sie jetzt um ihren Vater herum, den sie zu Trudes Erleichterung in Beschlag nahmen. Der dreijährige Juri hatte sich im Vorfeld viele Gedanken gemacht, ob der Vater derselbe war, wie der in der Stadt, ob der Papa ihn noch gernhaben würde und ob er ihnen etwas mitbringen würde.

Valentin setzte sich auf deren Wunsch zu seinen Söhnen hinten auf den Pferdewagen. Sie forderten seine ganze Aufmerksamkeit. Er musste von Leningrad und der Wohnung erzählen, von den großen Schiffen und den Kindern der Straße. Der Vater lauschte den Heldentaten seines Ältesten. Die Eheleute hatten wenig Gelegenheit, sich zu unterhalten. Und es war Trude recht. Sie saß auf dem Kutschbock und hielt die Zügel des Zweispänners in den Händen. Sie hatte keine Eile, den Hof zu erreichen. Ab und an drehte sie sich kurz um, um nach den Kindern zu schauen und Valentin aus dem Augenwinkel zu beobachten. Valentin versuchte dabei immer wieder, ihren Blick zu erhaschen, um mit ihr Kontakt aufzunehmen. Doch Trude wich ihm aus und richtete sich wieder auf den Weg aus. Sie spürte den Blick ihres Mannes in ihrem Rücken.

Trude hatte es ausgeblendet, doch sie anerkannte: Valentin war ein attraktiver Mann mit seinen ebenmäßigen Zügen. Seine Haut war makellos wie eh und je. Er würde mit Leichtigkeit eine neue Frau gewinnen. Dieser Gedanke versetzte Trude einen eifersüchtigen Stich. Würde sie ihn einfach so an eine andere loslassen können?

Abgesehen von ein paar einzelnen grauen Haaren im dichten Braun hatte sich Valentin äußerlich nicht verändert. Ob und was die Wochen ohne seine Familie in seinem Inneren für Spuren hinterlassen hatten, war mit bloßem Auge nicht erkennbar. Trotz Furcht vor dem nächsten und übernächsten Schritt, dem Gespräch unter vier Augen und der unweigerlichen intimen Annäherung wurde Trude neugierig, wie es ihm ergangen war.

Es stimmte Trude milde, den Vater mit den Kindern herumalbern zu sehen, im gestandenen Mann den kleinen Jungen zu finden, der sich im Spiel vergaß. Wie sie auf dem Kutschbock ihre drei Männer in ihrem Rücken beim Schwatzen belauschte, musste sie unverhofft lächeln. Mit einem Mal wurde es ihr leichter ums Herz. Irgendwie würden sie es hinkriegen. Sie anerkannte seine Größe, wie er aufrichtig an den Räubergeschichten der Jungen Anteil nahm und ihnen ungeniert seinen Vaterstolz und seine Liebe bezeugte. Es ebnete einen gangbaren Weg zwischen ihm und ihr, wo sie vorher nur Dickicht und Abgründe gesehen hatte.

Nach dem Abendessen rückte der Moment unausweichlich näher. Olga brachte die Buben ins Bett. Valentin fasste seine Frau am Arm und führte sie ins Freie. Damit wollte er verhindern, dass sie ihm erneut auswich. Doch sie wusste ja selber, dass ein weiteres Hinauszögern keinen Sinn ergab. Nach dem heißen Sommertag strahlte die Erde immer noch Wärme ab und ein angenehmer Abendwind zog auf.

Sie zogen einfach aufs Geratewohl los. Schweigend. Valentin hatte schon immer ein sicheres Gespür für die Stimmungen seiner Mitmenschen, für den richtigen Zeitpunkt. Es war ihm nicht entgangen, dass Trude ihn den ganzen Tag auf Abstand gehalten hatte. Er signalisierte ihr mit seinem Schweigen, dass er seiner Frau den ersten Schritt überließ.

Trude hatte von anderen Frauen gehört, wie deren Ehemänner die eheliche Pflicht einforderten. Es war gang und gäbe, dass die Angetraute als Eigentum eines Gatten betrachtet wurde. Somit durfte ein Mann zu jeder Tages- und Nachtzeit über sie und ihren Körper verfügen. Ungeachtet, ob die Frau selber Lust empfand, in guter Verfassung, schwanger oder gar krank war. Trude wusste, Valentin hätte sie auf der Stelle irgendwo im Gehölz oder auf dem freien Feld vergewaltigen können, ohne dass er zu Rechenschaft gezogen worden wäre. Dazu gab ihm nicht nur die Tradition des Patriarchats, sondern auch die Kirche den Segen.

Aber er tat es nicht.

Sie schritten, jeder in sich versunken, die Gedanken ordnend, nebeneinander her. Sie berührten sich nicht einmal an den Händen. Von Weitem betrachtet bummelten zwei Menschen wort- und ziellos nebeneinander durch die Gegend.

Jeder spürte das Ringen des andern. Jeder versuchte zu ergründen, was sie voneinander trennte, wie die Lücke zu schließen war. Weder Valentin noch Trude fanden den richtigen Einstieg ins Gespräch. Jedes falsche Wort wäre ein Wort zu viel gewesen. Und darum war Schweigen die bessere Wahl. Augenscheinlich passierte nichts, rein gar nichts. Und doch genau darin geschah das Wesentliche. Im Abwarten, im Aushalten, im Nichts-erzwingen-Wollen, indem sie sich mit gut gemeinten, aber falschen Gesten und Worten verschonten, in dieser Aussparung wurde der Keim spürbar. Da war es wieder! Das vertraute Behagen. Wie wohl es Trude fühlen konnte in seiner Gegenwart, wenn der Druck wegfiel! Valentins unaufdringliche Anwesenheit ließ sie gänzlich entspannen.

Und plötzlich begriff Trude in aller Klarheit: Sie hatten für ihre Ehe viel zu wenig Sorge getragen. Sie war ein zarter, hoffnungsvoller Trieb, der in sich das Versprechen eines prächtigen Baumes trug. In den ersten Monaten hatten die Frischverliebten die Pflanze genährt und versorgt. Doch eines Tages hatten sie ihr keine Beachtung mehr geschenkt. Allem anderen hatten sie Aufmerksamkeit gegeben: den Kindern, Valentins Arbeit, der Bewältigung von Kälte und Alltag. Doch ihnen als Paar, dem Stamm der Familie, hatten sie nicht die gebührende Wichtigkeit eingeräumt. Und alles war aus dem Lot gekommen. Mit dieser Einsicht übermannte Trude der dringende Wunsch, ihren Mann ganz zurückzugewinnen, nicht nur den physisch anwesenden Mann neben sich. Sie hielt abrupt im Gehen inne und wandte sich ihm zu. Erst zögerte sie einen Augenblick, suchte sein Einverständnis in den Augen. Dann schlossen sie sich in die Arme. Der Bann war gebrochen. Eine Welle von Erleichterung, Liebe und Dankbarkeit spülte über sie hinweg. Wie zwei Gestrandete nach einem Schiffbruch hielten sie sich aneinander fest, als wollten sie sich nie mehr loslassen.

Dem Juliabend folgten sorglose Sommertage in Tartu. Es wurde der erste Familienurlaub. Sie machten Ausflüge, badeten im See und Valentin zeigte Juri das Angeln. Bei der Getreideernte packten alle mit an. Und des Abends wurde an Olgas langer Tafel verspeist, was Hof und Garten abwarfen. Valentin und Trude hatten die Sprache wieder gefunden. In langen Gesprächen erörterten sie, wie es dazu gekommen war, wie die Umstände in Leningrad ihre Kräfte geraubt hatten und wie sie es nicht mehr so weit kommen lassen wollten. Das Paar legte seine Wünsche und Lebenspläne auf den Tisch.

Trudes Körper strotzte dank regelmäßiger, körperlicher Arbeit in freier Natur und gesunder Ernährung vor Vitalität. Es war wieder ein Leichtes, sich ihrem Liebsten zu öffnen und hinzugeben. Sie freute sich an der Wiederentdeckung, dass Brüste und Schoß noch anderes vermochten, als Kinder zu gebären und zu stillen. Nicht nur die schwülen Sommertemperaturen brachten das Paar zum Schwitzen.

Nach drei Wochen kehrte Valentin in die Stadt zurück. Trude folgte ihm mit den Buben im September voller Zuversicht. Die Familie bezog eine geräumigere Wohnung und sie stellten eine Hilfe ein, die Trude im Haushalt und der Kinderbetreuung zur Hand gehen sollte. Dies ermöglichte ihr, ohne Kinder aus dem Haus zu gehen, Arbeit zu suchen und Freundschaften zu knüpfen, was ihrem Gemüt zugutekommen sollte.

Im Oktober 1933 trat die zwanzigjährige Marija bei der Familie in den Dienst. Sie bezog das kleine Gästezimmer. Marija war eine Perle! Sergeij himmelte die junge Frau an und sie wurde den Kindern eine geliebte große Spielkameradin. Trude gewann in Marija eine unbekümmerte Gesprächspartnerin. Die alltäglichen Verrichtungen erledigten sich in ihrer angenehmen Gesellschaft wie fast von selbst. Was Trude auf Olgas Hof schätzte, stets einen Gesprächspartner zu haben, hatte sie nun auch in der Stadtwohnung. Sie erkannte, dass sie den Austausch mit anderen Erwachsenen brauchte. Trude war nicht dazu geschaffen, alleine zu sein.

Den Eltern kam Marija am meisten zugute. Die Kinder in ihrer guten Obhut wissend, konnten sie unbekümmert ausgehen. Sie gingen ins Theater oder zu Kinovorführungen, die als neue technische Errungenschaft besonders aufregend und gefeiert waren. Endlich konnte Trude Valentin auf seine Geschäftsessen begleiten. Daraus erfolgte auch für sie immer mehr Zutritt zu interessanten Kreisen. Es gefiel Trude, sich schön zu kleiden, sich zu pflegen. Sie entdeckte wieder ihre kindliche Freude am Tanzen. Wenn sich das Paar ins Schlafzimmer zurückzog, sich vergaß und etwas lauter herumalberte, als es sich schickte, ließ sich Marija am nächsten Tag nichts anmerken.

Mit Doktor Medwedew und seiner Frau entwickelte sich allmählich eine herzliche Freundschaft. Medwedew besaß einen köstlichen Humor. Er schaffte es, die Menschen mit seinen Episoden aus der Arztpraxis und von seinen Reisen abendfüllend zu unterhalten. Rita Katarina Medwedew wirkte auf den ersten Eindruck schüchtern, doch half ihr ein Gläschen Champagner stets auf die Sprünge. Sie stand ihrem Mann in Sachen Wissen, Kultur und Witz in nichts nach. Es war ein Vergnügen, mit den beiden auszugehen.

Das Familienleben fügte sich in die Rhythmen der Jahreszeiten ein. Die Winter verbrachte die Familie in der Stadt. Von Juni bis September lebte sie auf dem Land. Die drei Wochen, die Valentin jeweils mit Trude und den Buben auf Olgas Gut verbrachte, waren ein Glückskonzentrat. Jedes Jahr erneuerten Trude und Valentin ihr Eheversprechen.

Rita Medwedews Beziehungen und ihren Sprachkenntnissen verdankte sie, dass sie im Januar 1934 an erste Übersetzungsaufträge kam. Zu Beginn übersetzte sie einfache Korrespondenz für kleinere Exportunternehmen vom Russischen ins Deutsche und umgekehrt. Die Auftraggeber waren zufrieden mit ihrer Arbeit und sie wurde weiterempfohlen. Bald hatte Trude einen festen Kundenstamm. In der Folge wurde sie zu Essen und Vertragsabschlüssen mit deutschen Geschäftspartnern zugezogen. Und es ergaben sich gelegentliche Aufträge vom Militär.

Trude liebte ihre Arbeit. Es war die Ausgewogenheit zwischen stiller Schreibarbeit und regem Menschenkontakt, die sie so spannend machte. In der Auseinandersetzung mit den Sprachen lernte Trude, die Zusammenhänge zwischen Kultur, Geschichte und Sprachentwicklung zu verstehen. Sie machte sich ein Spiel daraus, hinter der Sprache den Geist eines Landes zu erforschen. Die deutsche Grammatik war in ihren Augen ein Gerüst aus Struktur und Disziplin. In ihr findet der Deutsche Klarheit. Trude erinnerte sich an Vaters breites und gemächliches Berner Schweizerdeutsch. Wenn er sprach, klang seine Stimme weich und wohlklingend. In Gedanken reiste Trude in die ferne Schweiz und sie stellte sich die Heimat ihrer Eltern mit lieblichen, hügeligen Landschaften und die Menschen als gemütliche Zeitgenossen vor. Bei Estnisch schwang immer etwas Humorvolles mit, als hätten die Trolle unter der Erde die Sprache erfunden. Und im Russischen schwangen die Schwermut, Poesie und die unergründliche Weite des Landes mit. Es bereitete Trude Freude, mit den Bausteinen der Sprachen zu spielen.

Ein ebensolches Vergnügen war es für Trude, sich in Männerrunden zu bewegen. Sie wurde in ihrer geistigen und sprachlichen Kompetenz geachtet und war nicht zur Dekoration reduziert, wie andere Damen der Gesellschaft. Der Status als verheiratete Frau und Mutter verlieh ihr bei den Herren eine gewisse Unantastbarkeit. Es kam nur einmal vor, dass ein hanseatischer Geschäftsmann nach mehreren Gläsern seinen Anstand vergaß und sie mit aufs Hotelzimmer bat.

Die Kinder wohl versorgt zu wissen, war es ein Einfaches, das Haus zu verlassen und nach getaner Arbeit wieder heimzukehren. Trude war geistig ausgeglichen und erfüllt. Hausarbeit und Kindererziehung gingen ihr nun leicht von der Hand, weil sie zufrieden und vor allem ausgeschlafen war. Es war wirklich ein Privileg, Marija in der Familie zu haben. Für Trude, sie als helfende Hand und mitdenkende Person im Haus zu haben. Für Marija war es ein Glück, weil sie mit dem Einkommen ihre Eltern und die sieben jüngeren Geschwister unterstützen konnte.

Die folgenden Jahre flossen dahin wie ein ruhiger Strom. Auch Philips Geburt im April 1935 brachte niemanden mehr aus der Ruhe. Der Säugling reihte sich reibungslos in die Kinderschar ein. Trude erholte sich schnell von Geburt und Wochenbett. Ihren Beruf übte sie weiter aus. Die Aufträge ließen sich gut mit dem Stillen koordinieren. Sergej hatte unter Marijas sanftem Einfluss seine Borstigkeit abgelegt und Vertrauen in seine Mitmenschen gewonnen. Mit dem Eintritt in Kindergarten und Schule bekamen die Großen einen neuen Rhythmus, dem sie sich mühelos anpassten. Und mit den neuen Spielkameraden wurde das Haus der Familie noch lebendiger.

Trudes Leben war rund. Bis 1938.

Trude

Подняться наверх