Читать книгу Trude - Rose Marie Gasser Rist - Страница 18

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1939 Die Rückkehr des Glücks

Anne kam am siebten Februar 1939 am frühen Morgen zur Welt. Sie schlüpfte einfach heraus, legte sich zur Familie ins gemachte Nest und sagte: „Hallo ich bin jetzt da!“ Eine Missionsschwester versorgte Mutter und Kind bei der Hausgeburt. Valentin wollte unbedingt der Ankunft seines vierten Kindes beiwohnen. Rohheit und Schönheit des Aktes übermannten ihn. Er weinte hemmungslos, als er die winzige Schwester den Brüdern, die aufgewühlt an der Schlafzimmertür gelauscht hatten, vorführte. Alle waren vom Fleck weg in das Mädchen vernarrt, hübsch, wie sie war. Nach drei kleinen Kerlen, Trude konnte es nicht leugnen, war sie überglücklich, eine Tochter geschenkt bekommen zu haben. Sie hätte ihr Mädchen gerne Esmeralda genannt, doch bei der demokratischen Abstimmung setzte sich Valentins Vorschlag Anne durch. Den Buben lag Esmeralda zu sperrig im Mund. Und schon am zweiten Tag kam Trude wie von selbst ein zärtliches Annie über die Lippen, wenn sie ihre Tochter liebkoste.

Marijas Antwort traf wenige Tage nach Annes Geburt ein.

„Liebe Trude, liebe Familie!

Euer Angebot freut und ehrt mich. So gern ich folgen würde, ist es mir unmöglich, aus Russland auszureisen. Alles ist unübersichtlich und chaotisch geworden. Wir müssen Beamte bestechen, um an Nahrungsmittelmarken zu kommen. Unser Geld ist kaum noch etwas wert. Die Zeitungen schaukeln sich im Kriegsgerassel hoch. Es ist schwierig, Propaganda von der Wahrheit zu unterscheiden. Es liegt in der Luft, man sieht es an den Gesichtern der Menschen: In Europa bahnt sich Ungutes an!

Ich beglückwünsche euch, dass ihr es noch rechtzeitig geschafft habt, aufzubrechen. Es gibt kaum noch zivile Passagierschiffe. Die meisten Ozeanriesen wurden in der allgemeinen Mobilmachung zu Kriegsschiffen umgerüstet. Die Preise für die wenigen Fahrkarten sind ins Unermessliche gestiegen und sind unerschwinglich geworden. Bitte schickt kein Geld! Es würde nie bei mir ankommen.

Ist das Kleine schon geboren? Alle Glücks- und Segenswünsche für Mutter und Kind! Ich wünsche mir so sehr, euch irgendwann wiederzusehen und das Kleine einmal im Leben kennenzulernen!

In Liebe, Marija“

Trude spürte zwischen den Zeilen die leise Angst und das klamme Bedauern, dass Marija nicht mit ihnen übersiedelt war, deutlich heraus. Sie machte sich Sorgen: „Was wird wohl aus Olga, Marija und den Medwedews werden?“

Trude und Valentin verfolgten die Entwicklungen in Europa mit Sorge. Hitler, Stalin, die Alliierten – die Namen waren in aller Munde. Die Wochenschau im Freiluftkino von Darwin wurde jeden Freitag zum Magneten. Jeder Platz, jede Treppenstufe war belegt. Es gab zeitlich getrennte Vorführungen für Weiße und Schwarze. Jeder Einwanderer, der abkömmlich war, kam. Jeder hatte Wurzeln irgendwo in Europa. Als Schicksalsgemeinschaft vereint, starrten sie auf die große Leinwand und verfolgten die Spaltung Europas, Hitlers Propagandareden, die Rotoren der startbereiten Flugzeuge, Militärparaden und siegessichere Männergesichter.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Trude nicht um Kontakte in Darwin bemüht und kaum am öffentlichen Leben teilgenommen. Körperlich anwesend reiste sie oft in Gedanken zurück. Sie malte sich Kaffeekränzchen mit Rita Medwedew aus. Sich Olgas Lachen zu vergegenwärtigen, richtete Trude auf. Mit dem sich anbahnenden Unheil in Europa wurde es endgültig: Es gab keine Umkehr mehr. Der Krieg zog einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit. Australien war nun die neue Heimat der Familie. Der Kontinent lag fernab der alten Welt. Der Krieg würde sie physisch nie treffen. Trude dämmerte, welch Glück sie hatten, und sie war dankbar, mit den Kindern in Sicherheit zu sein.

Mit Marijas Brief knallte die Hintertür, die Trude sich insgeheim offen gehalten hatte, für immer zu. Es war besiegelt, es gab kein Zurück und Trude wurde gezwungen, den Blick nach vorn zu richten. Sie begann, sich endlich in die klimatischen Bedingungen zu schicken und ihr Herz für die neue Heimat zu öffnen.

Von dem Moment an wurde alles einfacher.

Annie war ein Geschenk. Juri und Serge besuchten morgens die Schule, die von christlichen Missionaren gegründet worden war. Der Lehrer war ein katholischer Priester italienischer Abstammung. Pater Angelo war sowohl bei Kindern wie auch Eltern sehr beliebt. Er war ein blutjunger frommer Mann. Das Charmanteste an ihm war, dass er sich selbst nicht bewusst war, welch Adonis er war. So sagten manche hinter vorgehaltener Hand, es sei eine Verschwendung, diese Schönheit alleine Gott zu überlassen. Jungs und Mädchen liebten ihn, weil er spannende Geschichten erzählen konnte. Die Mütter vergötterten ihn und widmeten ihm nachts ihre Träume. Pater Angelo war es auch, der das jüngste Kind der Familie in einer schlichten Feier auf Anne Esmeralda segnete, doch weder die Eltern noch die Brüder riefen sie je bei ihrem Taufnamen.

Die Buben legten sich ins Zeug mit der Sprache. Spielend leicht lernten die Naturtalente Englisch. Es war für sie von Bedeutung, die anderen Kinder zu verstehen. Sie verbrachten jede freie Minute mit ihren Spielkameraden. Darwin war für sie ein Eldorado. Es war ein Vergnügen, barfuß auf den Straßen aus planierter Erde herumzutollen. Sie waren glücklich, der europäischen Etikette, die ihren Bewegungsdrang stets eingezwängt hatte, entkommen zu sein. Für sie war Australien die Steigerung der glücklichen Sommermonate auf Olgas Hof. Denn jetzt war es ein Dauerzustand.

Valentin nannte seinen zweiten Sohn Sergej. Der Vater wollte die russische Anrede unbedingt bewahren. In seinen Ohren tönte es männlich, stolz und passend für einen heranwachsenden Jungen. Trude nannte ihn weiterhin Serge mit französischer Aussprache, sie pflegte immer noch dieselben zärtlichen Muttergefühle für den tollpatschigen Jungen. Seine neuen Freunde riefen ihn: Sartsch, weil keiner seinen russischen Namen aussprechen konnte. So kam es, dass er im Spiel oft die Rolle des Seargents, des Polizisten oder Militärchefs bekam. Als ewiger Zweiter in der Geburtsreihe fand er es toll, von den Spielkameraden den Boss zugeteilt zu bekommen. Denn zu Hause blieb Juri der Thronfolger.

Trude lernte mit den Buben die wichtigsten englischen Ausdrücke, viel Nützliches über Darwin und das Buschland vom Northern Territory. Sie schwatzten durcheinander, wenn sie vom Unterricht nach Hause stürmten und sich an den Mittagstisch setzten. Die Mutter ließ sich anstecken.

Nach der Regenzeit machte sich Trude auf Entdeckungsrundgänge. Mit Annie im Kinderwagen und Philip an der Hand streifte sie durch Darwin. Juri und Sergej begleiteten sie, wenn sie grad Lust dazu hatten und keine Murmelmeisterschaft zu bestreiten hatten oder nicht auf imaginärer Kängurujagd waren mit ihren Freunden. Im Meer zu baden war wegen der Krokodile und Quallen unmöglich. Trude lernte auch, dass Mangrovenbuchten wegen der gefährlichen Reptilien zu vermeiden waren.

Sie liebte es, an der Esplanade und im Botanischen Garten spazieren zu gehen. An sicheren Strandabschnitten zog sie die Schuhe aus und ließ ihre Zehen in den weichen Sand sinken. Im Schatten ausladender Pandanabäume setzte sie sich zum Ausruhen in den warmen Sand, während die Kinder herumalberten und Sandburgen bauten. Nach und nach bekam sie einen Blick für die Schönheit der Gegend. Sie konnte sich kaum sattsehen an den leuchtenden Farben. Insbesondere hatte es ihr das leuchtende Türkis des Meeres angetan, das ihre Seele nährte und nach und nach die Sehnsucht nach der alten Heimat verblassen ließ.

Am liebsten flanierte Trude auf der langen Pier auf und ab. Ihr gefiel die solide Holzkonstruktion, die die stolzen Schiffe, die im Hafen vor Anker lagen, vor der offenen See schützte. Wenige Gehminuten entfernt lag Petrowitschs Werft. Der Höhepunkt des Ausflugs bestand jeweils darin, zu fünft Valentins Büro zu stürmen. Trude und die Kinder fanden ihn über seine Pläne gebeugt. Die Jungs stürzten sich mit Gebrüll auf ihn und rissen ihn aus der Konzentration.

Es wurde zu einem lieb gewordenen Brauch: Im ersten Moment setzte er eine verärgerte Miene auf, nahm einen Sohn in die Zange und hob zum Schein den Arm, um ihm den Hintern zu versohlen. Die andern kamen dem Bruder zu Hilfe, zwangen den Vater zu dritt zu Boden. Dieser bettelte um Gnade und bestach die Bande mit Süßigkeiten, die er zufälligerweise immer im Hosensack hatte. Trude verabschiedete sich bei Valentin mit einem Kuss, er kniff ihr als Antwort in den Hintern. Valentin blickte seiner Familie stolz nach, wie sie aus seinem Büro entschwand, und genoss es, wenn wieder Ruhe einkehrte.

Trudes seelisches Ankommen belebte auch die Eheleute wieder. Valentin und Trude fanden nach der Zerreißprobe wieder zueinander. Rückblickend erkannten sie, dass die Schwierigkeit darin lag, dass ihre Kräfte in verschiedene Richtungen zogen. Valentin wollte nach vorn und Trude zurück. In dieser Spannung hatten sie sich streckenweise verloren. Mit Trudes „Ja“ zu Australien hatten sie wieder dasselbe Ziel, nämlich, in diesem Land Fuß zu fassen. Wie jede andere überstandene Krise vorher, festigte auch diese das Fundament ihrer Ehe noch mehr.

Nach zehn Jahren Ehe fielen sie nicht mehr übereinander her. Nach vier Schwangerschaften und unendlich vielen ruhelosen Nächten ist erholsamer Schlaf längst kostbarer als Liebesleben. In diesem Einverständnis legten sie sich zueinander ins Bett, hielten sich die Hand und ließen den Tag zur Ruhe kommen. Mit einem Kuss wünschten sie sich eine gute Nacht. Es war kein außergewöhnlicher Tag, es war nichts vorgefallen, das sich besonders eingeprägt hatte. Trude konnte nicht einmal mehr sagen, wann es genau war. Sie trug ihr hellblaues Trägerhemdchen. Valentin zog es vor, am Oberkörper nackt und in kurzen Shorts zu schlafen. Das Bild von diesem einen Abend, wie Valentin und sie nebeneinander im Bett lagen in Vertrautheit und Zärtlichkeit, was im simplen Händchenhalten zum Ausdruck kam, brannte sich fest in ihre Erinnerung. In dieser simplen Geste lag ihr Glück, in Valentin einen treuen Gefährten und Freund zu haben. Seit ihrer Hochzeit hatte er ihre Hand nie losgelassen und war an ihrer Seite geblieben. Dies erfüllte sie mit unendlicher Dankbarkeit.

Trude

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