Читать книгу Trude - Rose Marie Gasser Rist - Страница 8
Оглавление1908 Karge Kindheit
Das Neugeborene zitterte zwischen den Schenkeln seiner Mutter, seine Nabelschnur pulsierte noch. Seine Haut schimmerte bläulich-rosa unter der Käseschmiere und machte die Verletzlichkeit des jungen Lebens im Kontrast zu dem grellen Rot, auf dem es lag, deutlich. Die Laken, in denen Mutter und Kind gebettet waren, waren von Blut durchtränkt. Als der Säugling seinen ersten Atemzug nahm, hauchte die entkräftete Mutter ihren letzten aus. Trudes Patenonkel war der Tod. Von der ersten Lebensminute an machte er deutlich, dass er nicht von der Seite des Mädchens weichen würde.
Mutter Marthe konnte das ersehnte Mädchen nicht in die Arme nehmen, es nicht mit nährender Wärme in der Welt willkommen heißen. Es war nicht Trudes Schuld, dass die Mutter unter der Geburt verblutete. Vielmehr war es die Erschöpfung, vielleicht sogar eine Erlösung nach einer Dekade Dauerschwangerschaft, die die ergebene Gattin dahinraffte. Seit der Vermählung hatte sie in regelmäßigen Abständen sechs Söhne zur Welt gebracht. Eine Tante, eine Patin, eine ältere Schwester hätte vielleicht Trudes Ankommen sanfter betten können. Eine Frau auf dem Hof hätte vielleicht die folgenden Jahre mit etwas Fürsorge milder gestalten können. Doch es war, wie es war: Das schutzlose Trudekind betrat eine männliche, herbe Wirklichkeit.
Marthes Tod versteinerte Vater Heinrich. Sieben Kinder verloren ihre Mutter und mit einem Schlag auch die Zuwendung ihres Vaters. Mit dem Verlust der Lebensgefährtin und Arbeitskraft schwand Heinrichs Lebensfreude. Sein Gram überlagerte alles. Für die Trauer seiner Söhne, die ihre Mutter ebenso schmerzlich vermissten, und das Vakuum, in das seine Tochter hineingeboren wurde, war er blind. Er flüchtete vor dem Trauerbrand im Herzen und wurde ein missionarischer Kirchgänger.
Trude wuchs in einem Männerhaushalt auf. An Essen und Kleidung mangelte es nie. Vater Heinrich war ein tüchtiger Mann. Er konnte mit dem Käsereibetrieb für die Familie aufkommen und manchmal beschäftigte er Wandergesellen. Den Haushalt organisierte er militärisch diszipliniert und leitete die Kinder zu Reinlichkeit und Disziplin an. Je älter das Mädchen wurde, desto mehr musste es mithelfen. Und als heranwachsende junge Frau fand sie sich für die Männer kochend, putzend und Wäsche versorgend wieder, während die Brüder mehr und mehr einem Erwerb nachgingen.
Es war in Fels gemeißelt, dass Trude als Frau nie einen eigenen Beruf erlernen, geschweige denn einem Studium nachgehen würde. Es war vorausbestimmt, dass ihr Vater Trude, sobald sie alt genug wäre, einem Burschen aus der Täufergemeinde zur Gattin überlassen würde. Sie würde dessen Kinder großziehen, ihm den Haushalt führen und bis ans Lebensende von seiner Gunst und Existenz abhängig sein. Dafür reichten Grundschule und Kirchgang am Sonntag vollends aus.
In der Kirchenbank fand Trude Abwechslung zum grauen Dasein. Wenn die Gemeinde sang und sie mitten im mehrstimmigen Klangbad saß, schloss sie die Augen und war für wenige Augenblicke glücklich. Im Schmelztiegel des Gesangs gab es keine Moral, keine Schuld, keine Last – nur Wohlklang und Verbundenheit. Unterricht und Kirchgang schenkten ihr Bildung und Seelennahrung, wenn auch nicht befriedigende Antworten auf ihre Fragen. Trude taumelte durch ihre Kindheit wie eine Außerirdische. Zu Tisch wurde geschwiegen, aus der Bibel zitiert oder über die Arbeit der jungen Männer gesprochen. Das Wohl des Mädchens stand nie im Mittelpunkt des Interesses. Sie war als kleines Kind ein geduldeter Schatten und als Heranwachsende eine willkommene Dienstmagd.
Sie nahm ihr Schicksal an, verrichtete die aufgetragenen Aufgaben, ohne aufzubegehren, doch in ihrem Kopf stritten widerspenstige Gedanken. Die Schuld an Mutters Tod hatte sie nie angezweifelt. Doch warum konnte sie den Gott, den der Pfarrer lobpreiste, nicht spüren? Innen und Außen standen in ständigem Widerstreit. Sie tat, was von ihr erwartet wurde, während etwas, wofür sie keinen Namen hatte, rebellierte. Trude spürte in ihrem Herzen ein aufblitzendes Feuer, eine Sehnsucht, die, sobald sie versehentlich nach außen entschlüpfte, an der Eiseskälte erstarb. Es mangelte ihr an lieben Worten und Zuwendung, auch wenn sie das nicht ausdrücken konnte. Sie spürte Vaters seelische Not sehr wohl und wollte ihn nicht durch Aufbegehren in Zorn versetzen. Trude war der Männergesellschaft und der baptistischen Gemeinde auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie hatte keine Macht, irgendetwas zu ändern.
Die Brüder waren nicht gemein zu Trude. Sie teilten sich die Hänseleien gegenseitig aus, wenn der Vater nicht zugegen war, ließen die kleine Schwester aber in Ruhe. Alle Kinder teilten sich ein Schlaflager in einer Kammer oberhalb der Wohnstube. Um zu ihr zu gelangen, musste man eine schmale Stiege zum Giebelzimmer hochklettern. Trude gelang es erst mit sieben Jahren, die schwere Falltür nach oben aufzudrücken und war auf die Hilfe einer der Brüder angewiesen. Ein schlichter Holzrahmen war auf den groben Riemenboden genagelt und diente als Umrandung für Schlafplätze. Der Ordnung halber, teilten sich die Kinder nach dem Alter das Lager. Der älteste Bruder schlief an der Außenwand der Kammer. Trudes Platz war am anderen Ende neben der Falltür.
Einmal im Jahr nach der Ernte wurde ein Fuder frisches Stroh eingestreut und die Flachstücher wurden ausgewechselt. In den ersten Nächten, wenn die Schlafstatt nach gesundem Getreide roch und die Unterlage wieder dick genug war, um nicht auf den blanken Boden abzusacken, lag eine feierliche Stimmung in der Kammer. Überschwänglich Freude zu zeigen, war keinem der Burschen gegeben. Aber Trude spürte, dass ihre Brüder das aufgefrischte Nachtlager als willkommenen Unterschied schätzten. Im Winter, wenn Eisblumen die Luke bedeckten, rückten die Kinder enger zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen.
Das Mädchen lag manchmal lange wach, während ihre Geschwister schon längst selig träumten. Trude lauschte den tiefen Atemzügen, versuchte die Laute den Brüdern zuzuordnen. Manchmal lullte sie diese selbst auferlegte Aufgabe ein, doch oft gelang das Einschlafen nicht auf Anhieb und Trude ging in ihren Gedanken auf Wanderschaft. Es war die einzige Zeit des Tages, die ihr alleine gehörte, in der sie sich eine schöne, heile Welt erschaffen konnte. In den endlosen Nächten erkannte sie bereits als kleines Mädchen, dass einige Gedanken zuträglicher waren als andere. Es tat ihrem Gemüt nicht gut, wenn sie sich die Annahme erlaubte, vom Leben vergessen worden zu sein. Danach fühlte sie sich tagelang niedergeschlagen. Sie spornte sich an, sich schöne Dinge auszudenken. Manchmal faltete sie die Hände und sprach in die Schwärze der Kammer zu dem Gott ihres Vaters.
„Lieber Gott im Himmel. Vater hat mich heute nicht gescholten. Dann ist es ein guter Tag. Kannst du mir bitte helfen, dass er nicht immer so finster dreinschaut? Manchmal stelle ich mir vor, dass er eine neue Frau findet. Alle Männer in der Kirche haben eine Frau. Die sehen glücklicher aus. Ich stelle mir vor, wie er dann in seinen Holzpantoffeln über den Hof zum Stall schlurft und ihr zum Küchenfenster zuwinkt und lächelt. Und wenn Vater lächelt, sind auch die Brüder fröhlicher. Wenn ich daran denke, hüpft mein Herz.“
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Mit dem Ersten Weltkrieg streiften Turbulenzen den Hof. Heinrich war als Exilschweizer von der Wehrpflicht befreit, stand jedoch in der Pflicht, mit der Käserei zur Versorgung der Bevölkerung und Armee beizutragen. Zwischen 1914 und 1920 war Estland von wechselnden Herrschern besetzt. Die Menschen waren angehalten, die jeweilige Sprache der Machthaber zu sprechen. Trude wuchs mit Berndeutsch und Deutsch auf. Mit der Okkupation des Hofes durch sowjetische Truppen lernte sie Russisch. Bei der Befreiung durch die estnischen Widerstreiter 1920 – mit dem Frieden von Dorpat – wurde Estnisch Alltagssprache. So hatte der Krieg für Trudes persönliche Belange eine positive Begleiterscheinung: Sie lernte schnell und konnte sich flink in den Sprachen ausdrücken.
Über die Kriegsjahre quartierte sich jeweils die Kavallerie der Vorherrscher auf dem Hof ein. Die Pferde und Soldaten brachten Leben aufs Gehöft, ihnen hing aber auch Kampfgeruch an. Die Reiter scharten sich um die Feuer und sangen von Ehre und Heimat. Trude gingen die Gesänge durch Mark und Bein. In ihrer kindlichen Unschuld wusste sie nicht, was auf den Schlachtfeldern passierte. Doch mit den Liedern bekam sie eine Ahnung vom Heldentum, von Heimweh und der nackten Angst vor dem Feind und dem Tod. Trude fürchtete die Soldaten ebenso wie sie deren Kameradschaft und Geselligkeit bestaunte. Diese Männer strotzten vor Lebenslust.
Manchmal schlich Trude nach dem Abendessen hinaus mit dem Vorwand, am Brunnen Wasser zu holen, huschte zu den lärmenden Kameraden, versteckte sich hinter einem Fass oder Wagenrad und lauschte den Erzählungen. Die Soldaten schwärmten von ihrer Heimat, von gewonnenen Schlachten und wilden Liebschaften. Trude nahm die Geschichten mit und wenn sie nachts auf ihrem Lager lag, ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf.
„Was gäbe ich darum, ein Mann zu sein! Nicht um des Kriegstaumels willen, sondern um die Welt zu sehen. Ich würde mir ein Pferd satteln, Proviant in ein Bündel packen, auf und davon Richtung Meer reiten!“