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1938 Rote Erde

Das Schiff, auf dem die Familie übersiedelte, hieß Minerva. Für die Kinder war es ein spektakuläres Abenteuer. Die Reise war kurzweilig und verlief zum Glück ohne Zwischenfälle. Ende November 1938 fuhren Trude, Valentin und ihre Kinder in Darwins Hafen ein.

Valentin ging als Erster von Bord und schritt zügig über den hölzernen Landesteg. Als er den ersten Fuß auf australischen Boden gesetzt hatte, bückte er sich, griff mit beiden Händen in die rote Erde und ließ sie bedeutungsvoll durch die Finger rinnen. Dann richtete er sich auf, drückte die Schulter durch und rückte seinen Strohhut zurecht. Mit beiden Händen bürstete sich Valentin unsichtbaren Staub von den Schultern. Als würde er Europa und damit alle alten Konventionen abwischen. Als wäre er ab jetzt ein freier Mann. Dann kehrte er noch einmal um, schickte sich an, seine hochschwangere Frau, die in der schwülen Hitze schwer atmete, über den Pier zu geleiten. Ihnen folgten drei wirbelnde Buben, die sich förmlich in das neue Abenteuer stürzten.

Valentin trat bereits eine Woche nach der Immigration seine Stelle bei Mikhail Petrowitsch an.

Petrowitsch war ein ungehobelter Kerl mit beeindruckenden Oberarmen. Als gelernter Schiffsbauer hatte er in den späten Zwanzigern als Seemann nach Australien angeheuert. Er trat laut und derb auf. Dadurch verschaffte er sich nicht Anerkennung, aber Respekt. Ihm entsprach Darwin, wie es anzufinden war – schwül, roh und unzivilisiert. Die Stadt war spärlich besiedelt. Es war das Revier für einen wilden Russen.

Petrowitsch war, als Trude und Valentin ihn kennenlernten, eine stadtbekannte Persönlichkeit. Er hatte sich vom Matrosen und Schiffsbauer zum Werftbesitzer hochgearbeitet. Zupacken konnte er und zuverlässig war er. Er konnte am Vorabend noch so betrunken in irgendeinem Bett landen, anderntags stand er pünktlich in seinem Betrieb. Petrowitsch war als Chef respektiert, jedoch mehr gefürchtet als beliebt. Als Vorgesetzter hatte er ein lautes Mundwerk, hatte ständig ein derbes Wort auf den Lippen. Selbst nach vielen Jahren war sein russischer Akzent immer noch unüberhörbar.

Man munkelte hinter vorgehaltener Hand, dass einige Mischlingskinder der Stadt seinem Schoß entsprungen seien. Laut durfte dies aber nie ausgesprochen werden, denn es war ja bei Gefängnisstrafe verboten, sich mit Aborigines einzulassen. An die Apartheid konnte sich Trude nie gewöhnen. Die Doppelmoral der Weißen war ihr zuwider. Trude musste zugeben, dass ihr die Ureinwohner zu Beginn Angst einflößten. Fremd und finster erschienen sie ihr mit ihrer Sprache und ihrem Auftreten. Trotzdem fand sie es unerträglich, wie die meisten Einwanderer über die Aborigines sprachen und sie behandelten. Als wären sie Vieh. Respektlos spotteten sie über die minderwertige Rasse, über Aussehen und Geruch der Schwarzen. Sie missbrauchten sie als billige Arbeitskräfte in Haus und Hof und hielten sie wie Sklaven. Die weißen Männer bedienten sich der schutzlosen Frauen. Trude musste die Bilder, die vor ihrem inneren Auge entstanden, vehement wegwischen. Sie wollte sich nicht vorstellen, was die geilen Säcke mit den eingeborenen Mädchen anstellten. Jedermann wusste um das Treiben, doch kein Gesetz schützte die indigenen Menschen. Setzten sich Aboriginesfrauen oder ihre Angehörigen zur Wehr, wurden sie wie wilde Tiere abgeknallt.

Mikhail Petrowitsch hatte Arbeit und er bezahlte gut und pünktlich. Petrowitsch kam die Anfrage von Medwedew wie gerufen, da ihm selbst das Know-how fehlte, anspruchsvolle Schiffe zu konstruieren. Er hatte ehrgeizige Pläne mit Valentin. Mit dessen Erfahrung und Talent wollte Petrowitsch aus seiner Fischkutterschreinerei eine lukrative Werft für Hochseeschiffe machen. Valentin krempelte die Arme hoch und machte sich an die Arbeit. Er liebte seinen Beruf und war sehr motiviert, Petrowitschs hochfliegende Ideen zu realisieren. Valentin war sich seines Wertes bewusst und sagte sich, dass, wenn er gute Arbeit verrichtete, Petrowitsch ihm bald aus der Hand fressen würde.

Trude kümmerte sich derweil um das Haus, das Petrowitsch in der Nähe des Hafens für die Familie gemietet hatte. Ihr neues Zuhause war ein einfacher Holzbau, der auf Pfosten einen Meter über dem Boden errichtet war. Eine überdachte Veranda entlang der Frontseite wurde zu einem beliebten Schattenplatz. Wie alle anderen Häuser hatte es ein Wellblechdach. Die breite Holztreppe erkoren die Buben zu ihrem Lieblingsort. Sie war Ausguck, Treffpunkt und Rampe für Sprung- und Spuckwettbewerbe in einem. Sie hatten drei Zimmer und eine Küche. Möbel aus der alten Wohnung, auf die unabkömmlichen Lieblingsstücke reduziert, waren mit dem Schiff verfrachtet worden. Das kunstvoll gedrechselte Handwerk passte überhaupt nicht zu den rohen Holzdielen, doch füllten die Möbel die Räume mit Vertrautheit. Trude hatte vorher nie auf Spitzendecken und Vorhänge Wert gelegt, doch hier klammerte sie sich an alles aus der alten Heimat. Fieberhaft versuchte sie, sich einen neuen Alltag einzurichten.

Das beißende Heimweh behielt sie für sich. Denn Valentin war begeistert von seinem neuen Leben. Wenn er zu den Mahlzeiten heimkam, sprang er mit Schwung die Treppen empor, riss die Tür auf, konnte es kaum erwarten, seine Lebensfreude mit seiner Familie zu teilen. Doch die gedrückte Stimmung, die ihm dort von seiner Frau entgegenschlug, bremste ihn aus. Bei Tisch streifte Trude sein vorwurfsvoller Blick. Er konnte es nicht begreifen, wie sie sich innerlich gegen die einzigartige Chance aufbäumte. Ein mächtiger Graben tat sich zwischen ihnen auf, was Trudes Kummer und Einsamkeit noch verstärkte

Valentin legte ihr nahe, eine Eingeborene als Haushaltshilfe einzustellen, wie alle anderen Siedler. Doch sie wollte nicht. Trude fürchtete sich zu sehr vor den Aborigines, als dass sie eine in ihre vier Wände lassen wollte. Sie würde es schon irgendwie schaffen. Trudes Erschöpfung in Leningrad steckte Valentin noch tief in den Knochen. Er befürchtete, dass seine Frau mit Ankunft des vierten Kindes wieder zusammenbrechen würde. Er drängte Trude: „Zier dich doch nicht so. Alle Zuwanderer stellen Eingeborene ein!“ Darüber stritten sie sich jeden Abend, bis Trude nach Russland schrieb und Marija bat, der Familie nach Australien zu folgen.

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Die feuchte Hitze machte Trude fertig. Die Regenzeit hatte wenige Tage nach der Ankunft eingesetzt und verwandelte die staubige Erde in eine rote Schlammsuppe. Trude erkannte jetzt den Sinn der Stützen, auf die die Häuser aufgebaut waren. Sie boten Schutz vor Tieren und dienten zur Luftzirkulation in der Hitze. Trude war froh, dass die intensiven Niederschläge, die zu Fluten anschwollen, nicht in den Wohnbereich flossen, sondern unter dem Haus durchströmten.

In den Tagen vor Weihnachten drapierte Trude Eukalyptuszweige statt eines Tannenbaums in einem Eimer und schmückte sie mit Papiergirlanden. Der Regen prasselte ununterbrochen auf das Wellblechdach. Die Dekoration war ein Versuch, weihnachtliche Stimmung herzustellen. Doch es erschien absurd, bei den tropischen Temperaturen und dem Lärm des Regens Leise rieselt der Schnee zu singen.

Es gelang über die Mission, Zutaten für die Lieblingsplätzchen der Kinder zu bekommen. Doch weder die noch die Weihnachtsgans vermochten es, die Familie am Heiligen Abend feierlich zu stimmen. Die Knaben in ihre schicken Feiertagsanzüge zu stecken, war ein Ding der Unmöglichkeit. Es war Hochsommer, heiß und schwül. Jedes Stück Stoff zu viel auf der Haut grenzte an Folter. Trude sah ein, dass die zugeknöpfte, europäische Mode hier nicht diente, und begann es den Bewohnern der Stadt gleichzutun und sich an saloppe Bekleidung zu gewöhnen.

Sechs Wochen nach der Immigration hatte sie sich jedoch immer noch nicht mit dem Schweißfilm auf der Haut abgefunden. Schwangerschaft und Luftfeuchtigkeit pressten alle Säfte aus ihrem Körper. Die Flüssigkeitsdepots verlangten umgehend Nachschub. Reinster Sisyphus. Trude schwitzte und tankte sofort Wasser nach. Sie fühlte sich wie ein rinnendes Sieb. Des Nachts fand sie keinen Schlaf. Die Temperatur sank nie unter fünfundzwanzig Grad. Die Moskitos fraßen Eltern und Kinder in den ersten Nächten fast auf. Sie schafften Moskitonetze für die Betten an, doch vor dem nervtötenden, bis in alle Gehirnwindungen dringenden Gesurre der Plagegeister schützten auch die Netze nicht.

Die Kinder und Valentin hatten keine Mühe. Für sie war Australien ein Abenteuer, in das sie sich vom Fleck weg mit Begeisterung stürzten. Kein Zögern beim Aufbruch aus Estland, kein Heimweh während der Überfahrt. Von Beschwerden mit der Umstellung auf die neuen tropischen Lebensumstände keine Spur. Valentin war der Motor, die treibende Kraft. Er glaubte unerschütterlich an ihre gute Zukunft. Mit Hilfe der Arbeitskollegen und dank seines Ehrgeizes eignete er sich schnell einen ansehnlichen Wortschatz in der neuen Sprache an. Die Jungen spürten sein Feuer und ließen sich von ihm anstecken und nicht von der Mutter dämpfen. Es machte die Sache leichter. Trude teilte die Begeisterung für das exotische Australien überhaupt nicht. Ihr jugendlicher Abenteuergeist war mit der zunehmenden Kinderschar erloschen. Sie war einfach froh, dass ihnen zum richtigen Zeitpunkt eine Lösung in den Schoß gefallen war. Es war unumstritten, dass Leningrad keine Perspektiven mehr für die Familie bot. Doch Trude hätte die näher liegende Lösung, Estland, vollauf genügt.

In ihrer vierten Schwangerschaft war sie so froh wie nie um einen Nistplatz. In dieser fremden Umgebung verlor sie alle Ambitionen, außer Haus arbeiten zu wollen. Sie freundete sich mit dem Gedanken an, dass Frauen Brüterinnen und Männer Pioniere sind. Trudes Fokus war, sich häuslich einzurichten, für den Säugling ein Nest zu bauen und Valentin und die Buben um sich zu scharen. Sie vermisste Marija und Olga schmerzlich. Wieder war Trude ohne Hilfe einer Schwesternschaft auf sich alleine gestellt, musste sich neu ausrichten, sich wieder mit Ungewissem auseinandersetzen. Wieder ausfindig machen, wo Milch und Brot zu beschaffen waren, wie mit Nachbarn umzugehen war. Sie musste ihren Alltag und die Sprache wieder neu erlernen und eine Brücke zu den Mitmenschen schlagen. Und dessen war sie müde. Australien war für sie wie eine Expedition zum Mond ohne Rückfahrkarte. Und so tat sie sich schwer. Hitze, Feuchtigkeit, das schüttere Holzhaus, die Furcht einflößenden Eingeborenen mit ihren finsteren Gesichtern machten ihr zu schaffen. Sie klammerte sich an alles, was in entferntester Form europäisch war. So auch an Weihnachtsbaum, Gans und Plätzchen.

Trude

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