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Tarngeschichten
ОглавлениеDie entscheidende Frage war nun, wie diese Vorarbeiten durchgeführt werden könnten, ohne das Misstrauen der Erdlinge zu erregen. In der Zukunftskommission, wo alle für den Planeten essenzielle Fragen debattiert wurden, war man sich schnell einig: Das Problem wäre nur mit Hilfe eingeschleuster Pseudo-Erdlinge zu lösen, die den wahren Zweck der Bauwerke verschleiern würden. Aber mit welcher Geschichte sollte man die tatsächliche Funktion der Betonmasten ummänteln?
Als Erstes meldete sich der Beauftragte für die innere Dynamik des kosmischen Geschehens zu Wort. Seinen Schädel, der wie bei allen Kadohanern kahl war, zierten blau schimmernde konzentrische Kreise. "Wie wäre es denn", fragte er, "wenn wir das Geheimnisvolle, Unfassbare der Bauwerke ganz offen aufgreifen würden? Wenn wir die Betonpfähle also zu Sakralbauten erklären würden?"
"Ich glaube kaum, dass das eine gute Idee wäre", entgegnete eine Kadohanerin, die selbst an der Erkundungsmission zur Erde teilgenommen hatte. In dem auf Kadohan üblichen bauschigen Gewand schien ihr zierlicher Körper fast zu versinken. "Erstens benötigen wir weit mehr Landepfähle, als es auf der Erde Sakralbauten gibt. Und zweitens hat unsere Erkundungsmission gerade ergeben, dass deren Bedeutung unter den Erdlingen insgesamt eher abnimmt. Zusätzliche Sakralbauten wären ihnen also nur schwer vermittelbar."
"Und wenn wir die Landepfähle als Wohntürme etikettieren?" überlegte einer, der als Mitglied des Bauteams in die Zukunftskommission berufen worden war. Tatenfroh blitzten seine brauenlosen Augen in die Runde.
"Das ist auch kein sehr realistisches Szenario", meinte die Expeditionsteilnehmerin. "Die Erdlinge wohnen entweder ganz für sich allein oder in Wohnblöcken, die sehr eng beieinanderstehen. Einzeln in der Landschaft stehende Wohntürme würden ihren Alltagsgewohnheiten zu sehr widersprechen. Und außerdem: Wie sollten wir denn dann die Rotorblätter erklären, die wir auf die Türme montieren wollen?"
"Genau!" stimmte ihr ein anderes Kommissionsmitglied zu. "Landepfähle als Wohntürme – das würde nicht funktionieren. Damit würden wir die Erdlinge ja sozusagen selbst an die Landestelle einladen. Dann bräuchten wir den ganzen Verschleierungsaufwand erst gar nicht zu betreiben!"
"Wir könnten den Erdlinge das Ganze doch auch als Stromerzeugungsprojekt verkaufen", regte schließlich einer an. "Energie scheint doch auch bei den Erdlingen eine knappe Ressource zu sein."
"Lasst uns das doch einfach mal mit dem Simulator durchrechnen", schlug ein anderer vor. "Dann werden wir ja sehen, ob das Etikett genug Überzeugungspotenzial in sich birgt."
Also fütterte man den Simulator in der Ecke des Besprechungsraums mit den Daten, die die Fiktion "Stromerzeugung durch Rotorblätter in großer Höhe" untermauern sollten. Das Ergebnis war äußerst ernüchternd: hoher Energieaufwand bei der Herstellung der Anlagen, unsichere, schwankende Energiegewinnung, hohe Kosten für die spätere Entsorgung des Materials, dazu schwer abzuschätzende Folgekosten durch schallbedingte Gesundheitsschäden sowie durch Bodenverdichtung und den Verlust von Grünflächen. Die Geschichte schien sich demnach kaum als Begründungsschema für die Bedeckung ganzer Landstriche mit über 100 Meter hohen Betonpfählen zu eignen.
"Schade – das war wohl nichts", musste selbst derjenige zugeben, der die Idee eingebracht hatte.
"Nun mal langsam", bremste der Leiter der Erkundungsmission, der sich bislang aus der Diskussion herausgehalten hatte. Auf seinem Schädel war ein fensterähnliches Rechteck zu sehen – vielleicht ein Symbol für den Blick in ferne Welten. "Ich finde den Vorschlag gar nicht so schlecht", widersprach er der allgemeinen Einschätzung.
Alle sahen ihn erstaunt an. Der Expeditionsleiter schien ihre Verwunderung zu genießen. Er hatte ein jugendliches Aussehen, was aber wohl vor allem daran lag, dass er erst vor kurzem wieder eine Verjüngungspille eingenommen hatte. In Wahrheit gehörte er zu den erfahrensten Experten in der Runde. Schließlich leitete er schon seit über 100 Jahren die Abteilung für extrastellare Exploration.
"Aber auf dieses Märchen fallen doch noch nicht einmal Kleinkinder herein!" protestierte eine Kadohanerin mit besonders weitem Gewand. Es wellte sich wie ein stürmisches Meer, als sie unwillig abwinkte.
"Bei uns vielleicht nicht", räumte der Expeditionsleiter ein. "Vergesst aber bitte nicht: Wir ähneln den Erdlingen zwar äußerlich, unterscheiden uns in unserer Hirnstruktur aber sehr stark von ihnen. Während bei uns die Verarbeitung von Emotionen und analytische Operationen in zwei voneinander unabhängigen Gehirnen ablaufen, verfügen die Erdlinge für beides nur über ein einziges Organ. Dadurch werden die Denkvorgänge unmittelbar von ihren Gefühlen beeinflusst."
"Ja – und?" fragte ein anderes Kommissionsmitglied. "Was nützt uns das?"
Der Expeditionsleiter lächelte überlegen – mit der linken Gesichtshälfte, der, wo sein Gefühlshirn saß. "Nun", erläuterte er, "wir müssen lediglich eine Katastrophe inszenieren, die den Erdlingen die mangelnde Zuverlässigkeit einer anderen, für sie wichtigen Energiequelle auf drastische Weise vor Augen führt. Die dadurch ausgelösten Angstgefühle werden die Bereitschaft, unserer Windstromgeschichte Glauben zu schenken, automatisch erhöhen."