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2. Eine Therapiesitzung

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Umweltpolitiker Alfred Heimenross hat ein Problem: Er ist sich selbst fremd geworden.

Der Besprechungsraum der Therapeutin wirkte ein wenig wie eine Höhle aus Kindertagen. Deckenfluter erzeugten ein gedämpftes Licht, das von den terracottafarbenen Wänden nur schwach reflektiert wurde. Der ockerfarbene Teppichboden schluckte jedes überflüssige Geräusch, so dass der Klang der Stimme sich ungestört entfalten konnte.

Beste Voraussetzungen für eine Seelenreise boten auch die Sitzgelegenheiten, die zwanglos im Raum verteilt waren. Neben einem Computertisch mit Gästestühlen und einer klassischen Sigmund-Freud-Couch gab es auch eine Sitzgruppe mit blauen Sesseln. Diese waren so weich, dass sie die Verirrten und Suchenden umfingen wie eine Mutter, die ein weinendes Kind in den Arm nimmt. Wer in ihnen versank, bekam einen körperlichen Eindruck von dem, was seiner Seele bevorstand: dem Hinabsinken in das eigene Ich.

Alfons Heimenross hatte es sich nach anfänglichem Zögern auf der Sigmund-Freud-Couch bequem gemacht. Der Grund für diese Wahl war vor allem, dass er sich, wie schon seit einigen Wochen, auch an diesem Morgen wieder unendlich müde fühlte. Außerdem hasste er weiche Sessel. Er fühlte sich darin stets an ein sehr unschönes Erlebnis aus seiner Kindheit erinnert, als er einmal fast im Moor ertrunken wäre – und er wollte die Seelenreise ja nicht gleich bei seinen frühesten Traumata beginnen.

Erschwerend kam hinzu, dass er noch nie bei einer Therapeutin gewesen war. Er hätte auch nicht gedacht, dass er einmal eine aufsuchen würde. Aber die Ereignisse der letzten Wochen hatten ihn zuletzt so beunruhigt, dass er sich einfach nicht mehr anders zu helfen wusste.

Nach seinen ersten Worten war Heimenross in ein dumpfes Schweigen versunken. Fast schien es, als wäre er in eine Art Halbschlaf gefallen. Daher fragte die Therapeutin mit wiegenliedhafter Stimme nach: "Und Sie haben also den Eindruck, sich selbst fremd zu sein?"

Heimenross fuhr zusammen. Es erschreckte ihn, das, was er über sich selbst gesagt hatte, aus einem anderen Mund zu hören. "Ich weiß, das … das klingt irgendwie lächerlich. Vielleicht drücke ich mich ja auch falsch aus – ich bin nicht so gut in solchen Gesprächen."

Die Therapeutin lächelte nachsichtig. Mit ihrer randlosen Brille und dem Notizbuch in der Hand wirkte sie eher wie eine Lehrerin, die sich Aufzeichnungen für das nächste Zeugnis macht. Auch deshalb vermied es Heimenross, ihr ins Gesicht zu sehen. Dabei tat die Frau, ganz Psychologin, alles, um ihm seine Beichte zu erleichtern.

"Lächerliches und Falsches gibt es hier nicht", ermutigte sie ihren Klienten. "Lassen Sie einfach Ihren Gefühlen und Gedanken freien Lauf. Denken Sie an eine Traumreise: Alles kommt, wie es kommt, nichts ist verboten. Jedes Gefühl darf sich ein Bild suchen."

Da Heimenross dennoch beharrlich schwieg, baute die Therapeutin ihm eine weitere Brücke: "Schildern Sie doch einfach mal eine Situation, in der Sie diese Fremdheitsgefühle überkommen."

Heimenross' Augenlider zuckten. Stockend erklärte er: "Na ja … Zum Beispiel morgens, vor dem Spiegel, wenn ich mir ins Gesicht schaue … Da habe ich oft das Gefühl, dass ich gar nicht der bin, der mich da aus dem Spiegel ansieht. Diese blassen Lippen, die ungepflegten Haare, die tiefen Ringe unter den Augen … Das sieht mir alles gar nicht ähnlich."

Die Therapeutin schmunzelte. "Diese Fremdheitsgefühle kenne ich auch …"

Eine leichte Röte schimmerte auf Heimenross' Wangen. "Ich sage ja: Das klingt irgendwie blöd. Midlife-Crisis, könnte man sagen, die Haare sind nicht mehr so kräftig, ich könnte sie zurückschneiden, halblang ist eh nicht ideal für einen Politiker. Und die Ringe unter den Augen: Zu wenig Schlaf, das typische Problem aller Workaholics. Spann mal aus, Heimenross, könnte ich mir sagen, fahr einfach mal für zwei Wochen ans Meer, danach kannst du wieder voll durchstarten!"

Die Therapeutin kritzelte etwas in ihren Notizblock. "Wäre das denn keine gute Idee? Meinen Sie nicht, Sie sollten diesem Bedürfnis nachgeben, wenn Sie es schon selbst empfinden?"

"Genau das ist ja das Problem!" ereiferte sich Heimenross, fast wie in einer seiner Parlamentsreden. "Ich habe ja schon versucht, mich mal eine Zeit lang auszuklinken. Abends in die Sauna gehen oder mit Freunden bei einem Bier abhängen, wie früher, als ich noch nicht so viele Verpflichtungen hatte. Aber das hilft alles nichts. Ich werde einfach dieses verdammte Gefühl nicht los, nicht mehr ich selbst zu sein! Ich fühle mich schon ganz fahrig deswegen."

Die Therapeutin sah von ihrem Notizblock auf: "Haben Sie vielleicht Schlafstörungen?"

"Ausschließen kann ich das nicht", bekannte Heimenross. "Vielleicht ist aber auch das Gegenteil der Fall. Ich habe jedenfalls eher das Gefühl, zu fest zu schlafen. In letzter Zeit habe ich sehr intensive Träume, an die ich mich morgens ganz genau erinnern kann. Ich habe dann fast den Eindruck, das Geträumte wirklich erlebt zu haben."

Die Therapeutin beugte sich leicht vor. Vorsichtig, als wollte sie das kostbare Geständnis nicht gefährden, erkundigte sie sich: "Und was sind das für Träume?"

Heimenross seufzte. "Da ist vor allem ein Traum, der immer wiederkommt. Ein bestimmtes Bild, das ich einfach nicht loswerde: Ich wache morgens auf – ich meine natürlich: ich träume, dass ich aufwache –, und die ganze Welt ist vollgestellt mit riesigen Stahlbetontürmen. Ich gehe durch einen endlosen Wald aus Betonbäumen, ich laufe und laufe, immer weiter …"

Hektisch huschte der Kugelschreiber der Therapeutin über die Seiten ihres Notizbuchs. "Und von diesen Alpträumen fühlen Sie sich dann morgens zerschlagen?"

Heimenross schüttelte heftig den Kopf. "Das ist ja gerade das Seltsame!" stellte er klar. "Ich empfinde die nächtlichen Bilder gar nicht als Alpträume. Genau das meine ich, wenn ich sage: Ich werde mir selbst fremd. Die Wanderungen durch den Betonwald sind mir angenehm. Ich genieße es, mit der Hand über die glatten, von keinem Verfall bedrohten Stahlstämme zu streichen. Ich habe mich sogar schon dabei ertappt, vor Autobahnbrücken stehen zu bleiben und die Betonpfeiler zu bewundern, die die breiten Trassen stützen. Dabei habe ich mich früher an jeden Baum gekettet, der einer Straße weichen sollte!"

Die Therapeutin warf einen besorgten Blick auf Heimenross. Hektische Flecken leuchteten auf seinem Gesicht, seine Mundwinkel zuckten unkontrolliert. In betont ruhigem Ton redete sie auf ihren Patienten ein: "Versuchen Sie doch, sich zu ihren Gefühlen zu bekennen! Stahl und Beton sind nun einmal die Baumaterialien unserer Zeit. Vielleicht sollten Sie sich einfach nicht so sehr dagegen wehren und diese Tatsache anerkennen."

Heimenross runzelte die Stirn. Eine Zeit lang verfiel er wieder in ein grüblerisches Schweigen. "Wenn es nur diese Träume … diese blöden Träume wären", murmelte er dann monoton, als würde er mit sich selbst sprechen. "Aber da ist noch etwas anderes … Ich habe auch sonst den Eindruck, mir selbst fremd zu sein, auch im Umgang mit anderen …"

Die Therapeutin rückte ihre Brille zurecht. "Und worin äußert sich das?" fragte sie, die Stimme einfühlsam senkend.

Heimenross kratzte sich erst am rechten, dann am linken Ohr. Unruhig rutschte er auf der Couch herum. "Nun", erläuterte er, "zum Beispiel habe ich seit einiger Zeit ständig Heißhunger auf Pizza. Jeden Abend lasse ich mir vom Pizza-Service um die Ecke eine bringen – am anderen Morgen kann ich mich aber weder an den Geschmack der Pizza noch an das Gesicht des Pizza-Boten erinnern. Es ist, als hätte jemand anders die Pizza bestellt."

Nachdenklich strich die Therapeutin mit der Hand über ihr Kinn. "Und Sie sind sich sicher, dass Sie die Pizzabestellung nicht auch träumen?"

Heimenross lachte bitter auf. "Ich muss mir ja nur die leere Pizzaschachtel anschauen – und meinen Bauchumfang. Nein, der Pizzakonsum ist real. Nur die Erinnerung daran ist ausgesetzt."

"Trinken Sie vielleicht zu viel Rotwein dazu?" fragte die Therapeutin, halb im Scherz.

Ein erneutes Kopfschütteln war die Antwort: "Ein, zwei Gläschen würde ich nicht als zu viel bezeichnen. Und außerdem: Wenn der Wein schuld wäre an dem allabendlichen Filmriss, müsste ich jetzt nicht meine Psyche untersuchen lassen, sondern meine Leber."

"Tja", resümierte die Therapeutin, während sie ihr Notizbuch zuklappte. "Das scheint sich in der Tat um einen recht speziellen Fall zu handeln bei Ihnen. Am besten schreiben Sie in den nächsten Tagen alles auf, was Ihnen auf der Seele brennt. Ich habe mir jetzt ja auch einige Notizen gemacht und werde mir bis zur nächsten Sitzung alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Dann werden wir bestimmt klarer sehen!"

Müde erhob Heimenross sich von der Couch. Er fühlte sich wie nach einer missglückten Operation.

Überdreht

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