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Wankelmut

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Zögern, zaudern, abwarten – all das wird oft abgewertet; zu sehr ist allein das kämpferische Vorwärtspreschen das, was gelobt wird. Lob schafft aber auch Abhängigkeit von den Lobenden. Besser statt Lob ist die einfache Feststellung, dass etwas gut ist. Deshalb benütze ich gerne die Aussage »Das ist eben noch nicht entscheidungsreif!«, wenn meine Klientinnen sich selbst für angebliche Entscheidungsschwächen oder auch Unsicherheit kritisieren.

Man braucht oft viel Geduld, das eigene Wachsen und Reifen abzuwarten, denn eine grundsätzlich mutige Person zu sein, ist das Ergebnis eines kreisartigen Entwicklungsprozesses.

Als Neugeborenes hat man noch eine ungeminderte Portion Mut in sich – man kennt ja weder Situationen der Angst noch der Straffolgen, man hat noch die Kraft, sich gegen Widriges/Widerliches zu wehren, aber eben nur mit Schreien und Zappeln. Dann folgt Erziehung und damit das Bemühen um Anpassung an die gesellschaftliche Forderung nach Pflegeleichtigkeit. Danach wechseln die Personen und Gruppen, an die man sich anpasst – und oft stehen die in großer Opposition zueinander. Und irgendwann wächst die innere Widerstandskraft, weil all die unterdrückten Wünsche und Sehnsüchte endlich verwirklicht werden wollen – gleichsam in einer dritten »Pubertät«. Pubertät heißt ja eingedeutscht auch nicht anderes als Reifungszeit (eigentlich Mannbarkeit).

»Dort, wo die Angst ist, liegt der Weg!«

Geduld braucht man aber auch, um das Gefühl sicherer »Stimmigkeit« zu verspüren. Deswegen formulieren wir ja »Der Entschluss ist gereift« als Gegenüber zum »Sich-kopflos-in-etwas-Hineinstürzen«.

Wiederum zeigt sich das militärische Gehorsamsmodell: Es soll immer nur eine richtige Verhaltensweise, nämlich die gehorsame, geben; jedes Schwanken zwischen Alternativen, ja sogar das bloße Aufzeigen, dass es solche gibt, gefährdet den Korps-Geist. Es könnte »ansteckend« wirken. Doch auch in Alltagssituationen wird Mut von irgendwelchen ungefährdeten anderen gefordert, und nicht nur in der Form von Zivilcourage, in der insgeheim das militärische Heldenideal mitschwingt: allein gegen das (soziale) Universum. Man erwartet oder lobt im Nachhinein, wenn jemand in einer Kampfsituation »Paroli« geboten oder sich getraut hat, »es jemandem zu sagen«. Weniger gelobt wird, wer die Stätte seiner Gesundheitsgefährdungen verlässt – kündigt, sich scheiden lässt oder gar ins Ausland geht. Man identifiziert sich lauthals und oft anbiedernd mit Personen, die scheinbar stellvertretend für die eigenen, tief im Herzen Gerechtigkeit liebenden, aber aus Angst vor den Ungerechten zaudernden Seelenanteile gehandelt haben. Man schmäht hingegen diejenigen, die Situationen verlassen, aus denen man selbst nicht auszubrechen wagt.

Tiefenpsychologisch entschlüsselt »verschieben« wir beim Loben meist ungelebte ethische Idealvorstellungen auf jemand anderen – was nicht heißt, dass diese Idealvorstellungen klug, gesund oder auch rechtlich erlaubt sind, und hoffen insgeheim, dass wir nun für das Loben gelobt werden … Oder wir »verkehren ins Gegenteil«, nämlich ins Verdammenswerte, wofür wir andere insgeheim beneiden, weil sie sich das trauen, was uns von klein auf verboten wurde.

Für all jene Tätigkeiten oder Aktionen mit hohem Gefahrenpotenzial, die die Tatkraft – den Mut –, aber auch das Spezialwissen von Durchschnittsbürgern überfordern würden, haben wir üblicherweise Profis: Feuerwehr zur Brandbekämpfung, medizinische Experten für Akutinterventionen zur Lebensrettung und die Polizei zur Herstellung gewaltfreier Sicherheit. Letztere besitzt das Gewaltmonopol (und muss zur Vermeidung von Über-Mut besonders geschult werden!), deswegen mahnt sie immer wieder aufs Neue, man solle nicht Held oder Heldin spielen, sondern den Notruf betätigen, wenn man Zeuge einer Straftat wird.

Es reicht aber nicht, Experte für Gewalt zu sein – man muss ebenso Experte für Gewaltdeeskalation sein! Deswegen ist es ja auch sinnvoll, solche Berufe prinzipiell immer zu zweit auszuüben – primär, um einander mahnend und korrigierend beizustehen, wenn eine oder einer Gefahr läuft, zu wagemutig zu werden, sekundär aber auch für allfällige Zeugenschaft, dass korrekt gehandelt wurde – oder auch um umgekehrte Tatsächlichkeiten zu bezeugen.

Zeugnis abzulegen gehört zu den Mut-Aufgaben – das wissen alle, die beispielsweise in Scheidungsprozessen als Zeugen benannt wurden. Ich habe selbst des Öfteren erlebt, wie Personen, die genau miterlebt hatten und wussten, wie jemandem – auch mir! – Unrecht angetan worden war, bei der Aufforderung, vor Gericht Zeugnis abzulegen, empört fauchten: »Zieh mich nur ja nicht da hinein!« oder sich verlegen wanden: »Ich will damit nichts zu tun haben!« Die einen grenzen sich mit Energiesteigerung ab, die anderen, indem sie sich klein machen. Sie spielen tobende Eltern nach oder sich selbst als die eingeschüchterten Kleinkinder, die sie einmal waren. Sie merken nicht, dass sie damit Kraft verbrauchen oder zurückhalten; beides schwächt die Gesundheit.

Mut und damit Aufrichtigkeit würde darin bestehen, ruhig und respektvoll zu erklären, aus welchen Gründen man ersucht, nicht als Zeuge angefordert zu werden (verhindern lässt es sich sowieso nicht!). Damit würde man sowohl die eigene Gesundheit wie die der jeweils anderen Person bewahren. Ich erinnere mich an einen Klienten, der sich mit seinem Vater in solch einer Paardynamik von Aufbrausen und Rückziehen befand und keinen Ausweg aus diesen Streitgesprächen fand. Als ich ihm souveränere, vor allem wahrheitsgemäße und ernsthafte Formulierungen anstelle des ordinären Hickhacks vorschlug, schnappte er entsetzt nach Luft: »Aber das klingt ja so hart!« Ich korrigierte: »Ich würde lieber nicht ›hart‹ sagen, sondern ›klar‹!«

Es braucht Mut, sich zur Klarheit zu entscheiden. Außerdem gibt es viel zu wenige Vorbilder, von denen man das lernen könnte. Viele Menschen verwechseln nämlich Klarheit mit Brutalität. So kenne ich eine Frau, die jedesmal, wenn sie sich im Ton vergreift und daraufhin zurückgewiesen wird, zur Rechtfertigung schnoddrig konstatiert: »Ich bin Deutsche!« – als ob Grobheit eine deutsche Nationaleigenschaft wäre. Sie ist ein taktischer oder strategischer Gesprächsstil.

Viele Menschen scheuen sich, sich selbst die Zeit des Nachdenkens zu gewähren, die nötig ist, um eine wahre, klare und gleichzeitig wertschätzende Formulierung zu finden. Sie befürchten, als feige, schwach, »schmähstad« (d. h. um eine Antwort verlegen) oder grundsätzlich unsicher zu gelten. Sie wollen »schlagfertig« sein – und merken nicht, dass Schlagfertigkeit meist psychologische Gewalttätigkeit bedeutet, außer wenn sie sich durch albernde Heiterkeit auszeichnet. Außerdem überschätzen sie ihr Fremdbild: Schweigen, das einem im Selbstbild sehr lang vorkommt, ist für andere oft kaum merklich.

Es braucht Mut, sich zur Klarheit zu entscheiden.

Ich plädiere für Nachdenklichkeit! Wir haben das Recht, in unserer Eigenzeit herauszufinden, für welche von mehreren Verhaltensmöglichkeiten wir uns entscheiden wollen. Deswegen mag ich das Wort Unsicherheit nicht – es besagt doch nur, dass man sich noch nicht sicher ist und daher Zeit braucht, um sich zusätzliche Informationen zu besorgen oder auch nur zu entspannen, um besser fühlen zu können, was stimmig ist – d. h. wozu die innere Stimme zustimmt. In meinen Seminaren demonstriere ich das am Beispiel des Gehens: Wir stehen sicher mit beiden Beinen am Boden – heben einen Fuß vom Boden ab und sind nicht mehr sicher – setzen den Fuß auf und sind wieder sicher – heben den anderen Fuß und sind wieder unsicher – setzen ihn wieder auf und sind wieder sicher – und so weiter und so fort. Phasenweise Unsicherheit gehört also zum Lebensweg dazu.

Mut

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