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4.

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Bevor das Schott der Vorpiek geöffnet wurde, sorgte Luis Carrero dafür, den Belegnagel zu verstecken. Es gelang ihm, die Gräting ein wenig zu lockern und ihn darunterzuschieben. Jetzt mußte es schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihn entdeckten.

Schritte näherten sich.

„Batuti, mach mal auf“, sagte eine Stimme. Sie gehörte diesem anderen Hakenmann, der offenbar auf den Namen Bowie hörte. „Ich habe gebratenen Fisch und Wasser für unseren Don Luis.“

„Na, dann los“, brummte der Gambia-Mann. Eigentlich hätte er lieber mit Shane Pulver- und Brandpfeile angefertigt, als hier Posten zu gehen. Aber er fügte sich in sein Schicksal.

Batuti schob den Riegel des Schotts zur Seite und öffnete. Jeff Bowie setzte den Essensnapf und den Wasserkrug auf den Planken ab und hängte die Öllampe, die er mitgebracht hatte, an einen Haken an einem der Deckenbalken. Die Lampe schwankte ein bißchen hin und her und verbreitete rötlich-dämmriges Licht.

Jeff bückte sich und trat zu dem Gefangenen, Batuti zog seine Pistole und spannte den Hahn. Es knackte, aber Carrero wandte nicht den Kopf. Er schien ins Leere zu blicken, völlig apathisch und entrückt.

„Carrero“, sagte Jeff. „Ich nehme dir jetzt die Fesseln ab, damit du essen kannst.“

„Ja“, sagte Carrero. „Ja.“

„Sei hübsch brav und versuche keine Dummheiten.“

„Keine Dummheiten.“

Jeff löste die Handfesseln, kehrte zu Batuti zurück und schob dem Spanier den Essensnapf und den Wasserkrug zu. Er stellte sich neben den Gambia-Mann, und sie unterhielten sich leise miteinander.

Carrero griff mit seltsam eckigen, beinah linkisch wirkenden Bewegungen nach dem Fisch und aß ein wenig davon. Dann trank er Wasser in großen, gierigen Schlucken.

Jeff wartete noch eine Weile, aber Carrero ließ die Hälfte der Anchovetas unberührt im Napf liegen. Jeff zuckte mit den Schultern, legte dem Mann die Fesseln wieder an und trug das Geschirr aus der Vorpiek. Er übergab es Batuti, nachdem dieser das Schott geschlossen und zugeriegelt hatte, und der Gambia-Mann schob grinsend damit, ab.

„Danke für die Ablösung“, sagte er.

„Gern geschehen“, sagte Jeff und lehnte sich gegen die Wand. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Bis Mitternacht war er mit der Wache an der Reihe, dann löste ihn Luke Morgan ab. Bis dahin hieß es, sich in Geduld zu fassen – es gab keinen langweiligeren Posten als diesen. Da hatten es sogar die Männer besser, die drüben, auf der Felsnase, ihren Dienst versahen. Die hatten wenigstens die frische Luft und konnten dem leisen Rauschen des Wassers lauschen.

Carrero überlegte unterdessen, ob er richtig gehandelt hatte. Eigentlich hatte er einen Bärenhunger, und der Magen knurrte ihm immer noch. Aber er hatte absichtlich so getan, als habe er keinen Appetit. Er spielte den Leidenden, Entmutigten. Er hatte kaum noch die Kraft, die Hand an den Mund zu heben. Bei dieser Rolle mußte er bleiben.

Aber später, auf der Flucht, würde ihm der Hunger zusetzen. Wann erhielt er wieder etwas zu essen? Er wußte es nicht. Aber das mußte er auf sich nehmen. Wenn es ganz schlimm war, würde er Wurzeln essen. Oder Dreck. Lieber das, als noch weiter diesen Höllenhunden ausgeliefert zu sein.

Am Mittag, bei seinem Spaziergang auf das Hauptdeck, hatte er die Himmelsrichtung einigermaßen genau festgestellt. Er würde sich nach Süden absetzen, dorthin, wo Arica liegen mußte. Dies hatte er sich inzwischen in den Kopf gesetzt, denn es war besser, zunächst nach Arica zu laufen, als sich auf den langen Marsch nach Potosi zu begeben.

Im übrigen hatte er festgestellt, daß draußen – vor der Bucht – ein Fluß verlief. Fast war er sich sicher, daß es sich um den Rio Tacna handeln mußte. Folglich lag Arica südlich.

Dies war Luis Carreros Plan: Um Mitternacht, beim neuerlichen Wachwechsel, würden die beiden Posten, der abgelöste und der neue, seine Fesseln gemeinsam überprüfen. Danach hatte er wieder Ruhe bis vier Uhr morgens, wenn wiederum die gleiche Prozedur begann. Er hatte beschlossen, nach der Prüfung um Mitternacht die Fesseln zu lösen, den Posten in die Vorpiek zu locken, ihn niederzuschlagen und zu fliehen.

Er wollte sich mit der Jolle absetzen, die längsseits vertäut war. Das mußte zu schaffen sein. Bis zum Ufer war es nicht weit, und vielleicht waren die Ankerwachen der Schiffe nicht so scharf, weil sie mit keiner Bedrohung von außen zu rechnen hatten. Wenn er viel Glück hatte, schliefen sie sogar. Das wagte er nicht zu hoffen, aber er rechnete sich einige Chancen aus, das Ufer ungehindert zu erreichen.

Er entspannte sich und schloß die Augen. Bis Mitternacht mußte er Energien schöpfen – danach begann die Arbeit. Er atmete tief durch und versuchte zu schlafen. Es gelang ihm tatsächlich. Es war mehr ein Dahindämmern, jedes Geräusch riß ihn wieder hoch. Aber er ruhte sich doch aus. Allein darauf kam es ihm jetzt an.

Mitternacht nahte, und wieder ertönten Schritte, die vor dem Schott verharrten. Der neue Posten war da. Es war Luke Morgan. Er wechselte ein paar Worte mit Jeff, dann öffneten sie das Schott der Vorpiek und befaßten sich mit ihrem Gefangenen. Jeff hielt die Öllampe hoch, Luke überprüfte die Handfesseln des Mannes.

„Alles in Ordnung“, sagte Luke.

„Ich habe auch nichts anderes erwartet“, sagte Jeff. „Gibt es an der Küste was Neues?“

„Nichts.“

„Nicht die Spur?“

„Bist du so versessen darauf, daß was passiert?“ fragte Luke.

„Das bin ich nicht“, entgegnete Jeff. „Nur finde ich, daß es hier allzu ruhig ist.“

„Mal nicht den Teufel an die Wand. Wir können uns nicht beklagen. Wenn alles so bleibt, wie es ist, schieben wir hier einen wirklich ruhigen Lenz, bis Hasard und der Trupp aus Potosi zurück sind.“

„Ich wäre lieber nach Potosi gegangen, wenn du mich fragst.“

„Das wären wir alle“, sagte Luke. „Aber darüber haben wir schon genug diskutiert.“

„Mann, ich will mich doch nur mit dir unterhalten.“

„Hau dich aufs Ohr“, sagte Luke grinsend. „Und denk an die Anchovetas. Morgen wird wieder geangelt – gefischt, meine ich.“

„Die Kinderarbeit können wir den Zwillingen überlassen“, brummte Jeff. „Mann, ich melde mich lieber bei Ferris und helfe ihm bei den Höllenflaschen.“

„Wie du willst. Ben hat sicher nichts dagegen.“

„Also dann – viel Spaß, Luke“, sagte Jeff.

„Ich werde die Zeit schon ’rumkriegen“, sagte Luke.

Das Schott der Vorpiek krachte zu, der Riegel wurde vorgeschoben. Luis Carrero grinste, aber am liebsten hätte er vor Freude geschrien. Ihr Narren, dachte er, ihr wißt ja nicht, was euch blüht.

Carrero begann sofort zu arbeiten. Lautlos bewegte er sich durch die Vorpiek, verharrte wieder, lauschte und setzte dann, als er sicher war, daß der Mann vorm Schott nichts bemerkte, seinen Weg fort. Er erreichte den Nagel, setzte sich hin und drehte sich so, daß er die gefesselten Hände an den Nagel bringen konnte.

Dann begann er, seine Hände reibend zu bewegen. Das Tauwerk glitt über den Nagel. Aber es war solide – und es dauerte einige Zeit, bis sich die ersten Fasern zu lösen begannen.

An der erforderlichen Geduld, Zähigkeit und Ausdauer mangelte es dem Spanier nicht. Lange genug hatte er tatenlos in dem engen, stickigen Verschlag brüten müssen. Und wenn er Stunden an den Fesseln herumsäbeln mußte, bis sie nachgaben – er würde nicht kapitulieren.

Etwa nach einer Viertelstunde hielt er für kurze Zeit inne und fing an, Schnarchgeräusche zu imitieren, nicht zu laut, aber für den vor dem Schott stehenden Luke Morgan deutlich zu vernehmen. Carrero nahm seine Tätigkeit wieder auf, schnarchte aber noch einige Zeit weiter. Das Tauwerk schabte über den Nagel, hin und her, und er hatte den Eindruck, daß es etwas rissig geworden war. Seine Haut wurde inzwischen auch in Mitleidenschaft gezogen. Er spürte, wie sie zu brennen und zu schmerzen begann.

Weiter, dachte er, nicht aufhören. Und wenn die Haut in Fetzen geht – weiter!

In unregelmäßigen Zeitabständen wiederholte er die Schnarchgeräusche. Nach ungefähr einer Stunde intensiver Arbeit hatte er die Hände endlich frei. Er ließ die Arme herunterbaumeln, lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch. Dann massierte er vorsichtig die Handgelenke. Sie taten immer noch weh. Er hatte sie blutig geschrammt, wie ihm schien – aber was bedeutete das schon?

Er wartete ab. Jetzt nicht zu hastig vorgehen, prägte er sich immer wieder ein, Geduld haben. Noch ein wenig Zeit verstreichen lassen.

Carrero schnarchte wieder ein bißchen und stieß auch hin und wieder einen Seufzer aus wie ein Mann, der von nicht gerade angenehmen Träumen geplagt wird. Dann verstummte er wieder – und wartete weiterhin ab.

Als es nach seiner Schätzung auf zwei Uhr zuging, begann er erneut zu schnarchen, diesmal jedoch stärker als zuvor. Das gehörte zu seiner Taktik.

Er hatte inzwischen den Belegnägel aus dem Versteck zum Vorschein geholt und bewegte ihn prüfend in der Hand. Hartes Holz, dachte er, vielleicht Steineiche. Für spanische Schiffe wie die „Estrella de Málaga“ wurden nur die besten Hölzer verwendet: Eiche, Steineiche, Edelkastanie, Nußbaum und Pinie. Es waren allesamt knochentrockene und harte Materialien, mit denen man einem Mann gut und gern den Schädel einschlagen konnte.

Carrero grinste jetzt. Er schnarchte immer lauter, nahm den Belegnagel in die rechte Hand und klopfte damit an die äußere Bordwand. Das gab dumpfe, pochende Laute.

Luke Morgan horchte auf. Was war das? Er war ein bißchen dösig geworden. Für kurze Zeit wäre er um ein Haar eingeschlafen, hatte sich aber immer wieder einen Ruck verliehen. Die Augen durften ihm nicht zufallen.

Wenn der Spanier auch keine Chance hatte, aus seinem Verlies zu entwischen – es war eine Schande für einen Arwenack, auf Wache einzupennen. Und die Blamage war noch größer, wenn man ihn dabei ertappte. Nein, das durfte sich keiner erlauben. Notfalls gab man sich lieber selbst eine Ohrfeige, als den Dienst zu vernachlässigen, was immer auch geschah.

Es hämmerte dumpf im Schiffsbauch, und der Kerl in der Vorpiek schnarchte wie ein Besessener. Aber was hatte das eine mit dem anderen zu tun? Luke war ein wenig verwirrt.

Luis Carrero lag inzwischen in Schlafstellung auf der Gräting der Vorpiek, die Hände auf dem Rücken, leicht zusammengekrümmt und die Front dem Schott zugewandt. Er stellte das Schnarchen kurz ein – und fing im nächsten Moment wieder damit an, noch lauter diesmal. Zwei- bis dreimal klopfte er wieder mit dem Koffeynagel gegen die äußere Wand, dann hörte er auf, schnarchte aber weiter.

Komm schon, du Ratte, dachte er. Wie lange brauchst du, um mißtrauisch zu werden? Stunden? Hölle das dauert mir zu lange. Warum, zum Teufel, kommst du nicht?

War der Bastard von einem Engländer am Ende eingeschlafen? Carrero wagte nicht, daran zu denken. Wenn der Posten ihn nicht hörte, war sein ganzer Plan, den er sich zurechtgelegt hatte, hinfällig. Dann konnte er auch nichts Neues ersinnen, denn es gab keine Alternative. Alles hing davon ab, daß der Mann dort draußen versuchte, dem Klopfen auf den Grund zu gehen.

Carrero setzte mit dem Schnarchen aus. Er hämmerte den Belegnagel gegen die Beplankung – viermal in kurzen Abständen. Wenn jetzt nichts passiert, ist alles verloren, dachte er.

Luke Morgan lauschte dem Schnarchen und dem Pochen. Verdammt, dachte er, was hat das zu bedeuten? Das Schnarchen beunruhigte ihn nicht, wohl aber das Klopfen. Es klang so, als klopfe von draußen jemand an die Bordwand, nicht laut, aber doch gut hörbar.

Was das wohl war? Wieder trat Stille ein. Dann ertönte wieder das Schnarchen aus der Vorpiek – und plötzlich war erneut das Pochen da, dumpf und unheimlich.

Luke nahm die Öllampe vom Haken, trat auf das Schott zu und schob den Riegel zur Seite. Er zog das Schott auf. Es knarrte ein wenig in seinen Angeln. Luke bückte sich und hielt die Lampe etwas tiefer. Der Lichtschein fiel etwas flackernd ins Innere und erhellte die Gestalt des Spaniers.

Carrero schnarchte wieder, jetzt verhalten. Das Klopfen hatte aufgehört. Luke betrachtete den Mann eine Weile, dann schien er überzeugt zu sein.

Der schläft, dachte er.

Ganz sicher war er aber doch noch nicht. Er wollte es genau wissen. Schlief der Kerl oder hielt er ihn nur zum Narren? Und wenn das Pochen von ihm herrührte, was bezweckte er damit?

Carrero schnarchte friedlich vor sich hin. Luke beugte sich über ihn.

„He!“ zischte er.

Carrero antwortete nicht.

Lukes Mißtrauen war immer noch nicht gewichen. Hier stimmt was nicht, sagte er sich – und dann stellte er die Öllampe auf einen Decksbalken. Er hatte vor, sich etwas gründlicher in der Vorpiek umzuschauen.

Als er sich jedoch halb von Carrero abwandte, wurde dieser plötzlich sehr lebendig. Er zog die Beine an den Leib, gab sich einen Ruck und sprang auf.

Luke hörte ein Geräusch und registrierte auch die Bewegung des Kerls. Er reagierte, fuhr zu ihm herum und wollte zur Pistole greifen. Aber er hatte die Bewegung noch nicht halb vollführt, da krachte etwas auf seinen Kopf – der Koffeynagel. Er hatte das Gefühl, sein Schädel platze auseinander. Stöhnend sackte er in die Knie.

Carrero wollte noch einmal zuschlagen, stellte aber fest, daß es nicht mehr nötig war. Der Engländer brach vor ihm zusammen und streckte sich auf den Planken aus.

Sehr gut, dachte der Spanier, das geschieht dir recht, du Mistkerl.

Er überlegte, ob er ihn töten sollte. Aber dazu war keine Zeit, er mußte sich jetzt höllisch beeilen. In Windeseile zog er sich die Stiefel aus. Die Langschäfter aus weichem Leder – auf sie mußte er jetzt verzichten, denn wenn die Flucht gelingen sollte, mußte er sich absolut lautlos durch das Schiff bewegen.

Er legte die Stiefel auf die Gräting und steckte den Belegnagel in den Hosengurt. Dann begann er, den ohnmächtigen Luke zu untersuchen. Wieder war er versucht, ihn umzubringen. Eine Welle des Hasses durchlief ihn. Hier war die Gelegenheit, sich für alles zu rächen, was sie ihm angetan hatten.

Aber wie denn? An einem einzelnen, unbedeutenden Decksmann sollte er sich rächen? Das konnte alles andere in Frage stellen, und ihm kam es doch viel mehr darauf an, zu fliehen und dafür zu sorgen, daß der schwarzhaarige Hurensohn Killigrew und dessen Kumpane gepackt und nach Potosi in die Minen verschleppt wurden.

Prioritäten setzen, lachte Carrero. Das war jetzt wichtig für ihn. Und er brauchte Waffen. Was hatte dieser Bastard bei sich? Etwa nur die Pistole?

Seewölfe Paket 23

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