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6.

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Bei gutem Nordostwind segelte die „Caribian Queen“ am nächsten Tag vormittags in den Hafen von Tortuga.

Hasard sah sich die Südbucht an, aber dort gab es nichts Auffälliges zu sehen und schon gar nichts, was verdächtig war. Im Hafen lagen lediglich ein paar harmlose Einmaster, kleine Boote, die ganz sicher nicht von Schnapphähnen bemannt waren.

Daß sich noch drei größere Zweimastschaluppen in einer Bucht bei Portugal Point befanden, die an der Ostspitze von Tortuga ankerten, konnte er nicht wissen. Er sah auch nicht den abenteuerlich gekleideten Kerl, der sie heimlich beobachtete.

„Es genügt, wenn du heute abend mit zu Diego gehst“, sagte Hasard zu Siri-Tong. „Ich werde inzwischen mit ein oder zwei Männern hinaufgehen, die Liste mitnehmen und das Zeug ordern. Den Kleinkram können wir heute stauen, das Holz, das Diego in Hispaniola ordern muß, kannst du dann auf der Rückfahrt mitnehmen.“

„Einverstanden“, sagte die Rote Korsarin und gab ihm die Liste, die Hesekiel Ramsgate zusammengestellt hatte.

„Dann sollen mich zwei Mann begleiten“, sagte Hasard.

„Aye, aye, Sir“, sagte der Profos, der wie aus den Planken gewachsen neben dem Seewolf auftauchte. „Ich suche noch einen aus. Ich schlage vor, wir nehmen Ferris mit – wegen des Holzes, Sir.“

„So, du schlägst vor“, entgegnete Hasard. „Wer hat überhaupt gesagt, daß du mich begleiten sollst?“

„Das ist doch Tradition, Sir“, sagte Carberry erstaunt. „Man kann doch nicht einfach Traditionen über den Haufen werfen. Aber wenn du mich nicht willst, Sir, dann schließe ich mich eben solange in der Vorpiek ein und gräme mich. Ich armes Rübenschwein muß ja immer leiden.“

„Du siehst auch genau wie ein vergrämtes armes Rübenschwein aus. Aus gewissen Gründen wollte ich eigentlich auf deine Begleitung verzichten – du kennst ja diese gewissen Gründe.“

Der Profos blickte so mitleidheischend, daß er Hasard schon wieder leid tat. Er sah todunglücklich aus, als müßte er alle seine Freunde persönlich beerdigen. Dagegen war Mac Pellew ein lebenslustiger Springinsfeld. Nein, dieses Leiden-Christi-Gesicht konnte Hasard nicht länger ertragen.

„Geheiligt sei die Tradition. Dann sage Ferris Bescheid, und schlage dir gleichzeitig eine Sauferei aus dem Kopf, denn daraus wird jetzt nichts. Wir ordern nur das, was wir brauchen.“

„An Saufen hätte ich nie gedacht“, entrüstete sich der Profos, „doch nicht jetzt, am hellen Vormittag.“

„Es gibt Leute, die saufen auch am hellen Vormittag, die nehmen auf die Tageszeit überhaupt keine Rücksicht.“

„So was von Unanständigkeit, pfui Teufel. Gegen ein winziges Bierchen am Abend ist ja nichts einzuwenden, aber am hellen Tag …“

Wer den Profos nicht kannte, hätte ihm diese Rolle gutgläubig abgenommen. Entrüstet blickte er sich um, ob etwa solche Kerle in der Nähe standen, die schon am hellen Tag soffen.

„Du würdest einen guten Schmierendrescher bei einer Wanderbühne abgeben, Ed“, sagte Hasard belustigt. „Also vorwärts, wir gehen zu Diego hinauf.“

Kurz darauf verließen Hasard, Ed und Ferris die „Caribian Queen“ und gingen den Serpentinenweg hinauf zur „Schildkröte“.

Um diese Zeit herrschte bei Diego kaum Betrieb. Die Kneipe erwachte erst am Nachmittag zum Leben, und vom Abend bis zum frühen Morgen ging es dann sehr hektisch zu, wenn sich Schnapphähne, Beutelschneider und Huren aller Schattierungen einfanden.

Der dicke Diego stand hinter dem Tresen und zapfte für zwei Gentlemen Bier, die gleich am ersten Tisch hockten. Das waren die einzigen Gäste.

Als er die drei Seewölfe sah, glitt ein freudiges Grinsen über sein Gesicht. Nur bei Carberrys Anblick zuckte er etwas zusammen, das konnte Diego nicht vermeiden. Diese wandelnde Granate flößte ihm immer wieder ein kaltes Grausen ein, obwohl er seinen lieben „Amigo Ed“ gern mochte. Man mußte sich nur immer wieder an seinen Anblick gewöhnen.

Die Begrüßung fiel trotzdem recht herzlich aus, denn die Arwenacks hatten dem Dicken schon oft aus der Patsche geholfen. Diego war so eine Art Ersatz-Plymson aus Plymouth. Er ähnelte dem feisten Wirt aus England nicht nur figürlich, er hatte auch dessen Schlitzohrigkeit und war geldgierig.

Hasard holte die Liste hervor, reichte sie Diego und verklarte ihm, was sie wollten.

Carberry schnappte sich den Bierhumpen, sah Diego an und schüttelte den Kopf.

„Das wäre nun aber wirklich nicht nötig gewesen“, sagte er verlegen, „so früh am Morgen schon. Aber da du mich jetzt schon überredet hast, dann prost, Gentlemen!“

Er nickte den beiden verdatterten „Gentlemen“ sehr freundlich zu, was die mit einem lahmen Grinsen beantworteten.

„Äh, hm“, sagte der eine lahm.

„Ja?“ fragte der Profos höflich.

„Äh, das Bier …“

„Kann ich nur empfehlen“, erklärte Ed. „Es ist frisch und kühl. Sie sollten sich auch eins bestellen, Gents.“

Hasard drehte sich um und warf dem Profos einen straf enden Blick zu.

„Diego war so freundlich“, sagte Ed trocken, „und da wollte ich ihn nicht beleidigen.“

„Ich will auch keinen Krach mit ihm haben“, sagte Ferris und griff nach dem anderen Humpen.

Die beiden Gents wurden immer kleiner, als sie die riesigen Gestalten musterten. Kleinlaut bestellten sie nochmals Bier. Diego zapfte wieder und schob auch dem Seewolf einen Humpen hinüber.

In stiller Eintracht nahmen sie einen langen Schluck, sahen sich an und grinsten sich zu.

„Alles andere habe ich da“, sagte Diego. „Das Holz muß ich ordern, das dauert. Das andere schicke ich im Laufe des Tages zu euch an Bord. Aber auch darüber wird der Abend vergehen, ich schaffe es leider nicht schneller.“

„Dann bleiben wir über Nacht hier liegen“, sagte Hasard, „und segeln erst morgen weiter. Die Kerle können sich dann heute abend noch einmal austoben.“

Der dicke Diego grinste. Dann beugte er sich vertraulich vor und flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand: „Da habe ich was für euch, Leute. Habe ein bißchen Zuwachs an schnuckeligen Turteltäubchen gekriegt. Paradiesisch, sage ich euch, da mangelt es an gar nichts, allenfalls den Täubchen an Freiern. Da ist für jeden gesorgt.“

Der Profos begann lüstern zu grinsen. Scheinbar gedankenlos griff er nach dem nächsten frisch gezapften Bier, das wiederum für die „Gents“ bestimmt war, und nahm einen langen Zug. Diesmal hatte Hasard es zum Glück nicht bemerkt, denn er tippte wieder auf die Liste.

Kurz danach ging Hasard mit Diego in die angrenzende Küche.

Die beiden Kerle räusperten sich etwas ärgerlich, weil das bestellte Bier nie an ihrem Tisch landete, sondern immer im Magen des narbigen Kerls verschwand.

Carberry warf ihnen wieder einen schrägen Blick zu. Diese beiden Vögel gefielen ihm ganz und gar nicht, aber das war noch lange kein Grund, mit ihnen Stunk anzufangen, zumal Hasard auch immer ein wachsames Auge hatte. Der eine Kerl sah aus wie eine kranke, räudige Ratte, obwohl er das durch aufwendige Kleidung zu kaschieren versuchte. Der andere war hohlwangig, von kleiner Statur, mit unruhigen Augen und Bartstoppeln am Kinn. Seine Nase hing ihm auf eine traurige Art im Gesicht, daher erinnerte er Ed an einen beleidigten oder gekränkten Uhu.

„Wir hatten vorhin ein Bier bestellt“, sagte der eine aufsässig, wobei seine Blicke unruhig hin und her gingen.

„Das müßt ihr dem Wirt verklaren“, sagte Ed. „Das ist nicht unsere Sache.“

„Aber das Bier war für uns“, murmelte der andere bockig.

„Das Bier gehört immer dem, zu dem es hingeschoben wird“, erklärte Ed. „Das war schon zu Abrahams Zeiten so, als Moses noch mit Adam und Eva im Paradies lebte.“

„Er ist unser Bordgeistlicher“, sagte Ferris ernst, „er kennt sich genau aus. Wenn er das sagt, stimmt das auch. Er lebt streng nach dem Alten Testament, das da sagt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er hält auch immer die Grabreden für vorlaute Kerle, die nicht das glauben, was er predigt. Reizt ihn nur nicht“, flüsterte er. „Gebt ihm lieber noch eine Runde aus, sonst überfällt ihn der heilige Zorn. Übrigens hat er einen eigenen Friedhof auf Tortuga. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen.“

Die beiden Kerle schluckten hart. Sie warfen sich einen Blick zu und zuckten verstört zusammen, als der „Bordgeistliche“ rülpste. Das war wie ein Erdbeben und ging ihnen durch und durch.

Dann standen sie ziemlich schnell auf und legten zwei Silberstücke auf die Theke.

„Das reicht wohl für die nächste Runde“, sagte der Rattengesichtige eifrig.

„Das reicht, mein Sohn“, sagte der Profos. „Ich sehe, ihr seid zwei gutgläubige Menschen. Wie steht es doch geschrieben: Nehmen ist seliger denn Geben, stimmt’s?“

„Stimmt genau, Sir, alles Gute.“

„Euch sei hiermit verziehen“, murmelte Ed salbungsvoll.

Die beiden Kerle verzogen sich in erstaunlicher Eile. Der „Bordgeistliche“ war ihnen nicht ganz geheuer, der sah so aus, als würde er beim geringsten Widerspruch die Kneipe in Trümmer legen.

Als sie draußen waren, begann der Profos laut zu lachen, und auch Ferris konnte nicht mehr an sich halten und brüllte los. Ed klopfte seinem alten Freund grinsend auf die Schulter.

„Toll“, sagte er begeistert. Dann lachten sie erneut los.

Als Hasard zurückkehrte, waren sie wieder ernst. Ed spielte mit den beiden Silbermünzen und schob sie Diego hin.

„Wo sind denn die beiden Kerle geblieben?“ fragte Hasard.

„Denen wurde es zu langweilig“, sagte Ed, „deshalb sind sie gegangen. Sie haben sogar noch eine Runde ausgegeben.“

„Die sahen aus, als wollten sie etwas ausspionieren“, sagte Ferris. „Dauernd glotzten sie nach allen Seiten. Kennst du die Kerle, Diego?“

„Nie gesehen. Sie waren zum erstenmal hier.“

„Dann solltest du ein wachsames Auge haben“, riet Ed, „die Kerle waren nicht ganz sauber, aber hier treibt sich ja dauernd Gelichter aller Schattierungen herum.“

„Von dem Gelichter lebe ich nun mal“, sagte Diego, „da muß ich auch Kerle in Kauf nehmen, die mir nicht gefallen. Ich kann sie mir leider nicht aussuchen.“

Hasard ging noch einmal die Liste durch, ob sie auch nichts vergessen hatten. Punkt für Punkt war abgehakt und alles bestellt, was auf der Schlangen-Insel so gebraucht wurde.

„Noch ein kleines Bier?“ fragte der dicke Wirt.

Hasard wollte gerade ablehnend den Kopf schütteln, doch der Profos nickte freudig.

„Aber nur ausnahmsweise“, sagte er schnell, „und um dich nicht zu beleidigen.“

„Na gut, ein kleines noch“, sagte Hasard seufzend. „Das nächstemal hältst du aber rechtzeitig deine Klappe, Ed.“

„Aye, aye, Sir.“

„Gleich nachher schicke ich das erste Zeug hinunter“, sagte Diego. „Bis zum Abend dürfte alles verladen sein.“

Hasard trank nickend das Bier aus und schob den Humpen zurück. Der Profos rollte Diego die beiden Münzen hinüber.

„Stimmt so“, sagte er großzügig, „die beiden Kerle haben ja auch einen ausgegeben.“

„Ich hörte vorhin etwas von einem Bordgeistlichen“, sagte Hasard. „Was hat das zu bedeuten?“

„Die beiden Kerle hielten Ed für einen Bordgeistlichen“, sagte Ferris Tucker. „Offenbar haben sie ihn verwechselt.“

„Ja, das scheint mir auch so“, sagte Hasard spöttisch. „Obwohl Ed durchaus den Eindruck eines Bordgeistlichen erweckt. Er läßt oft so salbungsvolle Sprüche los.“

Etwas später verabschiedeten sie sich von Diego, der ihnen noch nachrief, sie möchten nicht vergessen, ihn heute abend zu beehren, und gingen den Serpentinenweg nach unten.

„Das vergessen wir ganz bestimmt nicht“, versprach Ed. „Gehst du heute abend mit, Sir?“

„Nein, ich glaube nicht. Ich werde mich mit Jean und Dan mit dem Unternehmen befassen.“

„Schade“, bedauerte Ed, „aber was sein muß, muß sein.“ Wobei er offenließ, was er nun genau meinte: daß Hasard an Bord blieb oder daß er, der Profos, unbedingt heute abend zu Diego mußte.

Seewölfe Paket 22

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