Читать книгу Felida - Rudolf Jedele - Страница 10
Verstoßen
ОглавлениеEs kam, wie es den Gesetzen der Natur entsprechend kommen musste.
Der Geruch eines paarungsbereiten Weibchens zog sich durch die Dunkelwelt und erreichte ein Männchen. Ein ausgesprochen starkes Männchen, stark genug um die Reviere der fünf oder sechs Weibchen in seinem Einzugsgebiet gegen jedes andere Männchen verteidigen zu können.
Es gab eine ganze Reihe anderer Männchen, denen der Duft des Weibchens derart verlockend in die Nüstern stieg, dass sie unruhig und vor Anspannung zitternd in ihren Grotten und Höhlen hockten und sich dennoch nicht trauten, dem Duft zu folgen.
Die Präsenz des starken Männchens war übermächtig.
Die Mutter und das Männchen trafen sich auf einer Jagd ganz in der Nähe der Stelle, wo das Revier der Mutter eine gemeinsame Grenze mit dem Revier zweier anderer Weibchen bildete. Das Kind war an der Seite der Mutter und so wurde es zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Dunkelwesen des anderen Geschlechts konfrontiert.
Das beherrschende Gefühl war Furcht.
Dieses Wesen, dieses Männchen strahlte eine alles beherrschende Dominanz aus, der sich ein paarungsbereites Weibchen niemals würde entziehen können. Diese Dominanz bildete auch zugleich den Schutzschild, der andere Männchen daran hinderte, in den Dunstkreis dieses Revierfürsten einzudringen. Es sei denn, ein anderes Männchen fühlte sich plötzlich stark genug, das dominante Männchen herauszufordern.
Ein solcher Konkurrent war nirgendwo in Sicht und schon aus diesem Grund war das Auftreten des Männchens noch eindrucksvoller. Er war der Alleinherrscher und wusste es.
Seine Aura war von tiefem Rot, mit einem Stich ins Violette, er strahlte eine ungeheure Kraft aus. Ganz sicher war er um einen Kopf größer als die Mutter und fast doppelt so breit. Seine Muskeln arbeiteten mit absoluter Präzision und geringstem Energieaufwand und seine Bewegungen waren so fließend wie Wasser und so geschmeidig wie die einer großen Schlange.
Das Männchen war aus der Dunkelheit eines der vielen Stollen aufgetaucht, die an dieser Stelle in eine kleine Halle mündeten. Im Zentrum dieser Halle befand sich eine Quelle mit frischem Wasser, an der die Mutter mit ihrem Kind regelmäßig ihren Durst stillte. Das Männchen bewegte sich absolut lautlos, doch die Überlebensinstinkte des Kindes waren geschärft und so erfolgte seine Annäherung nicht heimlich sondern wurde ganz genau von zwei Augenpaaren beobachtet.
Die Mutter fixierte das Männchen, erkannte seine herrschsüchtige Dominanz, seine überragende Kraft und sofort verstärkte sich ihr Duft in einem Maße, der sich fast wie eine Betäubung über alle anderen Gerüche legte und bei dem Männchen für kurze Zeit selbst die Fressgier dämpfte und ihm die Lust am Töten nahm. Zeit genug, damit sich das Kind in Sicherheit bringen konnte. Zeit genug um wegzulaufen oder zumindest einen ausreichend großen Abstand zwischen sich selbst und das Männchen zu bringen.
So hätte das Kind reagieren müssen, so war es in seinem Instinkt verankert.
Dummerweise aber hatte das ergiebige Nahrungsangebot im Revier nicht nur das Wachstum des Kindes beschleunigt, sondern auch die Entwicklung zur eigenen Geschlechtsreife vorangetrieben. Das Kind war nur noch einen Fingerbreit davon entfernt, selbst Weibchen zu sein und es verspürte bereits das brennende Ziehen zwischen den Beinen, das der ersten Blutung und der ersten Fruchtbarkeit voraus ging. Das Kind lief nicht weg. Sein Interesse an dem Männchen war mehr als übergroß, doch leider war sein Körper eben doch noch nicht reif genug, um ebenfalls den Duft der Paarungsbereitschaft zu erzeugen und so einen gewissen Schutz über das Kind zu legen.
Das Männchen blieb kaum zehn Schritte entfernt von Mutter und Kind stehen, es stützte sich mit seinen langen Armen und den Knöcheln seiner Finger leicht auf dem Boden ab, sein Kopf drehte sich ein wenig hin und her und seine Augen beobachteten Mutter und Kind in höchster Aufmerksamkeit.
Ein klein wenig war das Männchen verunsichert, denn das Kind war noch nicht zur Paarung bereit und hätte eigentlich blitzartig die Flucht ergreifen müssen. Nun musste sich das Männchen entscheiden, ob es sich zuerst auf das Kind stürzen, es töten und später fressen sollte, oder ob es nicht richtiger war, sich gleich um die hochgradig erregte und empfangsbereite Mutter zu kümmern und später auf die Jagd nach dem Kind zu gehen.
Die Mutter nahm dem Männchen die Entscheidung ab.
Was immer es war, in Dunkelwelt spielte sich normalerweise alles nahezu vollkommen lautlos ab. Doch diese Störung des Paarungsrituals durch das fast erwachsene Kind ließ die Mutter unüblich wütend werden.
Sie fuhr herum, riss das mit scharfen Zähnen gespickte Maul weit auf, stieß ein heißeres Fauchen aus und ihre rechte Hand zuckte mit weit ausgefahrenen Krallen auf den Hals des Kindes zu.
Ein lebensbedrohlicher Angriff der Mutter!
Nur ein blitzschneller Fluchtsprung zurück rettete dem Kind das Leben, doch noch während des Sprungs begriff es, was dieser Angriff zu bedeuten hatte.
Ihre Zeit im Schutz der Mutter war zu Ende.
Ein Männchen war aufgetaucht und würde sich nun so lange wieder und immer wieder mit der Mutter paaren, bis deren Befruchtung absolut sicher gestellt war. Und danach würde alles anders sein, als es bisher gewesen war. Das Kind begriff, dass es soeben zum letzten Mal neben der Mutter an der Quelle gekauert hatte und es begriff, dass die Mutter es nicht nur aus ihrem Revier verjagen würde, sondern künftig nicht die geringsten Hemmungen zeigen würde, das eigene Kind zu töten und zu fressen.
Das Kind gab ängstliche Sonartöne von sich, er lockte die Mutter mit den zarten Lauten eines kleinen Kindes, das gesäugt werden wollte und es versuchte sich vorsichtig wieder näher an die Mutter heran zu pirschen.
Das Ergebnis war fatal.
Nur mit Glück und den unglaublichsten Reflexen gelang es dem Kind, sich der wütenden Attacke der Mutter zu entziehen. Nur eine Winzigkeit trennte das Kind noch vom Tod und davor, der Mutter und dem Männchen nach vollzogener Paarung als Nahrung zu dienen.
Ein eindeutigeres Signal gab es nicht.
Das Kind wandte sich ab und verschwand lautlos in der Dunkelheit eines der Stollen, während die Mutter sich dem Männchen zuwandte, um der Natur gehorchend die Paarung zu beginnen.
Das Kind lief zunächst planlos durch die Stollen, doch schon bald musste es feststellen, dass es in Dunkelwelt ein Meldesystem zu geben schien, das alle anderen Wesen vom geänderten Status des Kindes informierte. Bislang war ein starkes Weibchen, begleitet von ihrem fast ausgewachsenen, weiblichen Kind durch die Stollen gehuscht und niemand hatte sich getraut, auf das Kind Jagd zu machen. Jetzt aber war das starke Weibchen dabei, sich wieder zu paaren und damit war der Schutz über das vorherige Kind aufgehoben. Sofort begannen die Weibchen der angrenzenden Reviere auf das Kind Jagd zu machen.
Es ging dabei nicht einmal so sehr um die Nahrungsbeschaffung, sondern vielmehr darum, sich eine junge Konkurrentin bei der Jagd und – schon bald – auch bei der Fortpflanzung vom Hals zu schaffen. Niemals würde ein Weibchen sein Revier freiwillig mit einem anderen, fremden Weibchen teilen, also musste das Kind gejagt und am besten auch zur Strecke gebracht werden.
Zwei Angriffe überstand das Kind nur mit sehr viel Glück, danach wurde es vorsichtig. Auf die danach folgenden Angriffe war das Kind vorbereitet und verstand es sich diesen entweder durch schnelle Flucht zu entziehen oder sich in eine geeignete Verteidigungsstellung zurück zu ziehen und so den Angriff zu überstehen. Auf Grund seiner Größe und der Tatsache, dass das Kind keinerlei Revieransprüche geltend machen wollte, verzichteten die anderen Weibchen auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang und begnügten sich damit, das Kind zu verjagen. Doch das weitaus größere Problem als die Weibchen waren die mörderischen Männchen.
Da der Pascha noch immer mit der Mutter des Kindes beschäftigt war, nahmen sich die weniger dominanten Männchen die Freiheit, in seinem Revier ein wenig zu wildern. Sie versuchten sich als Verführer an den Weibchen des Reviers und sie jagten sein Wild. Das Kind gehörte zu letzterem.
So kam es, dass sich das Kind schon bald wieder in derselben Situation befand, wie sie gewesen war, bevor es mit der Mutter hatte nach oben steigen können. Ihre Fluchten führten sie immer tiefer in den Bauch der Erde hinein, dorthin, wo die Luft wieder dünn und die Nahrung mager war. Die aufgebauten Fettreserven schwanden dahin und durch die ununterbrochene Flucht und die ständig erforderliche Wachsamkeit wurde das Kind wieder zu dem nervös reagierenden, hyperaktiven Dunkelwesen, das es zuvor schon einmal gewesen war.
Unstet wanderte es durch die Stollen, immer auf der Suche nach Wasser und Nahrung und nach einem Platz, an dem es sich wenigsten für kurze Zeit ein wenig ausruhen und entspannen konnte. Jede fette Made, die sie fand, wurde gierig verschlungen, die wenigen Mäuse und Ratten, die sich so tief hinab noch verirrten wurden zum Festmahl für sie und ein winziges Loch, durch das sie sich mit Mühe und Not zwängen konnte, bedeutete häufig, dass dahinter ein halbwegs sicherer Platz zum Ausruhen lag.
Irgendwann hatten die anderen Dunkelwesen das Kind soweit nach unten gedrängt, dass es den tiefsten Grund der Stollensysteme und Hallen erreicht hatte. Hier nun fand das Kind endlich ein wenig Ruhe, denn in dieser Tiefe hielt sich kein Dunkelwesen freiwillig und lange auf.
Die Luft war so dünn, der Sauerstoffgehalt so niedrig, dass das Kind aus dem Schlaf kaum mehr herausfand. Es hatte sich durch einen schmalen Spalt in eine Nische gezwängt und war sich sehr sicher, dass ihr durch diesen Spalt kein jagendes Dunkelwesen folgen konnte. Dort lag es nun, wimmerte fast lautlos in sich hinein und fühlte sich unsagbar einsam. Das Kind begann zu überlegen.
„Weshalb müssen Dunkelwesen einsam leben? Wieso musste Mutter mich verjagen und wieso konnte ich nicht oben, in den guten Revieren weiter leben? Ich hätte Mutters neuem Kind ganz sicher nie etwas angetan und die oberen Reviere bieten Nahrung genug, um auch mich noch auszuhalten. Wäre Mutter nicht besser dran, wenn ich bei ihr geblieben wäre? Was, wenn ein anderes, noch stärkeres Weibchen ihr das Revier streitig macht? Sie hätte das Revier vielleicht gar nicht gewonnen, wenn das Kind nicht dabei gewesen wäre und eingegriffen hätte. Hatte die Mutter das gar nicht bemerkt?“
Dunkelwesen dachten für gewöhnlich über solche Dinge nicht nach. Sie verhielten sich entsprechend ihrer Traditionen und entsprechend den Gesetzen des Stärkeren. Das Kind wäre bestimmt auch nie zum Nachdenken gekommen, wäre seiner Mutter zu einem früheren Zeitpunkt während der Paarungsbereitschaft ein Männchen begegnet. Nur die lange Zeit des beinahe sorgenfreien Heranwachsens hatten solche Gedankengänge ermöglicht und gefördert. Doch nun, da es in der hungrigen Einsamkeit der tiefsten Ebene von Dunkelwelt lag und mit seinem Schicksal haderte, waren solche Gedanken kaum vermeidbar.
Es verging einige Zeit, in der das Kind mangels Nahrung, Wasser und Sauerstoff immer mehr in Lethargie versank und das winzige Versteck nur noch ganz selten verließ. Dann aber ergab sich etwas, das alles veränderte.
Das Kind war aus der engen Spalte geschlüpft und hatte so ganz beiläufig festgestellt, wie einfach dies gewesen war, weil wirklich kein noch so kleines Fettpölsterchen mehr auf seinem Körper existierte. Jetzt machte es sich auf den Weg zu der winzigen Quelle am Ende eines der Stollen und dann, wenn der brennende Durst gestillt war, hoffte das Kind wenigsten einmal wieder eine Made oder zwei aus dem Boden wühlen zu können um den gröbsten Hunger ein wenig zu stillen. Aber als das Kind den Stollen verlassen wollte, vernahmen seine feinen Ohren plötzlich das Tappen mehrerer weicher, kleiner Füße und als das Kind genauer lauschte, erkannte es die Bewegungen mehrer Ratten, die sich in diese Tiefe herunter verirrt haben mussten. Sofort war der Jagdinstinkt des Kindes da, sofort stellten sich alle seine Wahrnehmungssysteme auf die Beute ein, das Kind lief los, flitzte durch die Stollen, nahm immer stärker die Witterung der Beute auf und schon waren die Ratten in greifbarer Nähe.
Dem Kind lief der Speichel im Rachen zusammen, denn es sah sechs wohl genährte, fette Ratten vor sich und die Tiere schienen völlig arglos zu sein, So tief unter der Erde rechneten selbst Ratten nicht mehr mit Jägern. Ein perfekter Sprung brachte das Kind mitten hinein in die Rattenfamilie, die Hände zuckten hin und her und die scharfen Krallen verrichteten ihre blutige Arbeit.
Sechs Ratten füllten den Bauch des Kindes fast bis zum Platzen. Träge lag es in seinem Versteck, fühlte wie die Nahrung sich in seinem Bauch aufzulösen begann, wie die Verdauungssäfte des Magens die Beute verarbeiteten und Energie in den Körper des Kindes zurück brachten.
Wieder begann das Kind nachzudenken und dann beschloss es spontan, nicht hier unten, auf der tiefsten Ebene von Dunkelwelt zu bleiben. Frisches Fleisch, warmes Blut, blitzschnelles Angreifen und lautloses Töten, das war es, was ihr Leben ausmachte. Das und nicht das untätige Herumlungern in einem engen Versteck, das Fangen von kümmerlichen Maden und das angstvolle Herumschleichen.
Sie war eine Jägerin und die Mutter hatte ihr alles gezeigt, was eine gute Jägerin ausmachte.
Das Kind beschloss, die Situation zu nutzen und unter dem Einfluss der frisch gewonnen Energie wieder hinauf zu steigen und sich dort oben einen Platz zu erkämpfen. Das Kind war in der Einsamkeit der tiefsten Ebene endgültig erwachsen geworden.