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Die Flucht

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Wieder waren die Führer des Stammes zusammen gekommen.

Eine traurige Versammlung, die ganz dem Anlass der Zusammenkunft entsprach. Ein Nachbarstamm, bis vor wenigen Monden bestens mit den Moak befreundet, hatte diese Freundschaft für beendet erklärt und zugleich Anspruch auf das gesamte Stammesgebiet der Moak erhoben. Der Niedergang der Moak war damit auf einem vorläufigen Tiefpunkt angelangt.

Es war aussichtslos, gegen die ehemaligen Freunde zu kämpfen, denn aus den einstmals etwas mehr als zweihundert Köpfen der Moak waren innerhalb eines Jahres weniger als hundert geworden. Damit waren die Moak zwar immer noch ein großer Stamm, doch wer diese hundert Menschen sah, erkannte, dass sie für keinen Angreifer mehr einen würdigen Gegner abgeben konnten. Halb verhungert, abgerissen und hoffnungslos, so lebten sie mehr schlecht als recht in ihrer alten Höhle und ihre Kraftlosigkeit zeigte sich schon darin, dass sich der Unrat rings um den Vorplatz bereits zu kleinen Hügeln auftürmte. Niemand hatte mehr Interesse daran, den Sitz des Stammes sauber zu halten. Es spielte keine Rolle mehr, denn die Moak waren dem Untergang geweiht.

Nargo war zwar immer noch der Häuptling und Singan unverändert der Schamane, doch sie beide waren nichts anderes, als das was sie immer gewesen waren:

Die Personifizierung des Stammes.

Dementsprechend war auch das Auftreten dieser beiden einstmals so beachtlichen Männer. Doch nun, in einem letzten Aufbäumen wollten sie es noch einmal allen zeigen. Nargo war der Meinung, dass es die letzte Pflicht des Stammes der Moak war, sich dem Angriff der Nachbarn zu stellen und in einem letzten, heroischen Kampf zu sterben. Er schlug also vor, den Angreifern entgegen zu ziehen, sich in einer offenen Schlacht zu stellen und gemeinsam in den Tod zu gehen. Er sah sich im Kreis seiner Freunde und Berater um und wähnte schon auf uneingeschränkte Zustimmung zu seinem Vorschlag zu stoßen, als der zweite Helfer des Schamanen, der junge Wento die Hand hob und um das Wort bat.

„Ist euch aufgefallen, dass es in unserem Stamm einen jungen Jäger gibt, der nicht in Angst und Hoffnungslosigkeit versunken ist, sondern unverdrossen und immer weiter um unser Überleben kämpft? Ist euch bewusst geworden, dass alles, was wir in den letzten Monaten gegessen haben, aus den Jagdzügen dieses jungen Jägers stammte und dass er dazu nicht nur seinen Kopf benutzt, sondern auch immer weitere Wege in Kauf genommen hat?

Ich rede von Nargos Sohn, ich rede von Mungo.

Seit er gelernt hat, seinen Speer mit einer Art Schleuder zu werfen, gelingt es ihm ab und zu selbst in unserem Gebiet ein Stück Wild zu erlegen, denn das Wild kann seine größere Reichweite nicht einschätzen. Weshalb benutzen wir nicht alle einen solchen Speerwerfer?

Mungo ist es auch, der uns berichtet hat, dass es weiter im Norden, am Rand des Gebirges sehr viel milder ist, als hier und dass es dort riesige Steppen gibt, die voll sind von jagdbarem Wild und dass es ihm immer ein Leichtes war, dieses Wild zu jagen. Doch das erlegte Wildbret zu uns in die Höhle zu bringen stellt das weitaus größere Problem dar.

Ich schlage vor, dass wir den jungen Jäger Mungo hören und auf Grund seines Wissens und seiner Erfahrungen entscheiden, was wir tun müssen, um den Stamm der Moak vielleicht doch noch zu retten.“

Ein ungewöhnlicher Vorschlag. Ein Vorschlag, der zu früheren Zeiten nicht einmal abschätziges Gelächter sondern sogar strenge Unwilligkeit ausgelöst hätte. Doch jetzt, da die Lage so verzweifelt war, fand Wentos Vorschlag die Zustimmung der Mehrheit und Mungo wurde zur Beratung gerufen.

Nargo bat den jungen Jäger über seine Wanderungen an den Nordrand des Gebirges zu berichten und Mungo kam dieser Aufforderung voller Begeisterung nach.

Dort, so berichtete er, wo die letzten Berge sich hinunter in die weiten Ebenen der Steppe verliefen, gab es eine Art Paradies für jeden Stamm, der von der Jagd lebte. Die Steppen wimmelten nur so von jagdbarem Wild, lediglich auf die gewohnte Beute, die Gämsen, Steinböcke und Mufflons würde man teilweise verzichten müssen, denn sie kamen nur noch sehr spärlich dort vor. Stattdessen aber gab es dort riesige Herden von Hirschen unterschiedlichster Art, zahllose Gazellen und Antilopen, riesige wilde Rinder mit dichtem Pelz und noch weitaus riesigere mit glattem, pechschwarzem Fell und gewaltigen Hörnern. Er berichtete auch von Raubwild, das er in den Steppen gesehen hatte. Wölfe, deren Rücken ihm bis über die Hüfte reichten und Löwen, deren Schulterhöhe die eines groß gewachsenen Mannes erreichen konnten. Hyänen und Schakale, Otter und Marder aller nur erdenklichen Arten, Fuchs und Dachs, alles war vorhanden und alle fanden reichlich Nahrung.

In der Steppe gab es Gräser, an denen die Samen in dicken Ähren hingen und Kräuter und Wurzeln, Pilze und Farne, ja sogar große Bäume mit essbaren Früchten hatte er entdeckt.

Mungo beschrieb das Land so anschaulich, dass seine Zuhörer das Gefühl bekamen, schon selbst dort gewesen zu sein.

Nargo aber wollte am Ende von Mungos Bericht wissen:

„Du schlägst also vor, dass wir unser Jagdgebiet an den Rand des Gebirges verlegen und bis in das flache Land hinunter jagen? Und du bist dir sicher, dass das Urteil, das die Geister der Herden gegen uns gesprochen haben, dort nicht wirksam ist? Ist es das, was du uns sagen willst, mein Sohn?“

„Nur zum Teil. Ich will euch sagen, dass ich keinerlei Mühe hatte, dort Beute zu machen. Der Fluch der Geister wirkt sich dort nicht mehr aus. Ich will euch sagen, dass wir dort Jagdgründe finden werden, die unseren Stamm wieder stark und angesehen machen werden. Ich will euch aber auch sagen, dass es keinen Sinn macht, dort zu jagen und hier zu leben. Der Weg dorthin ist mühsam und beschwerlich und voller Gefahren. Ich fürchte, es würde uns mehr kosten dort zu jagen, als es uns einbrächte.“

Die Enttäuschung in den Gesichtern der Zuhörer war unübersehbar und riesengroß. Doch was hatte man sich denn erwartet? Was war von dem Bericht eines jungen Jägers zu erwarten, der noch kein Mann war und noch nicht in die Verantwortung für den Stamm eingebunden war? Die Versammelten unterhielten sich murmelnd und mürrisch über die vertane Zeit und über die unberechtigt geweckten Hoffnungen, dann aber wollte man sich wieder mit der Planung des Kampfes gegen den Nachbarstamm beschäftigen.

Mungos Auftritt vor der Stammesversammlung wäre zu Ende gewesen, hätte nicht der alte Schamane Singan etwas aus Mungos Bericht entnommen, das der Junge sich so einfach nicht zu sagen getraut hatte. Noch ehe Nargo seinen Sohn wieder wegschicken konnte, erhob sich Singan, wandte sich direkt an Mungo und wollte wissen:

„Mein Junge, du hast uns noch nicht alles gesagt. Da ist etwas, das du uns verschwiegen hast. Was ist es, das du dich nicht zu sagen getraut hast. Sag es ohne Scheu, sprich aus, was du weißt und was du denkst. Ich bitte dich darum.“

Niemand im Stamm hatte jemals erlebt, dass der Schamane um etwas gebeten hatte. Er und der Häuptling baten nicht, sie trafen Entscheidungen und der Rest des Stammes akzeptierte diese Entscheidungen. Doch extreme Situationen rechtfertigten ja vielleicht auch außergewöhnliche Handlungsweisen…

Mungo sah ein paar Atemzüge lang vor sich hin, dann hob er den Kopf, strich sich eine Strähne seines langen, fuchsroten Haars aus dem Gesicht und begann mit leiser Stimme erneut zu reden.

„Ja, ich habe etwas verschwiegen. Ich habe verschwiegen, dass ich euch vorschlagen wollte, diese Höhle, unser angestammtes Stammesgebiet, das Gebirge, einfach alles, was wir bisher als Heimat bezeichnet haben zu verlassen und nach Norden zu ziehen. Ich kenne den Weg und ich kann nicht versprechen, dass es eine leichte Wanderung werden wird. Im Gegenteil. Viele von uns werden unterwegs sterben, doch dann wird ihr Tod einen Sinn ergeben. Wenn wir aber hier bleiben und uns in einen irrsinnigen Kampf zwingen lassen, werden wir alle sterben.

Alle, aber ohne Sinn.“

Mungos Vorschlag war, als hätte er der Versammlung mit der geballten Faust ins Gesicht geschlagen. Ein junger Jäger schlug vor, die Heimat zu verlassen, das Stammesgebiet aufzugeben, in dem die Moak seit Generationen und aber Generationen vor ihnen gelebt hatten und gestorben waren?

Es wurde laut in der Versammlung. So laut, dass Nargo sogar befürchtete, es würde zu handfestem Streit und zu Raufereien kommen. Er sah zu Singan hinüber und er war froh, als er erkannte, dass der Schamane noch etwas zu sagen hatte. Außerdem war er erstaunt, als er in den Augen des Schamanen ein hoffnungsfrohes Glitzern und eine ungewohnte, von innen heraus kommende Kraft zu entdecken glaubte.

Nargo stand auf.

Er richtete sich zu seiner vollen Größe von etwas mehr als sieben Fuß auf und stieß mit dem Schaft seines Speers so lange auf den Boden, bis er sich in der Versammlung Gehör verschaffen konnte. Dann, als es ruhig geworden war, erteilte er Singan das Wort.

Die tiefe Stimme des Schamanen zog wie gewohnt die Versammelten rasch in ihren Bann.

„Ihr alle seid empört, über das, was euch ein junger Jäger vorgeschlagen hat. Ihr alle wollt lieber zusammen mit unserem Häuptling den Weg der Ehre gehen und lieber hier, in unserem Heimatgebiet sterben, als davon zu laufen. Ich verstehe euch und doch muss ich euch sagen, dass der Junge mit seinem Vorschlag Recht hat.

Ich war in den letzten Nächten immer wieder auf Geistreisen und ich habe gesehen, dass unser Stamm sich verändern muss. Die Geister haben es mir gezeigt, doch ich habe es nicht verstanden. Sie haben mir eine Höhle gezeigt, von der aus der Blick ungehindert in weite Fernen schweifen kann und sie haben mir die Herden gezeigt, die der Junge uns beschrieben hat. Doch ich habe die Botschaften nicht verstanden. Nun, da ich Mungos Berichte gehört habe, weiß ich, was die Geister mir zu verstehen gaben.

Wir müssen unsere angestammte Heimat verlassen.

Wir müssen uns auf eine lange und gefährliche Wanderung begeben und es wird einer großen Menge Mutes und viel Kraft bedürfen, um unser Ziel zu erreichen, Viele von uns werden es nicht erreichen, doch das ist nicht von Bedeutung. Viele von uns sind schon sinnlos gestorben und – Mungo hat es richtig erkannt – wir alle werden sinnlos sterben, wenn wir kämpfen. Doch wenn nur eine Handvoll von uns die Wanderung überlebt, werden auch die Moak weiterleben.

Das ist es, wozu wir verpflichtet sind.“

Betretenes Schweigen war die Folge auf Singans Vortrag. Langes Schweigen und dann begannen die zähesten Versammlungsgespräche, die man jemals in einem Stamm der Berge erlebt hatte.

Am Ende setze der Schamane sich durch, die Moak wollten, dass ihr Stamm überlebte.

Nachdem die Entscheidung erst einmal gefallen war, zögerte der Stamm nicht mehr. Schon wenige Tage später war alles auf die Schleppstangen der Travois geladen, was der Stamm in die ungewisse Zukunft mitnehmen wollte. Sie würden sich schwer bepackt auf die Wanderung machen, doch wenn sie die neue Heimat erreichten, würden bald alle Mühen vergessen sein.

Mungo hatte alles beobachtet und er hatte immer wieder davor gewarnt, sich mit so schweren Lasten auf die Wanderung zu begeben.

„Wir haben Wege zu gehen, die für einen Jäger mit kleinster Ausrüstung gefährlich sind. Wie wollt ihr da eure schweren Lasten durch bekommen? Lasst alles hier. Nehmt eure Waffen und ein Schlaffell mit, mehr brauchen wir nicht. Die Frauen sollen einen Grabstock und jede einen Sammelkorb mitnehmen und das muss genügen. Selbst Singans Schmiedewerkzeug muss zurück bleiben, denn nur wenn wir mit kleinstem Gepäck reisen, haben wir Aussicht auf Erfolg, nur dann können wir damit rechnen, dass möglichst viele von uns den Weg durch das Gebirge überstehen.“

Seine Warnungen wurden ignoriert.

Die Moak zogen im Morgengrauen eines Frühsommertages los.

Als sie den ersten Pass erreichten und erkannten, von welcher Art der Aufstieg war, erinnerten sich viele an Mungos Worte, sie ließen ihre schweren Travois zurück und gingen nur noch mit leichtem Gepäck weiter.

Diejenigen, die Mungos Rat nicht befolgt hatten, erreichten die andere Seite des Passes nicht.

Am vierten Tag hatten sie ein Dutzend Pässe überstiegen und jeder dieser Pässe hatte ihnen schweren Tribut abverlangt. Als sie sich am Abend zur Rast und zur Nachtruhe einrichteten, zählte Nargo die Reste seines Stammes durch und kam auf zweiundsechzig Köpfe, davon sechzehn Kinder.

Nach zehn Tagen standen sie vor einem Aufstieg, den Mungo als das letzte Hindernis bezeichnete. Wenn sie diesen Berg überwunden hatten, mussten sie nur noch hinunter steigen und waren am Ziel ihrer Wanderung angekommen.

Es waren noch sechsundzwanzig erwachsene Moak und zehn Kinder, die sich an den Aufstieg machten. Zweimal gerieten sie in einen Steinschlag und als sie den Gipfel erklommen hatten, lebten noch neunzehn Erwachsene und acht Kinder.

Nargo, der Häuptling lebte noch und auch Singan, der Schamane. Der zweite Helfer des Schamanen, der junge Wento war tot.

Diese zweiundzwanzig Überlebenden eines einst stolzen Stammes standen nun auf dem Gipfel eines gewaltigen Berges und sahen in ein Land hinaus, das alle Versprechungen hielt, die Mungo ihnen gemacht hatte.

Eine unendlich weite Ebene erstreckte sich nach Norden und Westen hin, während sie im Süden von der Gebirgskette begrenzt war, aus dessen Tiefe die Moak gekommen waren. Im Osten aber endete die Ebene in einer Entfernung von ein paar Tagesmärschen plötzlich in einem blaugrauen Dunstfeld, das wie eine lange Wand über dem Grasland schwebte und keine weiteren Ausblicke ermöglichte. Selbst vom Gipfel des Berges aus vermochten sie die unfassbaren Mengen riesiger Herden grasfressender Tiere zu unterscheiden, die in der Steppe lebten.

Tief unter ihnen, dort wo nach Mungos Informationen ihre Wanderung zu Ende sein sollte, entdeckten sie ein Plateau, das möglicherweise um ein Geringes größer war, als der Platz vor ihrer alten Höhle und am Südrand des Plateaus, unmittelbar neben dem Weg, den sie hinunter nehmen wollten, war ein dunkler Fleck in den Felsen zu entdecken, dort befand sich eine große Höhle. Rechts des dunklen Flecks spiegelte sich die Sonne in etwas, das nach Mungos Aussage das Becken einer Quelle war und aus dieser spiegelnden Fläche kam ein kleiner Bach, der sich am Fuß der Felsen entlang bis zur nördlichen Kante des Plateaus schlängelte, wo er verschwand.

Unter Mungos Anleitung machten sie sich behutsam und vorsichtig an den Abstieg und so kamen sie tatsächlich vollzählig und ohne weitere Verluste dort unten an und standen staunend auf der Fläche einer Plattform, deren Abmessungen ihnen von oben her gar nicht bewusst geworden war.

Alles war anders, alles war größer und beeindruckender, als es von der Höhe des Gipfels aus gewirkt hatte und der dunkle Fleck im Fels entpuppte sich als der Eingang in eine Höhle, durch den sicherlich zwei Männer nebeneinander und zugleich gepasst hätten. Wenn die hinter diesem Eingang liegende Höhle ähnliche Dimensionen besaß …

Mungo war schon bei seiner ersten Jagd in der Steppe in der Höhle gewesen und wusste, dass sie mehr als fünfmal so groß war, wie ihre alte Höhle und zudem aus mehreren Kammern bestand. Was Mungo allerdings nicht wusste, war die Tatsache, dass sich eine Schwarzbärin diese Höhle im vergangenen Herbst als Schlafplatz für den Winter ausgesucht hatte und dass diese Bärin genau in dem Augenblick aus dem Winterschlaf erwachte, als die fröhlich lärmenden Menschen das Plateau zu untersuchen begannen.

Felida

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