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Der Überfall
Оглавление2017, Im Norden von Kisumu (Kenia)
Sie waren in der Nacht geflohen, als die Bewaffneten kamen und von jeder Familie im Dorf Nahrung forderten. Manga hatte nichts geben können, so dass sie ihren Mann Magoma mit einem Knüppel auf den Kopf schlugen bis er leblos liegen blieb. Sie warf sich über ihn und konnte keinen Herzschlag und keinen Atem mehr spüren, während die Männer schreiend und johlend weiter zur Nachbarhütte gezogen waren. Sie richtete sich auf und sah vorsichtig hinaus durch das Fensterloch, wo Feuer brannten und Dorfbewohner planlos hin und her liefen.
„Ich muss meine Kinder retten“, durchfuhr es sie. Sie nahm ihr jüngstes, fünfjähriges Kind und gab den anderen leise den Befehl nach Osten in Richtung des Waldes zu laufen. Dann wartete sie noch einige Minuten und verließ selbst die Hütte mit dem Kleinsten an der Hand. Deckung suchend ging sie langsamen Schrittes von einer Hütte zur anderen, bis sie aus dem Dorf heraus war und etwa einen Kilometer entfernt im Schutz einiger Bäume die Silhouetten ihrer übrigen Kinder sah. Sie hörte einen Schuss hinter sich und rannte schneller, bis sie die Kinder erreicht hatte. Alle liefen weiter in Richtung Osten und nach einer Viertelstunde gelangten sie zu dem kümmerlichen Wald, wo es verboten war, Holz zu holen, außer dem, das am Boden lag. Es gab kein Unterholz, in dem man sich verstecken konnte, weshalb Manga ihre Kinder antrieb, so weit wie möglich vom Dorf wegzukommen.
Sie gingen mehrere Stunden, überquerten einen ausgetrockneten Bach und machten Rast unter einem großen Baum. Die Sonne ging allmählich unter und die jüngeren Kinder stellten Fragen zu den Männern. Manga nahm an, dass es sich um Rebellen aus dem westlichen Nachbarland handelte. Was würde jetzt im Dorf passieren? Sie musste mit dem Schlimmsten rechnen. Alle drängten sich eng zusammen. Es wurde kaum noch gesprochen, alle hatten Hunger und Latifa, die unterwegs nach essbaren Früchten, Körnern und Gräsern Ausschau gehalten hatte, teilte diese nun aus. Latifa tat immer etwas Praktisches.
Als die Sonne wieder aufging hatten sie etwas geschlafen. Manga überlegte, ob es besser sei, abzuwarten oder Latifa, die jetzt elf Jahre alt war, als Kundschafterin zurückzuschicken. Oder ihren fünfzehnjährigen Sohn, der zwar nicht so schlau wie seine Schwester war, aber ein Junge. Doch sie hatte gehört, dass Rebellen Jungen in seinem Alter mitnahmen, um Soldaten aus ihnen zu machen, und das wäre ein schreckliches Schicksal gewesen. Also entschied sie sich dafür, noch einen Tag und eine Nacht hier auszuharren. Sie schickte alle Kinder aus, Essbares zu sammeln, denn viele Früchte enthielten etwas Flüssigkeit, was zumindest den quälenden Durst ein wenig lindern sollte.
Erst am nächsten Morgen brachen sie auf und als sie in Sichtweite des Dorfes kamen, über dem dichte Rauchwolken standen, wusste Manga, was geschehen war. Vorsichtig näherten sie sich den Hütten, die mit ihren Bestandteilen aus Lehm und getrocknetem Kot genug brennbares Material enthalten hatten. Totenstille lag über dem Dorf und auch ihre Hütte war ein Raub der Flammen geworden. In der Mitte der Brandruine lag die verkohlte Leiche ihres Mannes, neben dem großen verbeulten Metalltopf, mit dem sie vor zwei Tagen noch gekocht hatte. Alle suchten tief bedrückt nach etwas Brauchbarem, doch es gab so gut wie nichts mehr, bis auf ein Messer, das Latifa in einer Ecke der Hütte vergraben hatte. Das würde nützlich sein.
Sie durchsuchten die ebenfalls abgebrannten und ausgeraubten Nachbarhütten. Überall lagen Leichen, doch von den wenigen Tieren im Dorf, wie den Hühnern, gab es keine Spur. Aus Ogondos Hütte hörten sie ein leises Stöhnen. Manga und Latifa drängten sich durch den Eingang, von wo aus sie ihn am Boden liegen sahen, den großen, weisen Ogondo, der zuletzt zum Dorfältesten aufgestiegen war. Er blutete aus einer Wunde am Kopf und seine Beine und Arme wirkten verkrümmt, doch er atmete. Er schlug seine blutverkrusteten Augen auf.
„Manga, Latifa“, hauchte er kaum hörbar. „Ihr seid entkommen? Hier lebt nichts mehr. Auch den Brunnen haben sie zerstört und Leichen hineingeworfen.“
„Was sollen wir nur tun?“ fragte Manga verzweifelt.
„Für mich könnt Ihr nichts mehr tun. Halte meine Hand, damit ich nicht so allein bin, wenn ich sterbe.“
Latifa weinte, aber Manga war tränenlos. Ogondo fuhr fort.
„Ihr könnt bei mir wachen. Es wird nicht mehr lange dauern. Es waren Rebellen aus Uganda und sie haben mir den ganzen Körper zerschlagen. Geht schnell fort, nach Süden in die Stadt am großen Victoriasee, nach Kisumu, das sind einige Tagesmärsche.“
Der alte Mann konnte vor Schwäche kaum noch sprechen. Immer wieder lief das Blut in dünnem Rinnsal aus seinem Mund und Manga musste sehr nah an ihn herangehen, um ihn zu verstehen.
„Ihr werdet an anderen Dörfern vorbeikommen, seht zu, dass man euch etwas zu essen gibt. Fragt in Kisumu nach Mweru, sie wird euch versorgen und dann geht weiter nach Süden in das Hochland bis nach Nairobi.“
Manga hatte seinen Oberkörper auf ihren Schoß gezogen und hielt mit beiden Händen seinen Kopf. Er hatte die Augen geschlossen und atmete kaum noch. Lange saßen sie und Latifa schweigend an Ogondos Seite und Manga glaubte, dass er keine Regung mehr zeigen würde. Doch dann schlug der weise Mann die Augen noch einmal auf. Es war mehr ein Stöhnen, das sie wahrnahmen, doch Manga verstand seine Worte.
„Lass Latifa dort in die Schule gehen. Sie soll leben, also muss sie lernen. Wenn das alles hier nur dafür gut war, dann hatte es einen Sinn.“
Manga drückte seine Hand und sie spürte, wie sein Gegendruck langsam nachließ. Ogondo hatte sich auf den letzten Weg gemacht und als sie in Latifas tränende Augen sah, konnte auch sie plötzlich wieder weinen. Wie ein Wasserfall drang es aus ihr heraus, so als würde sich alles, was in den letzten Jahren geschehen war, nun auf einmal seinen Weg bahnen.
„Ogondo, ich danke Dir für alles, was ich bei Dir gelernt habe“, schluchzte Latifa und sah dabei, dass der alte Mann noch einmal die Lippen bewegte.
„Auch da, wo Ihr hinkommt, herrscht nicht Frieden und Gerechtigkeit. Doch Ihr werdet dort Menschen treffen, die guten Herzens sind, und mit ihnen daran mitwirken, dass das eines Tages Wirklichkeit sein wird.“
Es waren seine letzten Worte und Manga blieb noch eine Stunde bei ihm, bis sie aufstand und hinausging, wo ihre übrigen Kinder auf sie warteten. Die Sonne brannte so stark, wie sie es gewohnt waren. Sie ließ von den Kindern die Hütten nach Vorräten, Blechdosen und Blechnäpfen durchsuchen. Dann brach die Familie auf. Latifa ging voran und während die kleine Gruppe das Dorf verließ, das bis heute ihre Heimat war, ließ Manga ihre Kinder ein Gebet zu Onyiru sprechen.