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aa) Verfahren vor dem BVerfG

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Das BVerfG kann mit „Unionsrechtssachen“ sowohl in den Verfahren der abstrakten (Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG) und konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG[233]) als auch des Organ- (Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG) und Bund-Länder-Streits (Art. 93 Abs. 1 Nr 3 GG[234]) sowie der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG[235]) befasst werden. Der vom BVerfG als „denkbar“ erwähnte Ansatz eines speziell auf die Ultra-vires- und Identitätskontrolle bezogene Verfahren[236] wurde zu Recht nicht aufgegriffen.

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Prüfungsgegenstand können aber nur Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt sein. Solche liegen noch nicht vor, wenn ein deutsches Organ an einem Akt der Unionsorgane (zB Verordnungen oder Richtlinien des Rates) mitwirkt. Daher ist zB die Verfassungsbeschwerde gegen eine Verordnung des Rates unzulässig[237].

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Angegriffen werden können allein die Begründungs- oder Vollzugsakte eines deutschen Organs, also das Zustimmungsgesetz (= Vertragsgesetz) zu einem Gründungs- oder Änderungsvertrag des primären Unionsrechts[238], Beschlüsse über das deutsche Abstimmungsverhalten im Rat[239] oder der Vollzug von Unionsrecht (Verordnungen) oder deutschem Durchführungsrecht (Gesetze zur Umsetzung von Richtlinien) durch deutsche Behörden oder Gerichte[240].

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Insbesondere wegen der ausdrücklich hervorgehobenen Abweichung vom Eurocontrol-Beschluss[241] konnte der Leitsatz 7 des BVerfG im Maastricht-Urteil Verwirrung stiften, auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation beträfen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland und berührten damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des BVerfG, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand hätten. Dadurch weckte das BVerfG Zweifel, ob es den Prüfungsgegenstand unzulässig erweitern und auf Akte der Unionsorgane selbst erstrecken will. Die Aussage des BVerfG ist an sich zutreffend, da sie die Pflicht des BVerfG zur Wahrung des Grundgesetzes gegenüber allen Akten deutscher Staatsgewalt, auch solchen, die Unionsrecht begründen oder vollziehen, festhält. Diese Wahrung kann und muss aber allein anhand zulässiger Prüfungsgegenstände erfolgen. Dies hat das BVerfG im OMT-Urteil klargestellt (s. Rn 227).

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Von diesen Unionsrechtssachen, in denen das Unionsrecht mittelbar in die Prüfung durch das BVerfG einbezogen wird, sind diejenigen zu unterscheiden, in denen es um die verfassungsrechtliche Pflicht deutscher Organe geht, das Unionsrecht zu beachten.

Beispiel:

Verletzung der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 AEUV als Entzug des gesetzlichen Richters EuGH[242].

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Prüfungsmaßstab ist das Grundgesetz, das allerdings über Art. 23 Abs. 1 GG systemimmanente Relativierungen in den Begründungsakten zu Gunsten der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen zulässt, was konsequenterweise aber auch zu Gunsten der Vollzugsakte gelten muss. Der Prüfungsmaßstab muss also gegenüber Begründungs- und Vollzugsakten einheitlich sein.

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Verfassungsprozessuale Modifizierungen: Das BVerfG hat im Solange II-Beschluss[243] angekündigt, dass es, solange der EuGH einen wirksamen und dem des GG im Wesentlichen gleich zu achtenden Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleiste, „seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen“ werde, sodass entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG unzulässig seien. Da das BVerfG über seine ihm durch das Grundgesetz übertragene Gerichtsbarkeit nicht disponieren darf, kann dies verfassungskonform nur als Modifizierung des Prozedere dahingehend interpretiert werden, dass das BVerfG bei Andauern eines generell verlässlichen Grundrechtsschutzes durch den EuGH es bei einer negativen Evidenzkontrolle bewenden lässt und dies auch in seinen Entscheidungen deutlich macht, was freilich nicht von einer Einzelfallprüfung entbindet (die das BVerfG allerdings ablehnt). Entgegen seinem ursprünglichen Vorhaben[244] ist dies dem BVerfG im Tabak-Beschluss offenbar bewusst geworden[245]. Im Sinne dieser Rechtsprechung durchaus konsequent entschied das BVerfG im Bananenmarkt-Beschluss, dass Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend machen, von vornherein unzulässig sind, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nach Ergehen der Solange II-Entscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken ist[246]. Deshalb muss die Begründung im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Rechtsschutz generell nicht mehr gewährleistet ist[247]. Damit hat das BVerfG eine sehr hohe Hürde für diesen (zur Identitätskonstrolle s. Rn 245) verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutz in Unionssachen errichtet, die aber zugleich viel Schärfe aus dem latenten Grundrechtskonflikt zwischen BVerfG und EuGH nimmt. Die Zurücknahme der Ausübung der Gerichtsbarkeit des BVerfG führt auch dazu, dass die Vorlage eines Gesetzes, das Rechtsakte der EU umsetzt, nach Art. 100 Abs. 1 GG (konkrete Normenkontrolle) an das BVerfG unzulässig ist, wenn das vorlegende Gericht nicht geklärt hat, ob das von ihm als verfassungswidrig beurteilte Gesetz in Umsetzung eines dem nationalen Gesetzgeber durch das Unionsrecht verbleibenden Gestaltungsspielraum ergangen ist. Dies muss vor der Vorlage an das BVerfG gegebenenfalls durch ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH nach Art. 267 Abs. 1 AEUV geklärt werden, unabhängig davon, ob das betreffende Gericht ein letztinstanzliches iS von Art. 267 Abs. 3 AEUV ist[248].

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Das im Maastricht-Urteil betonte „Kooperationsverhältnis“ des BVerfG mit dem EuGH (vgl Rn 249) bedarf der Konkretisierung nicht nur in der Grundrechtsfrage. Hinsichtlich der Ultra-vires-Kontrolle hat das BVerfG deren bereits im Lissabon-Urteil geforderte im Interesse der Einheitlichkeit des Unionsrechts „europarechtsfreundliche“ Handhabung im Honeywell-Beschluss präzisiert:

„Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führt.“ [249]

Gefordert wird somit nicht nur Evidenz, sondern auch „Systemrelevanz“ des Verstoßes[250]. Dabei konzediert das BVerfG dem EuGH unionsadäquate spezifische Auslegungsmethoden und einen Anspruch auf Fehlertoleranz[251]. Es bleibt abzuwarten, ob das BVerfG angesichts der parallelen Zurückhaltung auch die prozessualen Anforderungen des Bananenmarkt-Beschlusses überträgt. Dann träfe auch für die Ultra-vires-Kontrolle das dazu oben (Rn 256) Gesagte zu. Zutreffend ist die ausdrückliche Feststellung der Vorlagepflicht des BVerfG an den EuGH vor einer Entscheidung, die zur Nichtanwendung von EU-Recht führen würde[252].

Neben der im Honeywell-Beschluss aufgestellten Hürden für die Feststellung eines Ultra-vires-Akts bemüht das BVerfG außerdem eine „kooperationsfreundliche“ Auslegung der Akte der Union. Soweit danach eine Auslegung zugänglich ist, in welcher ein Akt der Union nicht als Ultra-vires-Handeln gelten muss, sieht das BVerfG keinen Anlass, seine Kontrollkompetenz auszuüben. So hat das BVerfG im Urteil zur Antiterrordatei eine Auslegung der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Åkerberg-Fransson[253] vorgenommen, nach welcher eine Bindung der Mitgliedstaaten an die GRCh iSv Art. 51 I 1 GRCh nur in „unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben“[254] anzunehmen sei. Jede andere „Lesart“, nach der für eine Bindung der Mitgliedstaaten an die GRCh jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche, stellt jedoch nach Ansicht des BVerfG „offensichtlich“ einen Ultra-vires-Akt dar[255].

Durch dieses Vorgehen konkretisiert das BVerfG die Handhabung des „Kooperationsverhältnisses“ im Konfliktfall.

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Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG zutreffend festgestellt, dass die Kontrollvorbehalte „im Alltag der Rechtsanwendung eher theoretische“, gleichwohl aber grundsätzliche Bedeutung für das Verhältnis der mitgliedstaatlichen und der europäischen Gerichtsbarkeit haben[256], was ebenso für das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten und des Unionsrechts zum nationalen Recht gilt. In der Tat sind Konflikte durch gegenseitige Rücksichtnahme (vgl auch Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV) zu vermeiden. Im Urteil zur Vorratsdatenspeicherung (s. Rn 244) hat das BVerfG ohne Vorlage an den EuGH die EU-Richtlinie selbst so ausgelegt, dass keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken bestanden, daher eine Vorlage gemäß Art. 267 AEUV nicht entscheidungserheblich war, da die Verfassungswidrigkeit allein im deutschen Umsetzungsgesetz lag, das vom EuGH bestätigte Spielräume nicht ausgeschöpft habe. Allerdings hat das BVerfG bestimmte Anforderungen als zur „Identität“ der deutschen Rechtsordnung gehörend postuliert und insoweit die „verfassungskonforme“ Interpretation der Richtlinie vorweggenommen, dadurch auch dem EuGH eine „Vorlage“ geliefert. Der EuGH hat die Richtlinie insgesamt wegen Verstößen gegen EU-Grundrechte für nichtig erklärt. Problematisch ist bei einer solchen „verfassungskonformen“ Auslegung der EU-Richtlinie durch das BVerfG, dass die verbindliche Auslegung dem EuGH zukommt (Art. 267 Abs. 1 AEUV). Mögliche Verfassungsvorbehalte sollten somit in einer Vorlage an den EuGH deutlich gemacht werden. Jedenfalls insoweit ist das Vorgehen des BVerfG in der OMT-Vorlage zutreffend[257].

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Ein anderer Ansatz ist die Reaktion auf als bedenklich empfundene Urteile des EuGH durch obiter dicta wie im Urteil zur Antiterrordatei[258], in dem das BVerfG deutlich machte, ab wann Auslegungen des Urteils des EuGH im Fall Åkerberg Fransson[259] aus seiner Sicht ultra vires wären. Dies und das Urteil des BVerfG zur Filmförderung, in dem es ein Vorabentscheidungsersuchen eines deutschen Gerichts an den EuGH, obwohl dessen Zuständigkeit nicht gegeben sei, als Entzug des gesetzlichen Richters (damit kann wohl nur das BVerfG selbst gemeint sein) mit der Folge des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ansah[260], stießen auf zum Teil heftige Kritik[261]. Immerhin bemüht sich der EuGH jetzt um einschränkende Konkretisierungen des im Grunde bestätigten Urteils[262].

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