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4. Folgen des Anwendungsvorrangs

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Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts fordert, dass nationales Recht, das gegen Unionsrecht verstößt, ohne weiteres außer Acht gelassen wird. Damit postuliert das Unionsrecht in der verbindlichen Auslegung durch den EuGH ein Prüfungs- und Verwerfungs-, dh Nichtanwendungsrecht für nationale Gerichte und Verwaltungsbehörden[276] und damit eine Kompetenz, die diesen zB in Deutschland nach nationalem Recht nicht zukommt[277]. Dies führt zu durchaus verständlichen Akzeptanzproblemen[278]. Das BVerfG hat dieses Verwerfungsrecht ohne Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG hinsichtlich der deutschen Gerichte ausdrücklich als notwendige Folge der Übertragung von Hoheitsrechten hergeleitet[279]. Die beabsichtigte Wirkung des Anwendungsvorrangs, nämlich dem Unionsrecht ohne Zeitverzögerung zur Geltung zu verhelfen, fordert aber, dieses Verwerfungsrecht auch den nationalen Behörden zuzuerkennen. Dem davon befürchteten Chaos ist dadurch zu begegnen, dass in den Fällen, in denen die Unionsrechtswidrigkeit einer nationalen Norm sich nicht eindeutig aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt, im Interesse der Rechtssicherheit vor der Nichtanwendung nationalen Rechts eine besonders sorgfältige Prüfung erfolgen muss[280]. Kriterien dafür sollte eine Vorlagefrage des VG des Saarlandes an den EuGH liefern, die dieser aber nicht beantwortet hat, weil sie im konkreten Fall nicht mehr entscheidungserheblich war, da der EuGH einen Verstoß gegen EU-Recht verneinte, so dass der Anwendungsvorrang nicht einschlägig war[281].

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Lösung Fall 5 (Rn 199):

I. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG, § 13 Nr 8a, §§ 90 ff BVerfGG)

Das Unterlassen des BVerwG ist eine Maßnahme deutscher öffentlicher Gewalt.

II. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

1. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG iVm Art. 267 Abs. 3 AEUV wäre verletzt, wenn der EuGH als „gesetzlicher Richter“ hätte angerufen werden müssen.

a) Der EuGH ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Er ist zwar kein Organ der Bundesrepublik Deutschland, sondern ein Unionsorgan (vgl Art. 13 EUV). Die funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Union mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten zusammen mit dem Umstand, dass die Unionsverträge kraft der durch die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2, Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erteilten Rechtsanwendungsbefehle und das auf vertraglicher Grundlage erlassene abgeleitete Unionsrecht Teil der innerstaatlich geltenden Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und von ihren Gerichten zu beachten, auszulegen und anzuwenden sind, qualifizieren den EuGH als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, soweit ihm durch die Zustimmungsgesetze zu den Unionsverträgen darin enthaltene Rechtsprechungsfunktionen aufgetragen sind. Hierzu zählt insbesondere die Kompetenz des EuGH zu Vorabentscheidungen gemäß Art. 267 AEUV.
b) Das BVerwG hat diese Vorlagepflicht nicht (willkürlich) verletzt. Denn die eingeholte Vorabentscheidung des EuGH warf keine Fragen auf, die zu einer erneuten Vorlage Anlass gegeben hätten (eingehend zum Prüfungsmaßstab des BVerfG bei Rüge einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG Rn 736).

2. Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch die Nichtanrufung des BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Eine solche Vorlage wäre nur zulässig und geboten, wenn ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zum (damaligen) EWGV bestünden, die sich anhand des konkreten Falles[282] ergeben. Dafür liegen hier keine Anhaltspunkte vor.

Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

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Lösung Fall 6 (Rn 200):

Eine einstweilige Anordnung gemäß § 32 BVerfGG ergeht jedenfalls dann nicht, wenn die Verfassungsbeschwerde als Hauptsacheverfahren unzulässig wäre.

Probleme der Zulässigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG, § 13 Nr 8a, §§ 90 ff BVerfGG) der Verfassungsbeschwerde:

I. Prüfungsgegenstand

Die Verfassungsbeschwerde muss sich gegen einen Akt deutscher öffentlicher Gewalt richten. Die Akte von Unionsorganen, hier die Richtlinie des Rates (vgl Art. 13 EUV), unterliegen auch dann nicht der Jurisdiktion des BVerfG, wenn grundgesetzgebundene (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG) deutsche Organe daran mitwirken. Daher stellt weder der Standpunkt (vgl Art. 294 Abs. 5 AEUV) noch die Richtlinie des Rates einen zulässigen Prüfungsgegenstand dar. Dagegen unterliegt die deutsche Beteiligung im Rat der Jurisdiktion des BVerfG.

II. Unmittelbare Betroffenheit

Der Beschwerdeführer muss nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG durch die angegriffene Maßnahme selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Das BVerfG hat hier eine unmittelbare Betroffenheit verneint, da die Richtlinie des Rates noch der Umsetzung durch die Bundesrepublik Deutschland bedürfe und der Umsetzungs- bzw Vollzugsakt mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden könne. Es ist aber fraglich, ob das für und anhand nationaler Fälle entwickelte Unmittelbarkeitskriterium undifferenziert auf diesen Unionsrechtsfall angewendet werden kann. Denn es handelt sich bei der Abstimmung im Rat um die letzte (wenngleich bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit gemäß Art. 16 Abs. 3 und 4 EUV beschränkte) Einflussmöglichkeit des an das Grundgesetz gebundenen deutschen Vertreters auf die Gestaltung bzw Verhinderung von Unionsrecht. Die Jurisdiktion des BVerfG über die deutschen Akte, die die Richtlinie umsetzen bzw das Umsetzungsgesetz vollziehen, ist aber nur insoweit unproblematisch, als ein Freiraum der Mitgliedstaaten besteht und nicht eine Determinierung durch unionsrechtliche Vorgaben vorliegt. Das BVerfG sieht diesen Unterschied, indem es seine volle Kontrolle nur für Ersteres postuliert, im Übrigen aber die Kontrolle entsprechend dem Solange II-Vorbehalt als ausreichenden Schutz erachtet.

Dies spricht dafür, dass es gegebenenfalls an eine Aktivierung dieses Vorbehalts auch in einem Einzelfall denkt (anders aber („generell“) BVerfGE 102, 147; vgl Rn 256).

Ergebnis: Das BVerfG wird die einstweilige Anordnung nicht erlassen. In der Hauptsache wurde die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen; das BVerfG verneinte unabhängig von der EU-rechtlichen Vorgabe eine Grundrechtsverletzung (BVerfGE 95, 173 (181)).

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Zum Maastricht-Urteil: s. Streinz, Europarecht, 6. Aufl. 2003, nach Rn 225.

Zum Lissabon-Urteil: s. Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, nach Rn 261.

Zum IntVG s. Schweitzer/Dederer, Rn 631ff., 751f.

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