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aa) Bisherige Rechtslage
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Durch den Abschluss der Gründungsverträge konnten sich die Mitgliedstaaten nicht den Bindungen der von ihnen ratifizierten EMRK einschließlich der Zuständigkeit ihrer Organe entziehen. Zwar unterliegt die Union mangels Beitritt (noch) nicht den Bindungen der EMRK als solcher (zur Heranziehung der EMRK durch den EuGH s. Rn 765), wohl aber die Organe der Mitgliedstaaten beim Vollzug von Unionsrecht. Die These, sie insoweit als „Unionsorgane“ anzusehen, hat sich zu Recht nicht durchgesetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bestätigt, dass die materielle Identität einer nationalen Norm mit einer EU-Richtlinie nicht dazu führt, dass die nationale Regelung dem Anwendungsbereich der EMRK entzogen wird[266]. Eine „Flucht ins Unionsrecht“ ist unzulässig[267].
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Damit ergibt sich aber ein mögliches Kollisionsproblem zwischen der Bindung an eine Entscheidung des EuGH und an eine Entscheidung des EGMR, das bei unterschiedlicher Auslegung selbst dann auftreten kann, wenn beide die EMRK ihren Entscheidungen zu Grunde legen (vgl Rn 813). Materiell kann die Regel in Art. 52 Abs. 3 der EU-Grundrechtecharta Konflikten vorbeugen bzw diese entschärfen.
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Die frühere Europäische Kommission für Menschenrechte hat das Problem im Fall Melchers[268] pragmatisch ähnlich „entschärft“ wie das BVerfG im Solange II-Beschluss, indem sie ihre Prüfung „solange“ zurückstellte, als der EuGH adäquaten Grundrechtsschutz gewährleistet. Im Bosphorus-Urteil hat der EGMR eine „Vermutung der Einhaltung der EMRK“ angenommen, da er davon ausging, dass der vom Unionsrecht vorgesehene Grundrechtsschutz als „äquivalent“ mit dem Schutzmechanismus der EMRK angesehen werden könne[269]. Dies ist (wie beim BVerfG) mit dem Vorbehalt einer „Reservekompetenz“ verbunden[270]. Anders als das BVerfG, das auf den generellen Standard abstellt (s. Rn 256), nimmt der EGMR aber eine Einzelfallprüfung vor.
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Wenn damit „einstufiger Grund-/Menschenrechtsschutz in Europa“[271] besteht, darf auch hier nicht übersehen werden, dass diese Einstufigkeit unter Bedingungen steht, die ihrerseits der jeweiligen Nachprüfung bedürfen. Diese kann aber durch prozessuale Modifikationen „schonend“ ausgestaltet werden (vgl Rn 256). Der EGMR hat deutlich gemacht, dass die EMRK zwar die Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf internationale Organisationen und somit auch auf die EU nicht ausschließe, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Rechte der EMRK weiterhin „zugesichert“ im Sinne von Art. 1 EMRK seien, wofür die Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten auch nach einer solchen Übertragung fortbestehe[272]. Die Rechte der EMRK müssten „practical and effective“ sein, weshalb wesentlich auf die Wirkung einer Maßnahme für den Betroffenen abgestellt wird. Obwohl Rechtsakte der EU, solange deren Beitritt zur EMRK noch nicht erfolgt ist, nicht (direkt) vor dem EGMR angegriffen werden können, führt diese Gleichstellung der Auswirkungen von europäischer und nationaler Gesetzgebung (mittelbar) zum vollen Konventionsschutz gegenüber des Vollzugs durch die Mitgliedstaaten bedürftigen EU-Rechtsakten, wobei dem EGMR (zumindest aus der Sicht der EMRK) die Befugnis zukommt, nicht nur gegenüber den nationalen Gerichten, sondern (wenngleich in „Reservefunktion“) auch gegenüber dem EuGH verbindlich zu entscheiden[273] (s. auch Rn 765).