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7.

Am nächsten Tag war Karls Begräbnis, um neun Uhr am Zentralfriedhof. Rumpler war bewusst nicht mit seinem Auto gekommen, sondern schon sehr früh aufgestanden und vom Schwarzenbergplatz weg mit der Straßenbahnlinie 71 bis zum zweiten Tor des Zentralfriedhofs gefahren, wo das Krematorium lag, in der vagen Hoffnung, die fast unerträglich lange Fahrt würde ihn auf die bevorstehende Einäscherung irgendwie vorbereiten. Feuerbestattungen waren Rumpler etwas unheimlich, vielleicht eine Nachwirkung der strengen Erziehung in einer Klosterschule, der er als Kind ausgesetzt gewesen war. Es graute ihn vor der Vorstellung des sich öffnenden Feuerschlunds und auch vor dem ebenso langsamen wie unaufhaltsamen Einfahren des Sarges ins Feuer. Schon die Bezeichnung Feuerhalle war ihm ein Gräuel.

Rumpler verließ die Straßenbahn und ging durch die lang gestreckte, kahle Kastanienallee über den extrem weitläufigen, zugigen Parkplatz auf das Krematorium zu, wobei es ihm als gelerntem Wiener fast normal erschien, dass das sogenannte Neugebäude, ein Jagdschloss Kaiser Maximilians II samt Teilen einer Parkanlage von gewaltigen Ausmaßen, in die riesige Totenstadt integriert worden war.

Er sah Sabine schon von Weitem, ging auf sie zu und umarmte sie. Sie hielt sich sehr aufrecht und die schwarze Kleidung betonte ihre Blässe. Neben ihr stand starr, klein und zerbrechlich Karls Mutter. Sie erwiderte Rumplers Händedruck äußerst reserviert, was ihn keineswegs überraschte. Mit den Jahren hatte er sich daran gewöhnt, dass seine Schwägerin mit ihren äußerst strengen Prinzipien sich anscheinend immer noch Vorwürfe machte, weil sie nach dem Tod ihres Mannes nicht imstande gewesen war, für ihren Sohn Karl zu sorgen. Dazu kam wohl auch eine gehörige Portion Eifersucht, weil Karl sich während des mehrmonatigen Aufenthalts bei Rumpler und seiner Frau sichtlich wohlgefühlt und auch später immer wieder ihren Kontakt gesucht hatte.

All das machte sie Rumpler mit ihrem kaum wahrnehmbaren Händedruck zum Vorwurf, wohl ohne sich selbst darüber wirklich im Klaren zu sein.

Rumpler nahm Sabine zur Seite, entschuldigte sich, dass er am Leichenschmaus nur kurz teilnehmen werde, und erklärte ihr, dass er wegen des besseren Überblicks nicht ganz vorne bei den nächsten Verwandten stehen, sondern sich etwas im Hintergrund halten werde. Sie nickte nur.

Rumpler begrüßte die ziemlich zahlreich vertretenen Verwandten, die zu einem guten Teil aus dem Waldviertel stammten, rotbackige, einfache Menschen mit widerspenstigem Haar, das auch Karl und sein Vater gehabt hatten und das Rumplers Friseur von Zeit zu Zeit dazu veranlasste, ihm eine Preiserhöhung für außerordentliche Geräteabnutzung anzudrohen. Viele der jüngeren Anwesenden kannte Rumpler nur vom Sehen oder überhaupt nicht.

Eine kleine Gruppe Menschen hielt sich etwas abseits von der schon versammelten Trauergemeinde. Es handelte sich um Kollegen aus dem Billardclub, dem Karl angehört hatte. Einige von ihnen kannte Rumpler vom Café Sperl, das das Stammlokal des Clubs war. Ein- oder zweimal war er als Zuschauer zum Training gekommen und hatte dabei die seltene und für ihn faszinierende Gelegenheit gehabt, Karl in größter Konzentration zu studieren. Am meisten beeindruckt hatte ihn damals aber ein dürrer Alter, der trotz seiner gut achtzig Jahre auch jetzt zum Begräbnis gekommen war. Er verschwand fast zwischen seinen Kollegen, die ihn um mehr als einen Kopf überragten, aber seit Rumpler ihn im Café Sperl hatte spielen sehen, war ihm klar, wer dort das Sagen hatte. Kaum hatte der Alte damals mit seinen zittrigen Händen den Queue aus dem Futteral geklaubt und zusammengeschraubt, als er quasi ein anderer wurde, ähnlich wie betagte Musiker, die es beinahe nicht mehr auf die Bühne schafften, aber wenn sie erst einmal oben waren, ging die Post ab. So einer also war jener Alte, den Rumpler, wenn er ihn nicht im Café Sperl spielen gesehen hätte, völlig falsch einschätzen würde. Die Billardspieler unterhielten sich flüsternd miteinander, traten von einem Fuß auf den anderen, um die unaufhaltsam von den Zehen aufwärtskriechende Kälte etwas zu mildern, und warteten mit kaum verhohlener Ungeduld auf den Beginn der Zeremonie, als noch eine weitere, etwas größere Gruppe eintraf.

Aufgrund der Fotos, die sich Rumpler vom GVD-Management aus dem Internet besorgt hatte, konnte er erkennen, dass der stellvertretende Generaldirektor, die Personalchefin und Edwards sowie etwa zehn mutmaßliche Mitarbeiter zum Begräbnis gekommen waren. Sie näherten sich Sabine in einer streng hierarchischen Keilformation, die Rumpler absurderweise an den von Cäsar beschriebenen Kampf gegen Vercingetorix erinnerte, der sich mit dieser Formation gegen die römischen Truppen erfolglos zur Wehr gesetzt hatte, und begannen zu kondolieren. Rumpler fiel auf, dass Edwards Sabines Hand in beide Hände nahm und sie einen Moment länger als üblich festhielt, während er seine Beileidsbekundung murmelte. Obwohl das kaum möglich schien, richtete sich Sabine noch gerader auf, sie versteifte sich geradezu und wurde kurz von einem leichten Schauder geschüttelt, woraufhin Edwards sich beeilte, ihre Hand wieder freizugeben, als hätte er sich an ihr verbrannt.

Rumpler hasste langes Stehen, weil es für ihn meist mit Rückenschmerzen verbunden war. Speziell bei Begräbnissen war das praktisch unvermeidlich.

Edwards’ Verhalten hatte Rumpler gestört, es war ein Übergriff gewesen, scheinheilig verpackt, aber doch eine nicht akzeptable Grenzüberschreitung, irgendwie seltsam. Er überlegte kurz, Sabine nach dem Begräbnis darauf anzusprechen, verwarf es aber wieder. Während die Musik einen Trauermarsch spielte, studierte Rumpler in aller Ruhe Edwards’ Gesicht, ein sehr schönes, sehr beherrschtes Gesicht, das er als in sich ruhend empfunden hätte, wäre da nicht unter der glatt rasierten Haut im Bereich der edwardsschen Kiefermuskulatur ein minimales, unwillkürliches Zucken oder eigentlich Flattern gewesen, als ob ein seltsames Tier unter seiner Haut ein Eigenleben führte. Rumpler kam zu dem Schluss, dass diesem Mann kaum jemals etwas „passierte“, sondern alles präzise nach Plan erfolgte. Mit einer gewissen Erleichterung hatte Rumpler festgestellt, dass Sonja nicht zum Begräbnis gekommen war.

Die Zeremonie selbst, die Musik und die Traueransprache glitten an Rumpler vorüber wie in Trance, weil er von einer plötzlich ganz massiv auftretenden Welle der Traurigkeit überrascht wurde, in die sich auch Wut mischte, Wut über den Tod Karls, Trauer und Wut auch darüber, dass er selbst jetzt der letzte Rumpler in der Familie war und sich seine Hoffnung auf ein Kind von Karl und Sabine durch dessen Tod als vergeblich erwiesen hatte. Sein Blick glitt über die vielen dunklen, gelegentlich leicht schwankenden Rücken der vor ihm Stehenden und blieb letztlich wieder an dem halb rechts stehenden Edwards hängen. Nach Beendigung der Trauerfeier löste sich die Versammlung erstaunlich schnell auf, bis auf die Teilnehmer am Leichenschmaus, die abwartend beisammenstanden. Rumpler wunderte sich über dieses eigentümliche Wort Leichenschmaus, das ihm bisher in all den Jahren völlig normal vorgekommen war, obwohl unter Schmaus doch wohl so etwas wie eine vergnügte Völlerei zu verstehen war. Vielleicht war auch das, was Rumpler irritierte, genau so richtig, dass nämlich die Traurigkeit und das Schmausen aufeinandertrafen, damit sowohl Tod als auch Leben zu ihrem Recht kamen.

In dem an der Simmeringer Hauptstraße gelegenen Wirtshaus angelangt, setzte sich Rumpler an einer der vorbereiteten langen Tafeln auf einen äußeren, wenn auch nicht den äußersten Platz, um sich nicht in der Mitte allzu lange einsperren zu lassen und dadurch seinen geplanten raschen Aufbruch zu gefährden.

Neben ihm saß einer der Waldviertler, ein junger Bursche von vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahren, der Rumpler mit Begeisterung von seiner Tätigkeit bei der freiwilligen Feuerwehr berichtete. Auf die an Rumpler gerichtete Frage, was er denn beruflich so mache oder gemacht habe, antwortete dieser ziemlich vage, er sei Beamter gewesen und seit zwei Jahren in Pension, um nicht etwa durch eine unbedachte Bemerkung bei seinem Gegenüber ein von Fernsehen und Kino ohnedies schon angeheiztes, durchaus verständliches Interesse an Rumplers beruflichen Erfahrungen zu wecken.

An Rumplers anderer Seite saß eine ältere ihm unbekannte Frau, die auf seine höflichen Versuche, sie ins Gespräch zu ziehen, überhaupt nicht reagierte und ihre Suppe, den Kopf dicht über dem Teller, mit erstaunlicher Geschwindigkeit in sich hineinschaufelte.

Nach der geradezu klassischen Hauptspeise, Wiener Schnitzel vom Schwein, auf Wunsch auch vom Kalb, mit gemischtem Salat verabschiedete sich Rumpler von seinen Sitznachbarn, legte Sabine mit den Worten „Ich ruf dich an“ kurz die Hand auf die Schulter, holte mit beträchtlicher Mühe seinen Mantel von einem der übervollen, einen feucht-muffigen Geruch verströmenden Kleiderständer und verließ aufatmend das Lokal.

Abgesehen von Begräbnissen war er kaum jemals in diese Gegend gekommen, mit Ausnahme eines Falles, jenes Falles, der im Moleskinebuch mit der Nummer siebzehn ruhte und jetzt wieder vor Rumplers innerem Auge aufgetaucht war. Spielende Kinder hatten damals in einer nahe dem Kaiserebersdorfer Friedhof liegenden Bunkeranlage aus dem Zweiten Weltkrieg einen Toten gefunden, bei dem zunächst angenommen worden war, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Die wegen gewisser Zweifel angeordnete Obduktion hatte jedoch ergeben, dass der Tote eine beträchtliche Dosis eines schweren Giftes in seinem Körper gehabt hatte. Der Fall selbst hatte sich dann als sehr harte Nuss erwiesen, die schließlich aber doch geknackt worden war.

Rumpler wollte durch Bewegung an der frischen Luft die Begräbnisatmosphäre hinter sich lassen und die Stelle, an der der Tote damals gefunden worden war, nochmals aufsuchen. Er musste jedoch feststellen, dass das gesamte Areal seither weiträumig umzäunt worden war. Zusätzlich wurden Eltern auf Tafeln darauf aufmerksam gemacht, dass sie für ihre Kinder hafteten. Das taten Eltern zwar immer, aber die Tafeln ließen sich interessanterweise trotzdem gut verkaufen. Rumpler brach seine kurze, missglückte Expedition ab und trat den langen Heimweg an. Jetzt wo das Begräbnis vorbei war, bedauerte er bereits, nicht doch mit dem Auto gekommen zu sein.

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