Читать книгу Kugelwechsel - Rudolf Trink - Страница 15
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8.
Am nächsten Morgen wachte Rumpler knapp vor sechs Uhr auf und sein erster Gedanke war, froh darüber zu sein, dass das Begräbnis vorbei war. Gleich nach dem Frühstück machte er sich daran, seine Moleskineeintragungen fortzusetzen. Die Goldunterschlagung durch Karl ergänzte er durch ein „Angeblich“ in dem etwas hilflosen Versuch, dem Toten ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Auflistung der vier Direktoriumsmitglieder und ihrer Meinungen ergänzte er um die Anmerkung: „Felsinger = Dissident. Hier ansetzen?“
Noch während er schrieb, überlegte er bereits, ob er Moser über die neue Entwicklung informieren sollte, entschied sich aber vorläufig dagegen. Er wollte einfach noch klarer sehen und die angebliche Goldunterschlagung Karls hatte für ihn die Angelegenheit weiter verkompliziert, statt sie zu klären. Er beschloss, auch Sabine erst später zu informieren, wenn er mehr wusste.
Ein großes Fragezeichen machte er beim IT-Chef Edwards. Falls die Goldunterschlagung Karl untergeschoben worden war, bedurfte es dafür eines unmittelbaren Zugangs zum Tresor selbst, sonst hätte kein Gold verschwinden können, und diesen unmittelbaren Zugang hatte Edwards – außer eventuell im Fall von Kontrollen der Bestände – nicht. Rumpler sah sich das Organigramm der Firma durch, das ihm Sonja gebracht hatte. Als sogenannter Sperrführer, also direkt im Tresor tätiger Mitarbeiter, war neben Karl noch ein Mann angeführt, jener Gregor Schnirch, den Rumpler bereits von den Telefonlisten her kannte. Rumpler breitete wie schon öfter die diversen eng beschriebenen Seiten der Liste mit den Telefonaten vor sich aus. Kaum hatte er mit einiger Mühe eine entsprechende Ordnung hergestellt, als Rosamunde auf den Tisch sprang und sich auf die Zettel fallen ließ.
„Hexe“, sagte Rumpler.
„Wenn du mich wegschubst, werde ich dich hauen müssen“, machte Rosamundes Blick klar.
„Ein Zeichen“, murmelte Rumpler und rechtfertigte mit Rosamundes Intervention einen kleinen Espresso.
Kaum stand er in der Küche bei der Kaffeemaschine, als sie das Interesse an ihrem Zettelbett verloren hatte und ihm in der Hoffnung auf eine kleine oder vielleicht auch größere Menge Futter folgte.
„Na gut“, sagte Rumpler und holte ein Stück Schinken für sie aus dem Kühlschrank, legte es auf einen Teller und stülpte rasch eine Schale darüber, um Rosamundes sofortigen Zugriff auf den noch zu kalten Schinken zu verhindern.
Rumpler liebte das Ritual der Kaffeezubereitung. Seine eher kompakte, chromglänzende Siebträgermaschine hatte er von seinen Kollegen zur Pensionierung geschenkt bekommen und sie funktionierte noch immer perfekt – aber nur, weil sich Rumpler sowohl in die technischen Details vertieft als auch die feinen Abstufungen des Mahlgrades und des Anpressdrucks, mit dem er im Siebträger den Kaffee zusammendrückte, zu eigen gemacht hatte. Auch die Auswahl der Kaffeeschale war für ihn von Bedeutung. Rumpler hatte eine ganze Reihe von dickwandigen italienischen Schalen in verschiedenen Größen. Es gab reinweiße Schalen, aber auch mehr oder weniger bunt bemalte. Wenn Rumpler befürchten musste, sich in Fantastereien zu verlieren, was gar nicht so selten vorkam, wählte er eine Schale mit Erdfarben in verschiedenen Braun- und Rotabstufungen, um sich, wie er meinte, wieder zu erden. Wollte er hingegen seinen Gedanken Auftrieb verleihen, griff er zu sehr hell gehaltenen Schalen, die Leichtigkeit und Inspiration versprachen. Am liebsten waren ihm die reinweißen Schalen, die alles offenließen, wie eine weiße, bilderlose Wand, und damit auch alles ermöglichten.
Zu so einer weißen Espressoschale griff Rumpler, während er sich am Geräusch des Mahlwerks und am Geruch des frisch gemahlenen Kaffees freute. Als sein Espresso fertig war, gab er Rosamunde ihren Schinken und beeilte sich, vor ihr ins Wohnzimmer zu kommen, um so ihr gegenüber die älteren Rechte an dem mit Papieren belegten Tisch geltend machen zu können. Er nahm mit Genuss den ersten Schluck, besah sich die braunen Schlieren, die an der Innenwand der Schale eine kleine Dünenlandschaft bildeten, und vertiefte sich wieder in die Listen, ohne genau zu wissen, was er eigentlich suchte.
Dann war es für ihn plötzlich wie beim Augenarzt, wo in Testbildern, die aus unzähligen bunten Punkten bestehen, Buchstaben oder Zahlen verborgen sind, die man zunächst nicht sieht, kaum hat man sie aber wahrgenommen, springen sie einem regelrecht ins Auge. So und nicht anders erging es Rumpler mit den Telefonaten zwischen Edwards und Schnirch. Plötzlich erkannte er ein Muster. Edwards und Schnirch hatten immer wieder einmal telefoniert, aber zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Länge. An den drei Dienstagen vor Karls Tod hatten sie ebenfalls miteinander telefoniert, jedoch immer zur selben Zeit und fast bis auf die Sekunde gleich lang, nämlich beinahe exakt zehn Minuten.
Die Präzision dieses Vorgangs faszinierte Rumpler. Es war wie bei Vogelschwärmen, die sich aus vermeintlichem oder tatsächlichem Chaos heraus plötzlich formierten und dann mit erstaunlicher Präzision ihre Manöver flogen. Die Regelmäßigkeit der Telefonate hatte für Rumpler einen Rhythmus wie ein verhaltenes, aber unaufhaltsames Marschieren, geradewegs auf Karls Tod zu. Der Kaiserwalzer, sein geliebter Kaiserwalzer, fiel Rumpler ein, der wie einige große Strauss-Walzer eine Einleitung im Viervierteltakt hatte, im langsamen Marschtempo, und der bei aller Schönheit für ihn doch nichts anderes bedeutete als ein solch unaufhaltsames, wenn auch langsames Marschieren zum Untergang der Monarchie hin.
Rumpler machte eine Eintragung in seinem Notizbuch, eigentlich eine Zeichnung, indem er eine waagrechte Zeitlinie mit drei Unterbrechungen für die drei Dienstage durch kurze senkrechte Linien zeichnete. Am Ende der Zeitlinie erhielt die senkrechte Linie noch einen Querbalken und wurde damit zum Symbol für Karls Tod. Dann klappte Rumpler sein Notizbuch zu und stellte sich die Frage, ob Edwards und Schnirch einfach nur Mitarbeiter derselben Firma waren oder ob sie einander schon von früher kannten. Er rief Sonja an. Sie nahm sofort ab.
„Hallo Sonja, Rumpler hier.“
„Hallo Herr Rumpler. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich wüsste gern, ob Edwards und Schnirch einander schon vor ihrer gemeinsamen Zeit in der Firma kannten. Infrage käme vor allem ein Zusammentreffen an früheren Arbeitsplätzen, beim Militär, beim Studium oder in der Schule. Könnten Sie sich das ansehen?“
„Das mach ich gerne. In der Firma sprechen sich die beiden per Sie an und haben bisher nicht erkennen lassen, dass sie einander vielleicht von früher her kennen. Ich meld mich, sobald ich was herausgefunden hab.“
„Vielen Dank, Sonja.“ Es hatte Rumpler einige Überwindung gekostet, ihr nicht zu sagen, sie solle auf sich aufpassen.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich pass schon auf mich auf.“
„Hexe“, dachte Rumpler wieder einmal und bedankte sich. Nachdem er noch „mit W. sprechen“ notiert hatte, klappte Rumpler sein Notizbuch für diesen Tag endgültig zu.