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1.

Es war an einem zwölften Januar um acht Uhr fünfundvierzig, als Johann Rumpler an seinen Neffen Karl dachte. Rumpler hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen, vier oder fünf waren es bestimmt, vielleicht sogar mehr.

Seine Erinnerung führte ihn aber noch viel weiter zurück, etwa fünfundzwanzig Jahre, und sie war seltsamerweise deutlicher als jene an ihr letztes Treffen. Als Kind war Karl einige Monate bei Rumpler und seiner Frau gewesen, damals als Rumplers Bruder zwar nicht überraschend, aber doch wesentlich schneller als erwartet an Lungenkrebs gestorben und dessen Frau so verzweifelt gewesen war, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Rumplers Frau Elsa hatte damals noch gelebt und sie hatte es mit ihrer schlichten Herzenswärme geschafft, dem siebenjährigen Karl über die ersten Monate nach dem Tod des Vaters hinwegzuhelfen. Die Rumplers waren kinderlos. Elsa hatte nach einer komplizierten Schwangerschaft und einer Fehlgeburt die Diagnose erhalten, dass sie keine Kinder bekommen konnten, und sie war glücklich gewesen, Karl bei sich aufzunehmen.

Karl war ein ungewöhnliches Kind gewesen, sehr ruhig und reflektiert, absolut verlässlich, und er hatte Rumpler bis hin zu kleinen, charakteristischen Gesten stark an seinen verstorbenen Bruder erinnert. Hinter einer beinahe kühlen, fast nüchtern wirkenden Oberfläche wohnte in dem kleinen Karl ein inneres Lächeln, das er nur selten zeigte, als ob es gefährdet wäre, verloren zu gehen. Dieses Lächeln hatte Rumpler immer sehr berührt, weil es, wie er sich selbst kaum zugestand, etwas Paradiesisches an sich hatte.

An dieses Lächeln dachte Rumpler jetzt, als er an seinem schönen, aber auch schon etwas schäbigen Schreibtisch saß, seine alte Katze Rosamunde hinter den Ohren kraulte und die Nachricht zu verstehen versuchte, dass Karl tot sei. Rumpler wusste aus Erfahrung, dass ihn die Trauer noch nicht richtig erreicht hatte, sie würde ihn erst später einholen, in Wellen, ihn dann wahrscheinlich für längere Zeit begleiten und vielleicht erst nach Jahren wieder freigeben.

Karls Frau Sabine hatte ihn vor einer Stunde angerufen, in Tränen aufgelöst, und ihn informiert, dass Karl gestern Selbstmord begangen habe. Reflexartig waren in Rumpler die alten Routinen erwacht, obwohl er doch bereits seit mehr als zwei Jahren außer Dienst war, und erst nachdem er die Fragen nach Zeit, Ort und Umständen des Todes von Karl gestellt hatte, hatte er bemerkt, wie völlig unangemessen sein Verhalten war. Er hatte Sabine dann ein Treffen vorgeschlagen, um elf Uhr im Café Sperl, das mit seinen hohen Räumen, den schönen holzverkleideten Rundbogen und den leicht abgeschabten Samtpolsterungen mit der Zeit so etwas wie Rumplers zweites Wohnzimmer geworden war und von dem er sich ein wenig Sicherheit bei dem schwierigen Gespräch erhoffte, das vor ihm lag.

Rumpler war vor der Zeit im Café, um sicherzugehen, dass Sabine nicht auf ihn warten musste. Sie kam pünktlich wie die Uhr, sehr groß, sehr schlank, sie wirkte beinahe zerbrechlich, mit rotgeweinten Augen und jenem Ausdruck von Unverständnis, der ihm aus seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als stellvertretender Leiter der Mordkommission so vertraut war. Er stand auf, umarmte sie und ihr schmaler Körper wurde von einem stummen Weinen geschüttelt. Rumpler schob sie behutsam zu ihrem Platz, bestellte in der von ihm über Jahrzehnte entwickelten, mit der Zeit immer sparsameren Sprache aus Worten und Zeichen einen Tee für seinen Gast und für sich eine Melange. Dann legte er ihr kurz die Hand auf den Unterarm, wie um für sie und wohl auch sich selbst die Zeit kurz anzuhalten. „Erzähl.“

Sie begann mit klangloser Stimme zu berichten. „Karl hat mich gestern Nachmittag von der Arbeit aus angerufen und gesagt, dass er sich zum Essen ein bissl verspätet, weil er in der Firma noch was klären muss. Er würd aber verlässlich um spätestens acht Uhr zu Hause sein.“

„Hat er für dich irgendwie anders als sonst geklungen?“

„Nein, überhaupt nicht. Er hat sich angehört wie immer; er war nur leicht gestresst wie jedes Mal, wenn er nicht pünktlich zu Hause sein konnte.“

„Und wie hast du von seinem Tod erfahren?“

„Als er um neun noch immer nicht zu Hause war, hab ich mir Sorgen gemacht. Du weißt ja, wie wichtig ihm Pünktlichkeit war. Ich hab dann in der Firma, GVD, angerufen, weil der Sicherheitsdienst dort Tag und Nacht anwesend ist. Zuerst haben sie mir nur gesagt, dass er gemäß ihrem elektronischen Zeiterfassungssystem noch im Haus sein müsste. Sie würden in seinem Zimmer nachschauen und mich dann zurückrufen. Nach gut einer halben Stunde, die mir wie eine Ewigkeit vorgekommen ist, ist dann der Rückruf gekommen und sie haben mir gesagt, dass er vom Dach gestürzt ist. Auf seinem Laptop stand angeblich eine kurze Mitteilung, dass er schwer krank wäre und nicht mehr weiterwisse.“

„War Karl krank?“

„Ja, immer wieder. Er hat sich öfter mal einen Infekt eingefangen und er war auch besorgt um seine Gesundheit, aber die verschiedenen Untersuchungen haben eigentlich nie was Ernsthaftes ergeben.“ Sabine legte ihre Hände vor sich flach auf den Tisch, in einer langsamen, sehr bewussten Bewegung, sah Rumpler an und doch durch ihn hindurch und sagte: „Das war nicht er.“

„Wie meinst du das?“

„Er hätt mir das nie angetan, ohne mir etwas zu sagen oder zu schreiben. Nie.“

Dieses „Nie“ kam mit einer derart unerschütterlichen Sicherheit, dass es Rumpler beeindruckte. „Das war nicht er“ war ja trotz aller vordergründigen Klarheit ein unsicherer, fast schillernder Satz, auf den Rumpler jetzt nicht eingehen wollte und den er in einer der zahlreichen Furchen seines Gedächtnisses, das er sich gerne wie einen großen Acker vorstellte, deponierte, um ihn später wieder einmal auszugraben. Es bedurfte für ihn immer einer gewissen Zeit des Abliegens seiner Gedanken, um sie vor sich hin reifen oder auch modern zu lassen und sie später wieder hervorzuholen wie ein Kind, das einen Stein aus seiner Schatzkiste holte, ihn drehte und wendete, um dadurch herauszufinden, was er wohl darstellen könnte. Die Wirksamkeit dieser doch sehr unpräzisen, nicht kontrollierbaren Methode hatte Rumpler während seiner langjährigen Berufstätigkeit immer wieder verblüfft.

Kaum hatte er Sabines „Das war nicht er“ wie ein Samenkorn in seinem Kopfacker versenkt, als sie die Frage stellte, mit der er gerechnet und die er auch ein wenig gefürchtet hatte. „Kannst du nicht herausfinden, was wirklich passiert ist?“

Rumpler hielt sich erst gar nicht mit der Ausrede auf, die rasch wie ein Eichhörnchen durch sein Hirn huschte. „Ich werd mit meinen Exkollegen reden. Moser ist zum Glück noch aktiv.“

„Und er ist mir noch was schuldig“, fügte Rumpler in Gedanken hinzu.

Wieder legte er seine Hand auf ihren Arm. „Sabine, ich muss dich warnen. Es gibt einen gar nicht geringen Anteil an Suizidfällen ...“, setzte Rumpler an und dachte im selben Moment: „Fälle hätte ich nicht sagen dürfen. Karl ist kein Fall.“

Nach einem kurzen Zögern sprach er weiter: „... die ohne Vorankündigung und für die Angehörigen völlig überraschend erfolgen und sich auch nicht plausibel erklären lassen. Ich werd mich aber informieren und halt dich auf dem Laufenden. Das versprech ich dir.“

„Danke.“

Rumpler beglich die Rechnung. „Kann ich dich mit dem Auto nach Hause bringen?“, fragte er sie.

„Nein, lieber nicht, ich möcht allein sein und geh zu Fuß nach Haus. Ich muss mich bewegen.“

Er half ihr mit einer fast altväterischen Behutsamkeit in den Mantel, als könnte er ihr dadurch einen Schutz mitgeben. „Du kannst mich immer anrufen. Tag und Nacht.“

„Danke.“

Rumpler umarmte sie und stellte erleichtert fest, dass die zitternde Erstarrung, mit der sie erschienen war, sich etwas gelöst hatte.

„Ich meld mich bei dir. Pass auf dich auf.“

Sie sagte nichts, sondern hob nur kurz die Hand – ob zum Abschied oder zur Abwehr von Tränen vermochte Rumpler nicht zu sagen.

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