Читать книгу Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger - Страница 12
4
ОглавлениеAls Anna das Diktiergerät ausschaltete und die erledigten Akten neben einen Stapel Briefe schob, fiel ihr Blick auf das angebissene Tramezzini. Die Ränder wölbten sich nach oben und der Salat war welk geworden. Sie warf es samt der Verpackung in den Papierkorb, wo es raschelnd zwischen abgearbeiteten Notizzetteln versank. Nichts zeugte mehr von dem Chaos, das sie nach der Verhandlung vorgefunden hatte. Anna rückte die Schreibunterlage zurecht und holte einen Aktendeckel aus der Lade. Sorgfältig beschriftete sie ihn mit »Maxim Tolstunov«. Seit zehn Jahren begann sie einen neuen Fall mit diesem Ritual. Jeder Strich verstärkte das Gefühl, die Silhouette des Menschen nachzuzeichnen, der ihr irgendwann im Gerichtssaal gegenübersitzen würde. Julia hatte ihr eine Geschichte erzählt. Anna musste ihre Behauptungen in Frage stellen und aus jedem möglichen Blickwinkel betrachten, Wahrheit von Lüge trennen und nach Beweisen suchen. Wenn die tatsächlichen Fakten den vor ihr liegenden Akt füllten, konnte sie ihre weitere Vorgehensweise planen. Jeder Täter hinterließ Spuren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Anna sie fand.
»Er hat mir versprochen, seine Frau zu verlassen. Mich zu sich zu holen, in dieses große Haus, in dem er lebt.« Anna schlüpfte in ihre Schuhe und öffnete die Tür. Die ungewohnte Stille irritierte sie. Wie die Sekretärinnen der anderen Partner verfügte auch Susanne über ein eigenes Zimmer, das Annas Büro vorgelagert war. Dem Schreibtisch gegenüber stand eine Sitzecke, die Annas Mandanten als Wartebereich diente. Krakelige Zeichnungen klebten mit Tixostreifen befestigt an den einst weißen Wänden. Ein Zoo aus Stofftieren saß bunt durcheinandergewürfelt auf der Lehne eines mit Saftflecken und Schokoladespuren gesprenkelten Sofas. Auf dem Boden verstreute Kinderbücher und bunte Bauklötze vermittelten eine Atmosphäre von Chaos vermischt mit der notwendigen Portion Gemütlichkeit, um einen angenehmen Gegensatz zu der strengen Ordnung der übrigen Kanzleiräumlichkeiten zu schaffen.
Auf Susannes Schreibtisch formten vor sich hin trocknende Mandarinenschalen einen Smiley. Anna musste lächeln. Seit einer Woche haftete auch auf manchen Seiten ihrer Akten das erfrischende Aroma der Zitrusfrüchte. Es erinnerte sie daran, dass Weihnachten näher rückte. Vor Jahren hatte sie Susannes Einladung zu der Nikolausfeier ihres Sohnes Nils angenommen und verwundert kletternde Weihnachtsmänner auf Türen, beleuchtete Rentiere auf Kommoden und bunte Papiersterne auf Fenstern bestaunt. Der Geruch von Wachs und Reisig hatte die Wohnung durchzogen und die Gäste hatten in frisch gebackene Lebkuchen gebissen. Die geöffneten Kästchen des Adventkalenders erweckten längst vergessen geglaubte Bilder ihrer Kindheit zum Leben, als auch in ihrer Familie brennende Kerzen auf einem Adventkranz und gemeinsam gesungene Lieder nicht wegzudenken gewesen waren und weder verbotene Fragen noch Tabus existiert hatten, die sich später als unsichtbare Schatten über alle Feste legen sollten.
Anna schüttelte den Kopf und zog den Mülleimer unter dem Schreibtisch hervor. Papierkugeln, Bananenschalen sowie ein Pappbecher fielen zu Boden und erzeugten den Eindruck, eine Katze hätte im Abfall nach Futter gesucht. Seufzend schob Anna den Müll mit dem Fuß zu einem Haufen zusammen und legte Tolstunovs Akt neben den Computer. Die Arme von Mickey Mouse bewegten sich und die Zeiger von Susannes Wecker rückten auf 21 Uhr vor. Ob sie die einzige war, die noch arbeitete?
Die Tür zu Lukas’ Büro stand offen. Anna war überrascht, wie sehr sie es bedauerte, an diesem Abend keinen Gesprächspartner bei einem Espresso zu haben. In den vergangenen zwei Wochen waren die gemeinsamen Minuten in der Teeküche zu einem Ritual geworden, bei dem sie beide nachts an ihren Tassen nippten und Episoden aus ihren Leben erzählten. Wo er heute wohl war? Aus der Bibliothek am Ende des Ganges drang Licht. Ob Lukas etwas recherchierte? Oder saß er gerade mit einer der anderen Anwältinnen beim Abendessen? Wie er hatte auch Anna Informationen eingeholt. Vielleicht lag es in der Natur ihres Berufes, selbst im Alltag gerne vorbereitet zu sein. Lukas galt als intelligent und ehrgeizig. Diese Eigenschaften hatten gemeinsame Bekannte noch vor seinem Ruf als Frauenheld aufgezählt, doch Anna war nicht sicher, ob die umgekehrte Reihenfolge nicht eher der Wahrheit entsprach. Im Normalfall hätte Anna auf derart offensichtliche Annäherungsversuche nicht reagiert, doch sie musste sich eingestehen, dass sein Charme und seine Hartnäckigkeit sie amüsierten. Trotzdem war Anna fest entschlossen, zwar die Vorteile eines amikalen Arbeitsverhältnisses zu genießen, diese Ebene jedoch nicht zu verlassen. Denn sie hatte ebenso von der Skrupellosigkeit gehört, auf der sein Erfolg aufbaute. Dabei sprachen alle nur von der Gegenwart, niemand erwähnte seine Vergangenheit. Anna fragte sich, ob ihre langjährige Erfahrung oder ihr Instinkt dazu geführt hatte, ein wenig mehr als notwendig über ihren Kollegen zu recherchieren. War sie die Einzige in der Kanzlei, die wusste, was er als Jugendlicher getan hatte? Ob jemand die Schuld ahnte, die er auf sich geladen hatte und unweigerlich noch immer mit sich trug?
Anna verdrängte die Gedanken an Lukas, startete den Computer ihrer Sekretärin und wählte sich in das Grundbuch ein. Jedes in Österreich gelegene Grundstück war hier unter einer Katastralgemeinde und einer Einlagezahl erfasst. Das System verlangte die erforderlichen Daten. Als sie in Susannes Unterlagen nach passenden Informationen suchte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
»Es sieht so aus, als könntest du Hilfe brauchen«, flüsterte Lukas in ihr Ohr.
»Ich benötige selten Hilfe«, sagte Anna. Sie roch Fisch und Rosmarin. »Mach so etwas nie wieder, Lukas.«
»Was soll ich nie wieder machen? Dich an fremden Computern erwischen?«
»Ich habe auf meinem Laptop keinen Zugang zur Grundbuchsdatenbank«, sagte Anna und suchte weiter nach der passenden Kennzahl der Katastralgemeinde. »Betrittst du gerne fremde Büros, ohne anzuklopfen?«
»Liebend gerne«, antwortete Lukas.
»Hat der Fisch geschmeckt?«, fragte Anna und drehte sich zu ihm um. Statt eines Anzuges trug Lukas Jeans und ein Poloshirt. Eine blaue Daunenjacke hing über seinem linken Arm. Anna musste sich eingestehen, dass er ohne Hemd und Krawatte um vieles jünger wirkte.
»Ausgezeichnet sogar«, antwortete Lukas überrascht. »Wer hat dir davon erzählt?«
»Ich rieche ausgezeichnet«, sagte Anna, »du hattest Rosmarinkartoffeln und Weißwein dazu. Vielleicht serviere ich genau das Samstag meinen Gästen.«
»Du kannst kochen?«
»Du hast dich bei den falschen Kollegen über mich erkundigt. Einige hätten Lobeshymnen angestimmt. Zumindest habe ich jetzt ein ziemlich genaue Vorstellung, mit wem du nicht gesprochen hast.«
»Offenbar. Ich entschuldige mich übrigens, sollte ich dich erschreckt haben.«
»Es braucht mehr, um mich zu erschrecken.«
»Was ist hier passiert?«, fragte Lukas und zupfte eine Bananenschale von seiner Schuhsohle.
»Hast du noch keine Bekanntschaft mit der Bürokatze gemacht? In der Nacht durchsucht sie die Mülleimer nach Fressbarem.«
Lukas schaute Anna verunsichert an. »Das hast du eben erfunden, oder?«
»Du hast es geglaubt«, lachte Anna, »du hättest keine Chance gegen mich im Gerichtssaal.«
»Da wäre ich nicht der Einzige, sonst wäre deine Verurteilungsrate nicht so hoch. Komm mit. Mein Rechner ist schneller«, sagte Lukas, »außerdem ist es eine gute Gelegenheit, dir einen Espresso aus meiner eigenen Maschine zu servieren.«
»Warum kommst du dann jeden Abend in die Teeküche?«
»Ich mag dein Ritual. Und du bewegst dich gerne auf neutralem Territorium, richtig?«
Anna schaltete Susannes Computer aus und folgte ihm. Als sie sein Büro betrat, schaute sie sich verwundert um. Über Jahre hatte sich hier ein Abstellraum für Reinigungsmittel und Handtücher mit verblichenen Wänden und einem Linoleumboden befunden. Die Wände waren frisch gestrichen, das Linoleum hatte hellem Holz Platz gemacht. Eine Stehlampe mit gebogenem Schwenkarm beleuchtete den Schreibtisch. Cremefarbene Möbel auf einem beigen Teppich verliehen dem Raum schlichte Eleganz. Auf Lukas’ Schreibtisch stand ein Strauß Lilien. Seine Jacke lag am Boden.
»Meine Mutter ist mit einer Innenarchitektin befreundet«, sagte er.
Anna fragte sich, wie er gleichzeitig den Bildschirm und ihren überraschten Blick erfassen konnte.
»Ich wollte ihr die Freude gönnen, Ordnung in einen kleinen Ausschnitt meines Lebens zu bringen. Keine Sorge, bei mir zu Hause sieht es um vieles chaotischer aus, wie es sich für einen Junggesellen gehört. Allerdings auch um vieles gemütlicher. Wonach suchst du genau?«
Anna hörte das Stakkato der Tastatur. Lukas’ Augen bewegten sich ebenso rasch wie seine Finger.
»Maxim Tolstunov. Großes Grundstück. Unbelastet. Beachtlich bei den Preisen in der Gegend. Alleineigentümer. Erst vor zwei Jahren erworben«, sagte er.
Anna trat hinter ihn. »Kannst du Gedanken lesen, oder hast du Informationen, die ich nicht habe?«
»Sein Name steht auf dem Aktendeckel, den du in der Hand hältst. Wir Wertpapierexperten leben davon, Daten und Informationen zu verarbeiten. Hat Tolstunov deine Klientin verprügelt?«
»Hallo? Es gibt ein Anwaltsgeheimnis.«
Die Tastatur klapperte unter Lukas’ Fingern. »Es gibt auch das Christkind. Sein Name kommt mir übrigens bekannt vor.«
»Bist du sicher?«
»Gib mir fünf Minuten. Entweder ist es mir dann eingefallen, oder dieses Ding hat genug über den Mann ausgespuckt, um dich mit Informationen zu versorgen. Den Kaffee bekommst du morgen. In meiner obersten Schreibtischlade sind Gummibärchen.«
Anna kehrte in ihr Büro zurück, stellte sich ans Fenster und verfolgte die Autokolonnen. Ob jemand auf die Menschen in diesen Autos wartete? Manchmal wünschte Anna sich mehr als eine leere Wohnung. Dass sie es nicht erwarten konnte, den letzten Akt des Tages zu schließen. Dass kleine Hände sich nach ihr ausstreckten, wenn sie den Schlüssel im Schloss umdrehte. Dass der Duft von Oregano und Tomatensauce das Vorzimmer füllte, während Jazz aus dem Wohnzimmer drang. Dass sie bei einem Glas Wein endlose Gespräche führte und gemeinsame Pläne für den nächsten Urlaub schmiedete. Doch irgendwie hatte keine ihrer Beziehungen längere Zeit gehalten, weil ihr jeder Partner früher oder später vorgeworfen hatte, mit den Frauen und Kindern verheiratet zu sein, die sie vertrat. Anna hatte die Vorwürfe nur halbherzig dementiert. Sie wusste, dass sie berechtigt waren. Ihre Klienten hatten ein Recht darauf, dass jemand für sie eintrat. Deshalb war sie Anwältin geworden. Anna konnte sich ein anderes Leben nicht vorstellen. Windeln und Gemüsebrei. Schlaflose Nächte und Staubsaugen. Kindergartenfeste und Schultüten. Das war das Leben ihrer Freundinnen aus Schulzeiten. Das Leben der anderen, nicht das ihre. Das Licht der Straßenlaterne erfasste eine Frau, die an jeder Hand ein Kind führte, ein kleiner Hund trippelte hinter ihnen her. Bunte Mützen wippten bei jedem Schritt. Wohin waren sie um diese Zeit unterwegs? Kamen sie von der Ballettstunde? Zwei weitere Schritte, dann hatte sie die Nacht verschluckt. Das ist nicht meine Welt, dachte Anna, hier ist meine Welt.
»Ich hoffe, du hast gute Beweise«, sagte Lukas.
Anna drehte sich um. »Ich werde sie finden müssen«, sagte sie.
»Dann such sorgfältig. Ich wusste, dass ich seinen Namen schon einmal gehört habe. Es gab vor einigen Jahren einen Skandal in der Telekommunikationsbranche. Es ging um Telefonlizenzen in ehemaligen russischen Staaten. Tolstunov war involviert«, sagte Lukas.
»In welcher Form?«
»Das blieb unklar. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt.«
»Wer war der leitende Staatsanwalt?«
»Kretschmer.«
»Ich hatte noch nie persönlich mit ihm zu tun. Er soll ein hartnäckiger Gegner sein.«
»Er ist Spezialist auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität.«
»Eine große Sache?«
Lukas nickte.
»Wie viel weißt du darüber?«, fragte Anna.
»Nicht mehr, als ich dir schon gesagt habe. Fünf Minuten sind nicht ausreichend Zeit, um mehr Fakten zu liefern.«
»Wie verdient er sein Geld?«
»Offiziell ist er Unternehmensberater. Für ihn wären wohl Schmiergeldzahler oder Geldwäscher treffendere Bezeichnungen. Worum geht es genau?«
»Es geht um ein kleines Mädchen, das aus einer versperrten Wohnung verschwunden und nach zwanzig Stunden zurückgekehrt ist. Sie spricht nicht mehr. Ich will wissen, was in dieser Zeit geschehen ist.«
»Was hat Tolstunov damit zu tun?«
»Das möchte ich herausfinden. Kannst du mir bis morgen alles ausdrucken, das du über ihn und seine Firma findest?«
»Ich würde gerne mehr tun«, sagte Lukas.
»Ich bin auf das Ergebnis deiner Recherche gespannt.«
»Für dich nur das Beste.«
»Ich würde mich mit nichts anderem zufrieden geben.«
»Davon gehe ich aus«, sagte Lukas, »ich ebenso wenig.«
»Dann bin ich neugierig, ob unsere Ansprüche gleich hoch sind«, sagte Anna und griff nach ihrer Aktentasche. »Danke«, fügte sie lächelnd hinzu.
Lukas winkte zum Abschied. »Wir sehen uns morgen«, sagte er. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Du hast mich zwar nicht nach meiner Meinung gefragt, aber ich äußere sie trotzdem. Ich ziehe meinen Hut vor dir. Es sollte mehr Anwälte geben, die so denken und handeln wie du.«