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ОглавлениеAnna trat aus der Tiefgarage ins Freie. Noch zwei Querstraßen bis zur Kanzlei, noch eine halbe Stunde bis zu ihrem ersten Termin. Der Wind hatte an Stärke zugenommen und wirbelte Blätter auf. Am Horizont färbte ein fahler Streifen den Himmel. Anna bedauerte, dass sie den Lauf der Sonne nicht auf einem hohen Berg über der Baumgrenze verfolgen konnte. Untertags leuchtete das Gelb durch die verspiegelten Scheiben ihrer Bürofenster kraftlos und trüb, während das Abendlila matt statt zärtlich schimmerte. Am Ende eines Arbeitstages verhinderten die Dächer der umliegenden Hochhäuser, dass sie die Sonne als rot glühenden Ball versinken sah. Statt tausender Sterne erhellten Neonbuchstaben den Nachthimmel. Anna hätte viel dafür gegeben, für einen Tag auszubrechen und auf einem warmen Stein den Geräuschen des Waldes zu lauschen. Stattdessen hielt sie wie jeden Morgen an dem kleinen Kiosk, den ein Inder mit seiner Frau betrieb.
»Sie kommen heute spät«, sagte er und streckte ihr einen Becher entgegen.
»Ich wurde aufgehalten«, antwortete Anna.
»Ein Mann?« Als er lächelte, hoben sich seine weißen Zähne deutlich von der braunen Haut ab.
Anna nickte und reichte ihm die Münzen, die sie sich zurechtgelegt hatte.
»Er tut Ihnen nicht gut«, sagte er.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sie sehen nicht glücklich aus«, sagte der Inder.
»Ein Croissant«, sagte Anna und durchsuchte ihre Handtasche nach weiteren Münzen.
»Geht aufs Haus«, sagte der Inder. »Das ist das erste Mal seit ich eröffnet habe, dass Sie mehr als einen Kaffee möchten. Lassen Sie es sich schmecken. Die Croissants sind gut. Der Kuchen ist noch besser. Meine Frau bäckt ihn frisch. Seit drei Jahren macht sie das jede Nacht. Nächste Woche ist ihr Geburtstag, da gibt es den Kaffee zum halben Preis und gratis Kuchen für alle.«
»Ich kann mich noch an den Tag der Eröffnung erinnern«, sagte Anna. »Sie haben zehn Minuten mit der Maschine gekämpft.«
»Trotzdem sind Sie wiedergekommen. Sie waren meine zweite Kundin«, antwortete er, »auch ich kann mich gut erinnern. Damals waren Ihre Haare kürzer und Sie waren nicht so dünn wie jetzt. Zu wenig Croissants«, fügte er lächelnd hinzu.
»Haben Sie jemals daran gedacht, ein Restaurant zu eröffnen?«, fragte Anna und nippte an der Flüssigkeit. Sie war heiß und süß.
»Ich denke jeden Tag daran, aber es wird immer ein Traum bleiben.«
»Wenn Sie etwas Passendes finden, sagen Sie Bescheid«, meinte Anna. »Ich helfe gerne.«
»Ich weiß nicht, ob ich mir Ihr Honorar leisten kann«, gab der Inder zu Bedenken.
»Anwälte können auch in Naturalien bezahlt werden.«
»Sie meinen, die Rechtsanwältin Anna kann in Naturalien bezahlt werden?«, fragte er lächelnd.
Anna lächelte zurück. »Einen schönen Tag noch«, sagte sie, während sie sich umdrehte. Der Inder kannte seine Träume. Hätte jemand sie nach ihren gefragt, hätte sie keine Antwort geben können. In einem renovierten Bauernhaus Kinder im Grünen aufwachsen sehen, wie Lukas vorgeschlagen hatte? Wohl kaum. Skifahren an einem einsamen Ort in den Alpen? Ebenso wenig. Lena Hofstetters Vergewaltiger vor Gericht sehen? Wahrscheinlich hätte ihre Antwort so ähnlich gelautet. Sie blieb nachdenklich vor einem Bürogebäude stehen und nippte an ihrem Kaffee. Er war erkaltet und sie warf den Becher in einen Abfalleimer. Warum musste sie ständig an das Mädchen denken? Auf dem Papier unterschied sich der Fall nicht von anderen, die sie in den vergangenen zehn Jahren übernommen hatte. Sie hatte wenige Anhaltspunkte, doch das war keine Seltenheit. Der Fall warf eine Menge Fragen auf, doch das taten viele und es war Annas Aufgabe, sie zu beantworten. Waren es die Begleitumstände, die sie irritierten? War der Zusammenstoß heute Morgen auf der Laufrunde kein Zufall gewesen? Hatte der andere Läufer auf sie gewartet? Hatte er absichtlich ihre Mütze vom Kopf gezogen? Anna wischte ein Blatt von der Stirn und fuhr sich durch die Haare. War es ein Reflex oder liebte sie es, die Strähnen durch die Finger gleiten zu lassen? Welche Bedeutung spielten Lenas Haare für den Täter? Behielt er sie als Schmuck oder waren sie seine Trophäe? Waren sie eine Spur, der Anna bloß zu folgen brauchte? Sie betrat das Gebäude. Es war Zeit, in den sechsten Stock zu fahren und offene Fragen zu beantworten.