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Als Anna das zwölfstöckige Gebäude betrat, in dem sich die Kanzlei befand, für die sie seit gut zehn Jahren tätig war, schlug ihr warme Luft entgegen. Die Heizungen liefen auf Hochtouren, um die herbstliche Kühle hinter die hundert Jahre alten Mauern zu verbannen. Ein Mosaik aus Hinweistafeln wies den Weg zu den Büros. Wer mit seinem Firmensitz ein Zeichen setzen wollte, residierte in diesem oder einem der angrenzenden Gebäude entlang der Ringstraße. Anna schlüpfte aus dem Mantel und wartete auf den Fahrstuhl. Als sich die Türen öffneten, strömten Menschen im Einheitsdress von Anzügen und eng sitzenden Kostümen ins Freie, um den Wartenden Platz zu machen. Einmal mehr stach Anna in ihrer beigen Hose und dem dunkelgrünen Pullover aus der Masse heraus. Sie verhinderte mit einem geschickten Ausweichmanöver den Zusammenstoß mit einem jungen Mann, der unvermutet vor ihr stehen geblieben war. Anna schloss sich den anderen Fahrgästen an, die in den Aufzug drängten. Zeit war Geld. Verrechnet in Stundensätzen der Rechtsanwälte, Behandlungskosten der Ärzte oder Honorarnoten der Steuerberater.

In der Kabine war es unangenehm warm und roch nach übertrieben aufgetragenem Parfum. Als Anna sich umdrehte, erhaschte sie zwischen den sich schließenden Fahrstuhltüren einen Blick auf den unbekannten Bewunderer. Er balancierte auf Zehenspitzen, um sie zwischen den anderen Fahrgästen auszumachen. Als er sie erkannte, lächelte er, doch Anna ignorierte ihn, lehnte sich an die Metallwand des Fahrstuhles und betrachtete ihr Spiegelbild. Der kühle Novemberwind hatte ihre Wangen gerötet und ihren Kopf befreit. Die Verhandlung war in weite Ferne gerückt. Geblieben war das dumpfe Gefühl, alles erreicht und doch zu wenig getan zu haben.

Als eine blecherne Stimme die Ankunft im sechsten Stock verkündete, deutete Anna zur Tür. Ein grau melierter Mittvierziger drückte sich an die Fahrstuhlwand, um Platz zu machen. Anna nickte mechanisch, doch ihre Gedanken kreisten bereits um das nächste Opfer, dessen Geschichte sie bald vor Gericht in Worte fassen würde. Ein neuer Akt, ein neuer Prozess. Neuerliche Gewalt, die allgegenwärtig war und wie ein schwarzes Loch Materie anzog und unerbittlich verschlang.

Während Anna den Wartebereich der Kanzlei durchquerte, zählte sie aus Gewohnheit die siebzehn Schritte bis zur Glastür, die das Foyer von den Arbeitsplätzen trennte. An ihrem ersten Arbeitstag hatte sie jeden einzelnen davon staunend zurückgelegt. Die lederne Sitzgarnitur strahlte in Kombination mit dem darüber hängenden Miró Eleganz und Macht aus. Als die Wolkendecke aufbrach, färbte die Sonne die Marmorfließen gelb, durchzogen von den Schatten der deckenhohen Fenstereinfassungen. Anna lauschte der vertrauten Klangwolke aus läutenden Telefonen und surrenden Kopiergeräten, die gedämpft durch die Glasscheibe drang. Ihre Welt. Trotzdem hätte sie heute gerne umgedreht, um auf einer einsamen Parkbank die letzten Sonnenstunden zu genießen. Um umhertollende Kinder zu beobachten und den Krähen zuzuhören, die mit ihren Schreien vom Winter erzählten, der sich bereits mit Nebel, Frost und braunen Blättern auf den Gehwegen ankündigte. Um bei einem Spaziergang die vorbeiziehenden Wolken zu beobachten und ihren Träumen nachzuhängen. Um in einem kleinen Café einen Cappuccino zu trinken und eine Zeitschrift durchzublättern. Doch als sie die Tür öffnete, konnte sie nicht mehr tun, als ihre Arme um den Stapel Akten zu schließen, den ihr eine der Schreibkräfte an die Hüfte drückte. In ihrer Welt war kein Platz für sonnenbeschienene Parkbänke.

Lukas erwartete sie lächelnd auf ihrem Schreibtischsessel. »Man darf gratulieren?«, fragte er.

»Was machst du in meinem Büro?«, entgegnete Anna frostig.

»Du wirst deine Verurteilung bekommen. Ist es nicht das, was zählt?«, fragte er, »du solltest stolz auf dich sein. Ich würde mir an deiner Stelle anerkennend auf die Schulter klopfen.«

Nun musste auch Anna lächeln. »Das hat sich aber schnell herumgesprochen«, sagte sie, ließ den Papierberg auf den Parkettboden gleiten und las die Notizzettel ihrer Sekretärin. »Wie hast du davon erfahren?«

»In Wien funktionieren Buschtrommeln ausgezeichnet.«

»Kann es sein, dass ein wenig persönliches Interesse dahintersteckt?« In ihrem Kopf reihte sie die Nachrichten bereits nach ihrer Dringlichkeit. Es würde Stunden dauern, sie abzuarbeiten. Doch sie war überzeugt, dass jede einzelne Minute gut investiert war und irgendwann belohnt wurde.

»Wir sollten feiern. Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen?«

»Lukas, wir kennen uns seit zwei Wochen. Mein Schreibtisch geht über mit Akten.«

»Ich habe andere Frauen schon nach zwei Stunden zu einem Abendessen überreden können. Die Akten werden auch morgen noch auf deinem Schreibtisch liegen.«

»Lass uns in fünf Minuten anstoßen, ich möchte mir einen Überblick verschaffen, was mich in den nächsten Stunden erwartet.«

»Das ist immerhin ein Anfang. Ich bin gleich zurück.«

Anna wartete mit zwei Gläsern, von denen sie eines Lukas reichte. »Auf die Gerechtigkeit«, sagte sie und nippte an der Flüssigkeit.

Lukas schaute angewidert auf sein Glas. »Was ist das bitte? Moët sicher nicht.«

»Champagner wäre reine Verschwendung. Du trinkst Vitamin C-Brause. Hilft beim Denken und wirkt gegen Erkältungen«, erwiderte Anna. »Soll ich dir noch eine Tablette auflösen?«

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte Lukas und schüttelte den Kopf, »du machst dir nichts aus deinem Erfolg.«

»Würdest du das als Erfolg bezeichnen? Ein Mann wird wahrscheinlich für das verurteilt, was er einem kleinen Mädchen angetan hat, das nicht einmal wusste, was mit ihr geschieht. Wenn mein Auftreten heute überzeugend war und der Sachverständige ein Gutachten erstellt, das meine Behauptungen stützt, logiert er auf Staatskosten eine Zeit lang in einem Einzelzimmer, isst ausgewogene Mahlzeiten, liest die Bücher, die er immer schon lesen wollte und trainiert intensiver, als er es die vergangenen Jahre über konnte, weil ihn seine Geschäftstermine vom regelmäßigen Besuch eines Fitnessstudios abgehalten haben. Ihr Leben ist im schlimmsten Fall zerstört. Sie kann vielleicht nie wieder Vertrauen zu einem Mann aufbauen und durchlebt in ihren Albträumen jede Nacht aufs Neue, was mit ihr passiert ist. Ich zweifle, ob Erfolg das passende Wort ist.«

Lukas zögerte, bevor er nach einer Pause fragte: »Du bist intelligent und zielstrebig. Warum hast du keine andere Richtung gewählt? Hättest du dich auf Wertpapierrecht spezialisiert, wärst du bereits eine reiche Frau. Du könntest den ganzen Laden hier übernehmen, wenn die dich auf die Börse loslassen.«

»Vielleicht bedeutet mir Geld nicht so viel wie dir, lieber Wertpapierspezialist. Was sollte ich deiner Meinung nach mit einem gut gefüllten Konto tun?«

»Du könntest einen alten Bauernhof kaufen und dir ein Paradies fern von der Großstadt schaffen, einen netten Partner suchen, eine Babypause einlegen und deine Kinder in der Natur aufwachsen sehen. Stattdessen kämpfst du jeden Tag aufs Neue für Frauen, die du in der Notaufnahme des Krankenhauses aufliest, für Kinder, deren Leben durch Gewalt zerstört wurde, für Menschen, die kaum dein Honorar bezahlen können. Du musstest lang auf deine Partnerschaft warten, weil du der Kanzlei nicht ausreichend Gewinn einbringst. Du hättest mehr Anerkennung verdient.«

»Hast du Erkundigungen über mich eingeholt?«, fragte Anna.

»Die Partner nehmen sich diesbezüglich kein Blatt vor den Mund.«

»Ich mache mir nichts daraus, was andere über mich sagen. Außerdem profitieren beide Seiten davon, dass mein Name auf dem Briefpapier der Kanzlei als Partnerin aufscheint. Für mich haben sich dadurch Türen geöffnet, die mir als Einzelkämpferin verschlossen blieben. Die Kanzlei schätzt das regelmäßig geäußerte Lob der Presse, dass sich eine Partnerin einer Wiener Nobelkanzlei für Mandanten einsetzt, die an anderen Türen abgewiesen wurden. Falsch verstandene Eitelkeit würde jedem von uns das Erreichen seiner Ziele erschweren.«

Lukas setzte sich auf die Schreibtischkante. »Klingt plausibel. Nichtsdestotrotz würde ich gerne erfahren, warum du kein anderes Spezialgebiet gewählt hast.«

Anna stellte ihr Glas ab, drehte ihm den Rücken zu, stützte ihre Hände auf das Fensterbrett und starrte auf die Silhouette Wiens, die in oranges Herbstlicht getaucht vor ihr lag. Die Kastanienbäume zu ihren Füßen hatten die Blätter verloren. Anna schloss die Augen und blendete Lukas Anwesenheit ebenso wie die Geräusche aus. Sie glaubte, Pilze und Himbeeren zu riechen. Reifen Weizen zu sehen, der sich im Wind wiegte. Die Sonne auf ihrer Haut zu spüren. Das Rufen der anderen Kinder zu hören. Über eine Wiese zu laufen und einen Drachen steigen zu lassen. Warme Kekse aus dem Ofen zu stehlen. Wieder ein kleines Mädchen zu sein. Sie atmete tief ein, drehte sich um und verschränkte die Arme, als könnte sie auf diese Weise Abstand gewinnen. »Einmal Anwalt, immer Anwalt, oder? Ergreifen wir nicht alle diesen Beruf, um Antworten zu bekommen?«

»Was ist passiert?«, fragte Lukas.

»Du würdest früher oder später doch wieder fragen.«

»Das würde ich wohl.«

»Meine Cousine wurde als Kind schwer verletzt. Die Familie hat geschwiegen. Niemand hat davon erfahren. Der Täter musste sich nie vor Gericht verantworten.«

Lukas schwieg, Anna konnte ihm nicht in die Augen sehen, als sie weitersprach. »Wir haben den Sommer am Land verbracht. Ferien bei der Großmutter, fern von der Stadt. Eine Horde Kinder, sich selbst überlassen. Dorfbewohner, Feriengäste, wir haben jeden Tag aufs Neue die Umgebung erkundet. Die Tage waren endlos. Wir waren frei. Niemand hat gefragt, was wir taten, wir mussten nur zum Abendessen erscheinen. Unter den Kindern gab es strenge Hierarchien. Es gab die, die bestimmten, und die, die geduldet wurden. Die Burschen machten die Regeln. Wir Mädchen mussten Mutproben bestehen. Sie haben meine Cousine in eine Höhle gesperrt und in der Dunkelheit zurückgelassen. Nach Stunden ist einer von ihnen wieder gekommen und hat sie durch die Gänge gejagt. Sie ist auf der Suche nach einem Versteck in einen Abgrund gestürzt. Ich fürchte, der Täter hat sie auch vergewaltigt. Nur der Dorfarzt durfte zu ihr, nachdem der Suchtrupp sie gefunden hatte. Ich habe nie erfahren, was genau geschehen ist.« Als Lukas einen Schritt auf Anna zuging, wandte sie sich wieder dem Fenster zu. Ein Spatz ließ sich auf dem Fensterbrett nieder. Als er die Gestalt hinter der Scheibe entdeckte, flog er auf. »Ich war damals noch sehr klein. Ich habe nicht begriffen, was mit ihr passiert ist. Nur, dass es etwas ganz Schreckliches sein musste. Mein Vater hat verboten, Fragen zu stellen. Die Familie hat nie wieder darüber gesprochen. Doch es hat alles zerstört. Nichts war danach so, wie es einmal war.«

»Konnte dein Vater eine solche Entscheidung alleine treffen?«

»Mama war zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre tot«, sagte Anna. Auch nach so vielen Jahren veränderte sich ihre Stimme, wenn sie über ihre Mutter sprach, als wäre sie wieder vier Jahre alt. »Brustkrebs. Sie hat viel zu spät einen Arzt aufgesucht.«

»Das tut mir leid«, sagte Lukas.

»Das muss es nicht«, antwortete Anna, »es ist lange her. Irgendwann verblasst der Schmerz. Großmutter hat sich um uns Kinder gekümmert. Wir haben sie geliebt. Sie hat meiner Cousine geholfen, darüber hinwegzukommen.«

»Hat deine Cousine auch einen Namen?«

»Luna.«

»Luna?«

»Das muss dir reichen. Ich muss sie schützen. Auch ich gehöre zur Familie«, sagte Anna.

»Danke, dass du es mir erzählt hast«, sagte Lukas.

Anna nickte ihm zu und griff nach dem obersten Akt auf ihrem Schreibtisch. »Wir finden einen Termin für ein gemeinsames Abendessen.«

Es klopfte an ihrer Tür.

»Wie wäre es mit morgen?«, fragte Lukas.

Anna lächelte. »Bist du immer so hartnäckig?«

»Bist du das nicht auch?«

Ein dunkler Pagenkopf tauchte im Türrahmen auf. Susanne war alleinerziehende Mutter, chaotisch, vergesslich, stets fröhlich und zutiefst loyal. Aus diesen Gründen hatte Anna ihre Sekretärin vor zehn Jahren eingestellt. »Deine neue Klientin …«, sagte sie und hob entschuldigend die Hand, als sie Lukas bemerkte.

»Lukas wollte gerade gehen«, sagte Anna.

Susanne wartete ab, bis er sich außer Hörweite befand. »Deine neue Klientin ist da«, sagte sie.

»Habe ich einen Termin?«, fragte Anna.

»Sie sagt, du hättest versprochen, sie einzuschieben«, antwortete Susanne.

»Schick sie rein«, sagte Anna.

Verwundert betrachtete Anna die kobaltblaue Handtasche mit aufgedruckten Sonnen, die ihre Besucherin an sich presste. Dann fiel ihr Blick auf die Schwellung um ihr Auge, die im Licht der Neonlampen größer wirkte, als Anna es aus der Entfernung vermutet hatte. Gekonnt verbarg sie ihre Überraschung, die Frau aus dem Gerichtssaal so schnell wiederzusehen.

»Willkommen«, sagte Anna.

Gefallener Mond

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