Читать книгу Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger - Страница 8
1 MONTAG
ОглавлениеStille legte sich über den Saal. Die Schriftführerin knackte mit den Fingerknöcheln und schaute erwartungsvoll zur Richterbank. Die Verhandlung war seit über einer Stunde ereignislos dahingeplätschert. Keiner der vom Staatsanwalt befragten Zeugen hatte Entscheidendes zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen können. Der gegnerische Verteidiger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lockerte seine Krawatte, er schien sich eines Freispruches für seinen Mandanten sicher.
Der Richter blätterte in seinen Unterlagen und warf Anna Walter einen gelangweilten Seitenblick zu. »Möchte die Privatbeteiligtenvertreterin noch etwas vorbringen?«, fragte er und schloss den vor ihm liegenden Akt.
Auch nach vielen Jahren im Gerichtssaal konnte Anna nicht verstehen, wie jemand bei einem Delikt wie dem eben verhandelten emotionslos bleiben konnte und versuchte sich einzureden, dass es eine nachvollziehbare, wenn auch schwer zu verstehende Methode war, Grausamkeit zu verarbeiten. Sie selbst konnte die Genugtuung spüren, die sich immer dann in ihrem Magen ausbreitete, wenn sie einem Prozess die entscheidende Wendung geben konnte. Jahrelange Übung ermöglichte es ihr, sich äußerlich nichts von ihrer Erregung anmerken zu lassen. Sie wartete ein weiteres Ticken des Sekundenzeigers der Wanduhr ab, bevor sie ihren Stuhl zurückschob. »Ich habe durchaus noch einige Fragen«, sagte sie, während sie den Angeklagten musterte und ihre Füllfeder neben den aufgeschlagenen Akt legte. Ihre hohen Absätze hallten auf dem Parkettboden des Gerichtssaales wider, als sie auf Robert Pieler zuging.
»Ich möchte vorab klarstellen, dass ich Sie weder anklage noch über Sie richten werde«, sagte Anna zu dem Angeklagten. »Ich bin sicher, Ihr Verteidiger hat Ihnen erklärt, welche Position ein Privatbeteiligtenvertreter in einem Verfahren einnimmt.« Ein fragender Seitenblick auf seinen Anwalt bestätigte Annas Verdacht, dass Pieler keine Ahnung davon hatte, welche Rolle sie spielte. Auch wenn das Gesetz den Rahmen für ihre Vorgehensweise absteckte, hatte sie als Vertreterin des Opfers einen weitaus größeren Spielraum für ihre Befragung und etwaige Anträge als der Staatsanwalt.
»Sie mögen Kinder, richtig?«, fragte sie und schob eine Strähne ihrer langen Haare hinters Ohr.
»Tut das nicht jeder?«, fragte Pieler zurück. Bereits während der Vernehmung durch den Staatsanwalt hatte seine Stimme ebenso bestimmt geklungen. Als Vorstandsmitglied einer Pharmafirma wusste er offenbar sehr genau, wie man Antworten gekonnt vermied.
»Ich fürchte nein«, sagte Anna und ging einen weiteren Schritt auf den Angeklagten zu. Sie hätte ihre Hand ausstrecken und ihn berühren können. Er wich nicht einen Millimeter zurück. »Zumindest scheint es sehr unterschiedliche Auffassungen zu geben, was Zuneigung bedeutet.«
»Frau Kollegin, die Verhandlung ist nicht auf Stunden anberaumt«, warf Pielers Verteidiger ein.
Anna ignorierte den tadelnden Blick des Gegenanwaltes und wandte sich wieder ihrem Gegenüber zu. »Wir haben bereits gehört, dass Sie selbst zwei Kinder haben. Wie heißen denn Ihre Beiden?«
»Aenea«, antwortete Pieler, »und Nele«.
»Eine außergewöhnliche Wahl.«
»Sollte das eine Frage sein?«
»Meine ganz private Meinung«, antwortete Anna.
»Ich fasse sie als Kompliment auf«, sagte Pieler.
»Frau Kollegin …«
Anna nickte dem Verteidiger zu. »Wir haben im bisherigen Verfahren viele Fakten, aber wenig Persönliches über Ihren Mandanten gehört«, sagte sie, »ich halte es für den Sachverhalt für durchaus wichtig, ihn ein wenig näher kennenzulernen. Sie haben ausgesagt, jeden Samstag mit Ihren Kindern auf denselben Spielplatz zu gehen, auf dem sich auch Melanie Salzer gerne aufhält. Kennen Sie das Mädchen?«
Der Angeklagte hob die Schultern. »Wissen Sie, wie viele Kinder dort jedes Wochenende herumtoben? Ich achte nicht auf die anderen. Meine Aufmerksamkeit gilt ausschließlich Aenea und Nele.«
»Wie verbringen Sie denn so die Nachmittage?«
»Die beiden spielen Indianer. Oder Verstecken. Manchmal spielen wir zusammen Fußball.«
»Wie sie selbst ausgesagt hat, ist Fußball Melanies Lieblingsbeschäftigung. Ist Ihnen das Mädchen mit den dunklen Locken nie aufgefallen?«
»Ich könnte nicht einmal attraktive Mütter beschreiben, die wahrscheinlich oft genug neben mir auf den ubequemen Holzbänken gesessen sind«, antwortete Pieler und lächelte entschuldigend.
»Baden Sie gerne mit Ihren Kindern?«
»Frau Kollegin, ich wüsste nicht, wohin diese Fragen führen sollten«, wendete der Verteidiger ein.
»Ich komme bereits zur Sache«, sagte Anna, ohne Pielers Anwalt zu beachten.
»Das Baden übernimmt meine Frau«, antwortete Pieler.
Anna nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass auch der Richter sein Zögern bemerkt hatte. Sie konnte die Blicke in ihrem Rücken spüren, als sie zu ihrem Platz ging, um ein unscheinbares Blatt zwischen ihren Unterlagen hervorzuziehen. »Ich beantrage, ein neues Beweisstück zu den Akten zu nehmen. Eine Kinderzeichnung, gemalt von Melanie Salzer, die der Angeklagte nicht kennen will. Melanie hat den Angeklagten gut getroffen. Er sitzt in einer Badewanne. Nackt. Wir können ihn gerne bitten, sein Hemd zu öffnen, um uns davon zu überzeugen, wie authentisch die Darstellung ist.«
Pieler griff sich instinktiv an die Seite, knapp oberhalb des Ledergürtels, der aus der geöffneten Anzugjacke hervorlugte. Dort musste sich das auffällige Muttermal befinden, das Melanie beschrieben hatte.
Der gegnerische Anwalt drückte seinen Mandanten auf den Stuhl und redete leise auf ihn ein. Als er Anna sein Gesicht zuwandte, glaubte sie, Bewunderung zu erkennen. Auch er wusste, dass er sich zu früh in Sicherheit gewiegt hatte. »Ich spreche mich gegen die Zulassung dieses Beweismittels aus«, sagte er, »die Zeichnung einer Achtjährigen beweist nichts.«
»Das wird ein Sachverständiger beurteilen«, sagte Anna, durchquerte den Saal und legte das Blatt auf den Richtertisch, bevor sie auf ihren Platz zurückkehrte.
»Warum haben Sie das Beweisstück nicht früher vorgelegt?«, fragte der Richter, während er die Zeichnung betrachtete.
»Melanie Salzer hat dieses Bild gestern bei ihrer Therapeutin gemalt. Ihre Mutter hat es mir vor der Verhandlung übergeben«, sagte Anna, »ich bitte die Gegenseite um Entschuldigung, dass sie sich nicht umfassend auf dieses Vorbringen vorbereiten konnte. Bis zur nächsten Tagsatzung bleibt dafür sicherlich ausreichend Zeit.« Sie ordnete ihre Unterlagen und lehnte sich zurück.
Pieler hatte seine Hände zu Fäusten geballt und starrte sie an. Das Blau seiner Augen war um vieles dunkler geworden. Die Pharmaindustrie muss wohl in nächster Zeit auf einen ihrer Mitarbeiter verzichten, dachte Anna, blendete die Stimme des Richters aus, der das Protokoll diktierte, und schaute in den Zuschauerraum, um das Lächeln zu verbergen, das sie nicht länger zurückhalten wollte.
Zu Annas Verwunderung war nicht ein leerer Saal stummer Zeuge ihres Gefühlsausbruchs. Eine junge Frau im Wintermantel saß in der letzten Reihe und schaute in Annas Richtung. Ihre blonden Haare waren zu einem schlichten Knoten aufgesteckt, eine Sonnenbrille bedeckte ihre Augen. Anna hätte erwartet, dass ihre Mitwisserin das Lächeln erwiderte, stattdessen drehte sich die Unbekannte zur Richterbank und holte Anna in die Welt der Gewalt, Verletzung und Demütigung zurück, die sie für einen kurzen Augenblick hinter sich geglaubt hatte. Anna ahnte das blaue Auge, das die Frau zu überdecken suchte. Wahrscheinlich hatte sie im Krankenhaus von einem Unfall erzählt. Vielleicht kannte die beste Freundin die wahre Geschichte. Wenn sie den Mut fand, würde sie sich irgendwann der Polizei oder einem Anwalt anvertrauen.
Jemand räusperte sich. Anna wendete ihren Kopf. Der Richter sah sie tadelnd an. »Ich habe keine weiteren Fragen«, sagte Anna und verstaute den Akt in ihrer Tasche.
»Der Prozess wird vertagt, um das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen. Der Termin für die nächste Verhandlung ergeht schriftlich«, sagte der Richter und verließ mit der Schriftführerin den Saal.
Als Anna ihren Mantel überzog, nickte sie der jungen Frau im Zuschauerraum zu. Die Sonnenbrille verhinderte, das Senken ihres Kopfes als Zeichen der Zustimmung oder Scham zu deuten.
»Gelungene Prozessführung«, sagte der Gegenanwalt.
»Routine«, antwortete Anna.
Der Verteidiger drückte Pieler eine Hand auf die Schulter, um ihn am Aufstehen zu hindern. »Sie hatten die Zeichnung schon die ganze Zeit über vorliegen, richtig?«
»Würde es an der Schuld Ihres Mandanten etwas ändern, wenn es so wäre?«
»Wer sagt denn, dass er schuldig ist?«
»Wir beide müssen nicht darüber entscheiden.«
»Das Kind hat die Geschichte erfunden.«
»Herr Kollege, Sie verschwenden Ihre Kräfte. Sie müssen den Richter überzeugen, nicht mich«, sagte Anna, »kümmern Sie sich um Ihren Mandanten und verhindern Sie, dass er weitere Dummheiten begeht.«
Pieler stand auf, schaute seinen Verteidiger fragend an und wischte dessen Hand wie ein lästiges Insekt von seiner Schulter. »Haben Sie sich mit ihr verbündet?«, fragte er erstaunlich ruhig und kontrolliert. Hätte Anna dem Angeklagten gegenüber nicht dermaßen viel Verachtung empfunden, hätte sie seiner Selbstbeherrschung Respekt gezollt.
»Einen schönen Tag noch, Herr Kollege«, sagte Anna und ging zum Ausgang. Als sie die Tür hinter sich schloss, reduzierte sich die mittlerweile laut geführte Diskussion zwischen Pieler und seinem Anwalt auf ein unverständliches Gemurmel. Vor den Fahrstühlen hatte sich eine lange Schlange gebildet. Anna passierte die Wartenden und eilte die Treppen hinunter. Da ihr niemand entgegenkam, ballte sie triumphierend die Hand zur Faust.