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7 DIENSTAG

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Die roten Punkte der Tasse leuchteten im Neonlicht. Als der Kessel pfiff, griff Anna danach und übergoss die Teeblätter mit kochendem Wasser. Das Aroma von schwarzem Darjeeling füllte ihre Nase, während sie ihre Handflächen am aufsteigenden Dampf wärmte. Das Thermometer vor dem Küchenfenster zeigte drei Grad über Null. Die kahlen Äste der japanischen Kirschbäume bewegten sich rhythmisch im Wind. Zu ihren Füßen drückte ein einzelner Fußgänger seinen Hut auf den Kopf und umschlang den Kragen seines Mantels. Nachdem Anna vergeblich die Straße nach parkenden Geländewagen abgesucht hatte, stellte sie die halb geleerte Tasse neben die Spüle und wischte Krümel ihres gestrigen Abendessens von der Arbeitsfläche. Wenn sie sich weiter von Knäckebrot mit Butter ernährte, würde sie in Kürze neue Hosen besorgen müssen.

Am Weg zur Wohnungstür flocht sie ihre Haare zu einem Zopf, stülpte ein rotes Gummiband über das Ende und fischte ihre Jacke vom Garderobenhaken. Während sie die Laufschuhe schnürte, drangen die Goldberg-Variationen aus ihren Kopfhörern. Anna zog den Reißverschluss bis unter das Kinn und Handschuhe über und lief die Stiegen fast geräuschlos nach unten. Als sie das Haustor öffnete, riss der Wind an ihrer Mütze. Anna zog sie tiefer in die Stirn, trocknete ihre tränenden Augen und legte die wenigen Straßen bis zum Radweg am Ufer des Donaukanales in lockerem Trab zurück. Ohne den Schutz der Häuser verstärkte sich der Wind zum Sturm und sie hatte Mühe, ihren gewohnten Rhythmus zu finden. Ihre Freundinnen verstanden nicht, warum sie sich jeden Morgen aus dem Bett quälte, um eine Stunde durch das verschlafene Wien zu laufen. Ihr Vater sorgte sich, ob sie unbeschadet zurückkäme und hätte ihr am liebsten einen Hund geschenkt. Doch Anna brauchte diese Stunde der Einsamkeit, in der ihre Fälle weit hinter ihr blieben. Nur in dieser Stunde hatte sie die Möglichkeit, die Jahreszeiten zu verfolgen. Es war die einzige Stunde des Tages, in der sie nur an sich denken konnte. Oder nicht denken konnte. Es war ihre ganz persönliche Stunde.

Als Anna sich vom Stadtzentrum entfernte, kam ihr ein einsamer Läufer entgegen. Stumm nickten sich die beiden zu und Anna schaute auf ihre Armbanduhr. Ihr blieben fünf Minuten, bevor sie ihren gewohnten Wendepunkt erreichte. Da ihre Lungen von der ungewohnt kalten Luft schmerzten und ihre Haut brannte, entschied sie, früher umzukehren, zumal sie den Umweg über Mimis Wohnung einberechnen musste. Noch in der Nacht hatte ihre Freundin ihr mitgeteilt, dass ihr kein Wagen gefolgt war. Hatte sie sich alles nur eingebildet? Hatte der Fahrer einfach dieselbe Route genommen? Mimi hatte nach dem Warum gefragt. Lag der Grund in einem lange zurückliegenden Fall, oder ließ Tolstunov sie beschatten? War es möglich, dass er bereits wusste, dass Julia sie aufgesucht hatte?

Anna bemerkte den entgegenkommenden Läufer erst, als sie mit ihm zusammenprallte. Zu spät versuchte sie, ihren Kopf zu heben, doch da drückte sein Schlüsselbein bereits gegen ihren Hinterkopf. Er hielt sie an den Oberarmen, um sie beide am Fallen zu hindern.

»Ich habe nicht aufgepasst«, sagte Anna.

Der Wind war zu laut um seine Antwort zu verstehen.

»Es tut mir leid«, rief sie einem Rücken in einer dunklen Jacke zu, die in der Dunkelheit verschwand. Als Anna den ersten Schritt machte, fuhr der Wind ungeschützt über ihren Kopf. Ihre Mütze lag am Wegrand auf einem Haufen Laub und sie bückte sich danach. Der Stoff war feucht und nasse Blätter klebten daran. Als Anna sie überzog, bemerkte sie, dass sich auch ihr Zopf gelöst hatte. Sie suchte den Boden nach dem roten Gummiband ab, doch sie konnte es nicht entdecken. Nachdenklich drehte sie sich noch einmal um. Der andere Läufer war verschwunden und Kälte drang durch den Stoff ihrer Laufhose. Anna setzte sich in Bewegung und wechselte von den Goldberg-Variationen zu Michael Jackson. Sie musste sich beeilen, wenn sie es pünktlich ins Büro schaffen wollte.

Gefallener Mond

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