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Kapitel 8: Außer Kontrolle

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Eine weitere Woche verging, die Robert nur schwer durchstand. Die Isolation von der Außenwelt machte ihm immer mehr zu schaffen. Er sah viel fern, schaute sich alte Serien an, die er sich immer schon ansehen wollte. Aber während er sie sah, konnte er sich nicht auf die Handlung einlassen. Es interessierte ihn nicht mehr. Er musste sich eingestehen, dass sein Klon Recht hatte, als er sagte, er müsse sich der Realität stellen. Das war nicht mehr sein Leben, nicht seine Arbeit, nicht seine Wohnung, nicht sein soziales Umfeld. Er war längst fort. Und nun war es an der Zeit, sich endgültig von diesem alten Leben zu verabschieden.

Hendrik kam wieder zu Besuch.

»Er ist fertig«, sagte er grinsend. Stolz hielt er ein kleines Glasröhrchen hoch, das den winzigen neuen Ortungschip enthielt.

»Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich würde wahnsinnig werden, wenn ich noch eine weitere Woche auf ihn warten muss.«

»Ich werde Ihnen eine lokale Betäubung verabreichen und dann implantieren.«

»Ausgezeichnet. Und wer bin ich jetzt?«

»Laut Ihrem Chip sind Sie von nun an Marvin Winkel. Sie haben eine eigene Sozialversicherungsnummer, eine Steuernummer, eine Unfallversicherung und sogar ein eigenes Bankkonto und eine Geburtsurkunde.«

»Wie das? Gibt es diesen Marvin Winkel in echt? Oder hat es ihn gegeben?«

»Nein. Er ist reine Fiktion. Ein Gespenst, wenn Sie so wollen.« Hendrik verabreichte Robert eine Spritze in den Nacken und wartete dann die Wirkung ab.

»Wie ist das denn möglich? Sie haben einfach eine Person erfunden und ein Konto für sie eröffnet, ohne dass sich jemals jemand ausweisen musste, um seine Identität zu bestätigen?«

»Ganz genau. Wir haben ein paar brillante Hacker, die für uns arbeiten. Man muss nur wissen, wie man unbemerkt Zugang zu den entsprechenden Datenbanken erlangt, und dann kann man einfach einen neuen Eintrag für eine fiktive Person machen. Ganz so einfach ist es natürlich nicht, aber man kann nahezu alles eintragen. Inklusive einer nachvollziehbaren Vergangenheit.«

»Wie meinen Sie das mit Vergangenheit?«

»Nun, jeder Menschen hinterlässt jeden Tag irgendwo digitale Spuren. Wenn Sie im Internet unterwegs sind, wenn Ihr Chip am Bahnhof von einem Ortungssensor erfasst wurde. Sie entgehen dem all-sehenden Auge nicht. Genau diese Spuren setzen wir in die entsprechenden Datenbanken ein. Ein Leben voller Spuren, die es nie gegeben hat.«

»Aber das müssten ja hunderttausende Einträge und Erfassungen sein. Das kann doch kein Mensch alles einprogrammieren.«

»Stimmt. Kein Mensch kann das. Aber unsere Informatiker haben eine komplexe KI-gestützte Software entwickelt, welche diese Einträge in einer logischen Abfolge in die Datenbanken hinein schummelt. Den Betrug würde man erst entdecken, wenn man systematisch den Spuren nachgeht und Personen befragt, die Kontakt mit unserem fiktiven Marvin Winkel hatten. Das Dumme ist nur, auch diese Kontaktpersonen existieren nicht.«

»Unfassbar! Sie haben also ein ganzes Netzwerk aus imaginären Identitäten erschaffen?«

»So ist es. Und alle existieren nur virtuell. Und Sie sind jetzt einer davon. Aber nur solange, bis wir unser Ziel erreicht haben.

Das einzige Problem sind die Gesichtserkennungen, die an verschiedenen Orten durchgeführt werden. Der Normalbürger kennt die Stellen, an denen sein Gesicht gescannt wird, nur in den seltensten Fällen. Wir aber kennen sie alle. Deshalb müssen wir Sie bei Ihrer Ausschleusung um diese Erkennungsstellen herumführen, oder die Technik austricksen. Darum werden sich unsere Experten kümmern. Aus diesem Grund kann ich Ihnen auch noch keine Route sagen, die wir nehmen werden, oder Ihnen unsere Aufbruchszeit nennen. Alles muss perfekt ineinandergreifen, damit wir dem Überwachungssystem entkommen können.«

»Ihr seid echt Profis. Ich bin beeindruckt.«

»Wir machen das auch schon eine ganze Weile. Und wenn Sie wüssten, für wen wir alles schon gearbeitet haben - sprich: wen wir schon alles durch einen Klon ersetzt haben -, könnten Sie keine Minute mehr ruhig schlafen.«

»Ich würde auch nicht fragen wollen.«

»Das freut mich. Diskretion ist in unserem Metier nämlich existenziell.« Hendrik nahm irgendein Gerät in die Hand, das Robert noch nie zuvor gesehen hatte. Er scannte damit seinen Kopf.

»Stimmt was nicht?«, fragte Robert besorgt.

»Nein, alles in Ordnung. Reine Routine. So, ich denke, wir können jetzt den Chip einsetzen. Das geht wesentlich schneller als die Entfernung des Originalchips.«

»Dann mal los.« Robert wartete gespannt.

Es ging tatsächlich ganz schnell. Keine Schmerzen, kein Unwohlsein. Alles schien gut zu laufen. Moderne Technik machte es möglich.

»Ich mache noch ein paar Tests, dann sehen wir, ob es funktioniert, wie es soll.«

Alle Tests bestand der neu programmierte Chip anstandslos. »Gut, dann müssen wir noch mindestens eine Woche warten, bis sich Ihr Körper an den neuen Chip vollständig angepasst hat. Von nun an sind Sie Marvin Winkel.«

»Dann kommen Sie in einer Woche wieder?«

»Genau. Dann werde ich Ihnen auch ein ungefähres Zeitfenster nennen können, in dem wir aufbrechen werden.«

»Das klingt wundervoll. Ich bin schon ganz aufgeregt.«

»Bevor ich wieder gehe, noch eine Frage: Ist alles mit Ihrem Klon in Ordnung? Irgendwelche Auffälligkeiten?

»Bis auf die Tatsache, dass sich mein Klon für etwas Besseres hält - keine Auffälligkeiten.«

»Darüber hatten wir ja schon gesprochen. Ein gewisses Konkurrenzdenken in Ihrer Anwesenheit ist nichts, worüber man sich Sorgen machen muss.«

»Ja, ich weiß. Ich gehe ihm aus dem Weg, so gut es geht. Anders geht es nicht. Sonst geraten wir wieder aneinander. Da muss ich wohl durch.« Robert war überrascht, dass Hendrik speziell nach Auffälligkeiten des Klons fragte. Waren seine beschwichtigenden Worte nur eine Farce, oder machte er sich insgeheim Sorgen über die korrekte Funktion des Klons?

»Es wird ja auch nicht mehr lange dauern. Wir sehen uns in einer Woche.«

»Einen Moment noch. Jetzt, da ich den neuen Chip habe, kann ich theoretisch rausgehen. Ich würde auch nur im Park spazieren gehen, wo es keine Überwachung gibt.«

»War das wirklich nur eine theoretische Frage?«

»Mir fällt hier drin die Decke auf den Kopf. Ich kann mich nicht erinnern, so lange Zeit in einem Raum eingesperrt gewesen zu sein.«

»Sie könnten rausgehen. Aber davon rate ich dringend ab. Wie ich bereits sagte, sind Ihr Körper und Ihr Chip noch nicht aneinander gewöhnt. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass er auffallen könnte - selbst wenn Sie in die Nähe eines Routine-Detekors kommen - aber wir wollen doch jedwedes Risiko vermeiden, nicht wahr? Im Park könnten Sie ja auch in eine routinemäßige Personenkontrolle geraten. Und wenn man Ihnen dann Fragen über Sie stellt, könnten Sie sich in Widersprüche verstricken. Und dann hätten wir ein Problem. Aus diesem Grund habe ich Ihnen auf Ihr Tablet Ihren Lebenslauf für Marvin Winkel aufgespielt. Den sollten Sie in den nächsten Tagen buchstabengetreu auswendig lernen. Nur im absoluten Notfall sollten Sie daher die Wohnung verlassen.«

»Und wann weiß ich, wann ein Notfall eintritt?«

»Das würde ich Ihnen schon sagen.«

»Also gut. Ich werde der Versuchung widerstehen und nicht rausgehen. Ich weiß, dass es zu gefährlich sein könnte.«

»Sie schaffen das. Auf diese Weise behalten wir über alles die volle Kontrolle.«

Robert hielt durch und beschäftigte sich in den folgenden Tagen damit, sich mit seiner neuen Identität auseinanderzusetzen. Seine neue Identität Marvin Winkel war Freiberufler, arbeitete als Werbetexter von zu Hause aus, lebte in der derselben Stadt mit einer anderen Adresse. Er hatte ein paar Freunde, mit denen er sich regelmäßig traf - alles digitale Phantome, so wie Marvin.

»Verrückt«, stieß Robert kopfschüttelnd am Freitagabend aus, als sein Klon nachhause kam.

»Und, alles in Ordnung mit deinem neuen Chip?«, fragte Robert2.

»Ich denke schon. Aus Sicherheitsgründen sollte ich aber noch nicht rausgehen.«

»Hm. Na, lange wird es ja nicht mehr dauern.«

»Und darf ich fragen, wo du heute Abend warst?«

»Ich war mit Nicole wieder im Holo-Kino, habe ich dir noch vor zwei Tagen gesagt.«

»Ach ja, richtig. Habe ich ganz vergessen.« Das hatte Robert nicht, aber er wollte den Coolen spielen. Aus irgendeinem Grund hielt er das gegenüber seinem Klon für nötig. »Und wie war es?«

»Langweilig. Dafür haben wir uns viel unterhalten. Ich glaube, was meine Beziehung zu ihr angeht, werde ich den nächsten Schritt wagen.«

Robert erstarrte. »Den nächsten Schritt?«

»Ja, ich werde ihr sagen, was ich für sie empfinde.«

Robert rang nach Luft und Worten. »Bist du vollkommen übergeschnappt?«

»Wieso? Du bist doch bald weg. Was kümmert es dich?«

»Aber Hendrik hat mir versichert, dass du nichts dergleichen unternehmen wirst.«

»Na, dann hat er sich eben geirrt.« Robert2 sprach die Worte, als handele es sich um eine völlig belanglose Nebensächlichkeit.

»Aber du bist nur ein Klon und sollst unauffällig mein Leben weiterleben. Ohne eine engere Beziehung einzugehen. Sonst könnte deine wahre Identität auffliegen.«

»Was denn für eine wahre Identität? Ich bin du, das hast du selbst gesagt.«

»Dass du aus einem Reagenzglas stammst, meine ich! Stell dich nicht absichtlich dumm.«

»Sorry, aber ich kann machen, was ich will. Dein Leben ist jetzt mein Leben. Du existierst offiziell gar nicht mehr. Schon vergessen, Marvin?«

Robert lief rot an. »Du überschreitest hier eine Grenze, mein Lieber. Wage es ja nicht, mich zu verarschen.«

»Geht das Theater schon wieder los? Ich will nichts von dir. Ich will nur mein Leben leben. Oder besser gesagt: dein Leben.«

Robert tigerte - sich die Haare raufend - im Wohnzimmer hin und her. »Du musst irgendeinen Defekt haben. Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Diese ständigen Aggressionen gegen mich, dein irrer Versuch, mit Nicole eine Beziehung einzugehen. Das widerspricht allem, was mir versprochen wurde.«

»Ruf doch bei der Verbraucherzentrale an und beschwere dich. Ach ich vergaß: Einen Klon zu erschaffen, ist ja illegal. Also was willst du jetzt tun?«

Robert blieb stehen und funkelte seinen Klon hasserfüllt an. »Je mehr ich von dir höre, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass du nichts, aber auch gar nichts mit mir gemeinsam hast. Ich bin betrogen worden, das ist es!«

»Glaubst du nicht, du übertreibst jetzt?«

»Ganz im Gegenteil. Aber ich kann immer noch die Reißleine ziehen. Robert dachte an die Worte, die seinem Klon auf der Stelle das Licht auspusten würden.«

Sein Klon wusste, dass er mit diesem Gedanken spielte. »Du würdest mich umbringen, nur weil ich deinen hochgesteckten Erwartungen nicht entspreche? Weil dein Selbstbild offensichtlich vollkommen verzerrt ist? Du willst mich für deine eigenen Unzulänglichkeiten, die du in mir siehst, ermorden?«

»Ich würde nur einen dummen Fehler rückgängig machen. Das ist alles.« Wäre Robert wirklich in der Lage, das zu tun? Hätte er den Mut, so weit zu gehen und alles zu riskieren?

Er ließ sich auf die Couch fallen und dachte nach. Eigentlich stimmte es doch, was sein Klon gesagt hatte. Was kümmerte es ihn, welche Art von Leben Robert2 führte, wenn er selbst tausende Kilometer entfernt ein neues und eigenes Leben begann? Trotzdem war er davon überzeugt, dass mit Robert2 etwas nicht stimmte. Er würde zunächst Hendrik zur Rede stellen und dann entscheiden, was er tun würde.

Als er länger darüber nachdachte, kam ihm die Idee, dass Robert2 vielleicht nur so tat, als würde er mit Nicole ernsthaft über seine wahren Gefühle sprechen wollen. Vielleicht wollte er nur Robert - sein Original - aus seiner Kränkung heraus, eine Kopie zu sein, ärgern. Hendrik hatte es Konkurrenzverhalten genannt.

»Und wann triffst du dich wieder mit Nicole, um ihr deine... Liebe zu gestehen?«, fragte Robert abfällig.

»Nächste Woche vielleicht. Vielleicht sage ich es ihr auch erst, wenn du fort bist.«

Na klar, du Feigling. Habe ich es doch gewusst. Alles nur ein Bluff. Gott, wie sehr ich ihn für sein Verhalten hasse!

Robert irrte sich nicht nur, was das Verhältnis von Nicole und Robert2 betraf. Nein, er hasste in Wahrheit sich selbst für seine eigene Feigheit, die ihm sein Klon durch dessen ausweichende Antwort nur vor Augen geführt hatte.

Homunkulus Rex

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