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Kapitel 5: Das alte und das neue Leben

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Robert war noch nie zuvor in Narkose versetzt worden. Es hieß, man würde nicht träumen. Aber bei dieser Narkose war es ganz anders. Er träumte die wildesten Träume, ohne von ihnen emotional mitgerissen zu werden. Er träumte vergangene Episoden aus seinem Leben und nahm dabei immer nur die Rolle eines neutralen Beobachters ein, der ungerührt an den wichtigsten Weichenstellungen in Roberts Leben teilnahm. Roberts erster Schultag, seine erste eigene Wohnung, sein erster Kuss - alles durchlebte er erneut. Und eine Szene träumte er immer und immer wieder: Sein gescheiterter Versuch, Nicole von seiner Idee, das Land illegal und dauerhaft zu verlassen.

»Würdest du so leben wollen?«, hallte ihm Nicoles Stimme in seinem Kopf nach.

»Ja, das würde ich«, nuschelte Robert, während er langsam, fast qualvoll, aus seiner Narkose erwachte. Es fühlte sich furchtbar an. Er öffnete die Augen und alles schien sich erst zu drehen und dann zu zittern. Dabei war er es, der zitterte. Er wurde unruhig und versuchte, sich aufzurichten. Jemand hielt ihn davon ab.

»Das geht gleich wieder vorbei. Bleiben Sie ruhig liegen«, hörte er eine Stimme, die von weit herzukommen schien, in Wahrheit aber ganz in seiner Nähe war. »Machen Sie ruhig die Augen zu. Lassen Sie sich Zeit, Robert. Alles ist gut. Es hat alles wie geplant funktioniert.«

Erleichtert sank er wieder zurück ins Bett, wobei ihm auffiel, dass es sein Bett war. War er wieder zuhause? Er ließ die Augen geschlossen und versuchte, sich die grünen Weiten, Täler und Hügel seines Traumziels vorzustellen. Es gelang ihm aber nicht. Er schlief wieder ein.

Ein paar Stunden später waren die unerwarteten Begleitsymptome der Narkose fast vollständig verschwunden. Robert fühlte sich etwas groggy, aber gut. Er öffnete wieder die Augen. Er war tatsächlich zu Hause. Hatte man ihn während seiner Narkose hierher gebracht?

»Na endlich, das hat ja gedauert.« Hendrik kam ins Schlafzimmer. Er hatte irgendein technisch-medizinisches Gerät in seiner Hand und hielt es Robert an seinen Kopf. Nach ein paar Sekunden nickte er zufrieden. »Alles klar. Ihnen geht es gut. Die Narkose hat ein wenig länger gedauert, als wir eingeplant hatten. Deshalb haben wir Sie nach Hause gebracht, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, versteht sich. Alles hat wunderbar geklappt.«

»Und der Klon? Wo ist er?«, platzte es aus Robert heraus.

Hendrik deutete mit dem Kopf zur Tür. »Er ist im Wohnzimmer und sieht sich einen Polit-Talk an.«

Diese Antwort erschreckte Robert ein wenig. Zum einen, weil dieser Klon jetzt in seine Wohnung eingezogen war. Zum anderen, weil er offensichtlich genau das tat, was Robert am Samstagmorgen zum Frühstück auch immer getan hatte: den Polit-Talk schauen.

»Kann ich ihn sehen? Kann ich mit ihm sprechen?«

»Na sicher, warum denn nicht? Nur ein paar wichtige Hinweise möchte ich Ihnen vorher noch mitgeben.«

Robert stieg aus dem Bett und betrachtete sein Spiegelbild am Wandschrank. Er sah furchtbar aus. Als ob er drei Nächte nicht geschlafen hätte. »Dann schießen Sie mal los. Hoffentlich kann ich mir alles merken; mein Kopf fühlt sich an wie Blei.«

»Das vergeht spätestens nach ein paar Stunden wieder. Sie haben alles bestens überstanden.

Ihr Klon besitzt nun Ihr Gedächtnis, Herr Mester. Er könnte sich sogar an Dinge aus Ihrer frühesten Kindheit erinnern, die Sie längst vergessen haben - wenn wir ihn so programmiert hätten. Er wird sich von nun an genau so verhalten wie Sie. Er wird so sprechen wie Sie, er wird zur selben Uhrzeit schlafen gehen wie Sie. Er hat dieselben Vorlieben und Abneigungen. Dieselben Vorurteile, Schwächen und Stärken - es ist alles gleich.

Ich musste das nochmal sagen, weil viele unserer Kunden darauf verunsichert reagieren. Es ist aber alles so, wie es sein soll. Es ist alles in Ordnung.«

Robert nickte. »Hoffentlich. Das muss ja auch so sein. Wenn er zu meiner Betriebspsychologin geschickt werden sollte, wird er nicht auffallen, nehme ich an?«

»Nein, er wird sich genauso verhalten wie Sie. Er wird nervös sein, schwitzen, um seinen Job bangen und sich letztlich von der ihm übergeordneten Autorität einschüchtern lassen, genau wie Sie.«

Robert hob eine Augenbraue.

Hendrik zuckte entschuldigend die Achseln. »Nichts für ungut. Er wird sich einfach wie ein normaler Mensch verhalten. Das wollte ich damit sagen.«

»Schon klar. Aber, was ich mich die ganze Zeit über frage: Wie wird er sich mir gegenüber verhalten?«

»Um es kurz zu sagen: neutral. Er weiß, dass Sie - der originale Robert - existieren. Er ist aber darauf programmiert, nie mit jemand anderem darüber zu sprechen, ja nicht einmal zu denken. Damit würde er sogar Neurohackings überstehen. Sobald sie beide in einem Raum sind, werden Sie für ihn so etwas sein wie sein Meister. Er wird gehorchen, was immer Sie ihm sagen. Er wird nichts, was Sie äußern, infrage stellen, oder darüber weiter nachdenken. Im Übrigen werden Sie und er ja nur ein paar Tage, höchstens ein paar Wochen zusammen leben, nur mit dem Unterschied, dass er zur Arbeit gehen und Freunde und Bekannte treffen wird, und Sie nicht. Sie werden zuhause bleiben und auf Ihren Ersatzchip mit der falschen Identität warten, den wir Ihnen implantieren werden.«

Robert zog sich um und hielt kurz inne. »Dann wird er sich auch mit meiner Freundin Nicole zum Essen treffen?« Er hätte gar nicht aufzählen können, was ihm an diesem Gedanken alles nicht gefiel.

»Selbstverständlich. Robert2 soll in keinster Weise irgendwie auffällig werden. Er wird all das tun, was Sie auch getan haben.« Hendrik schien zu ahnen, worauf sein Kunde hinauswollte. »Sie hatten doch keine... wie soll ich es sagen? Keine engere Beziehung zu dieser Nicole, oder?«

»Nein. Hatte ich nicht.« Die Enttäuschung, die in dieser Antwort mitklang, war kaum zu überhören.

»Dann wird es mit Robert2 auch dabei bleiben. Er wird nie eine Liebesbeziehung mit jemandem eingehen. Er wird daher auch nie Kinder und Familie haben wollen. Das habe ich Ihnen ja schon erklärt. Er wird so programmiert, dass er ein ganz normales, unauffälliges Leben führen wird. Er wird sich nie politisch engagieren, nie höhere Ziele anstreben. Und wenn er gekündigt werden sollte, dann wird er sich um einen neuen Job bemühen und denjenigen annehmen, der ihm angeboten wird, ohne sich zu beschweren. Er wird ein kleines Rädchen bleiben, das sich immer fleißig weiterdreht. Er wird alt werden und sterben. Ganz unauffällig.«

Robert lachte innerlich verächtlich auf: Genau wie ich. Aber damit wird ab sofort Schluss sein - jedenfalls für mich.

»Die perfekte Tarnung für ihn und für mich also«, sagte er und wollte ins Wohnzimmer gehen.

»Eines noch, Herr Mester. Für den Fall, dass etwas schiefgeht, haben wir noch eine spezielle Funktion in den Klon programmiert.«

Robert zuckte innerlich zusammen, als er 'schiefgeht' hörte. »Was sollte denn schiefgehen? Sie haben doch gesagt, Sie hätten das schon mehrfach gemacht und immer erfolgreich.«

»Davon gehen wir auch bei Ihrem Fall aus. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass immer etwas fehlschlagen kann. Es können Umstände eintreten, die wir nicht vorausahnen können. Das gilt insbesondere für die Zeit, in der Sie zusammen mit dem Klon unter einem Dach wohnen werden.«

»Ja, ja. Schon gut, ich weiß auch, dass es Probleme geben kann. Von meiner Seite aus werden diese jedoch nicht entstehen. Ich will hier raus. So schnell wie möglich. Was ist das also für eine Funktion, von der Sie gesprochen haben?«

»Es ist eine Terminierungseinrichtung für den Klon. Nur Sie, Herr Mester, sind befähigt, sie auszulösen.«

»Sie meinen, ich soll im Notfall den Klon... töten?«

Hendrik deutete ein Nicken an.

Robert schluckte trocken. Auf so etwas hatte er sich gedanklich überhaupt nicht vorbereitet. Den Worst Case. Plötzlich schossen ihm lauter Dinge durch den Kopf, die schiefgehen konnten. Seine Flucht könnte auffliegen, sein Klon als eben solcher enttarnt werden. Hendriks Organisation könnte hochgenommen werden. Es könnte eine undichte Stelle darin geben, die alles ausplauderte. Er schüttelte diese Gedanken ab. Er konnte nicht mehr zurück. Er musste jetzt nach vorn blicken. Das war doch dasselbe wie die angsteinflößenden Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel eines Medikaments. Sie konnten theoretisch auftreten, taten es aber bei den meisten Menschen dann nicht. Hier war es genauso: Unzählige Risiken standen ihm bevor, doch ihre Eintrittswahrscheinlichkeit war verschwindend gering.

»Und wie funktioniert diese Terminierung?«

»Ganz einfach. Es ist ein Satz, den Sie in Gegenwart des Klons zweimal hintereinander sagen müssen. Nur Ihre Stimme kann die Terminierung auslösen. Würde jemand anderes die Worte sprechen, blieben sie wirkungslos. Dies ist aber wirklich nur für den absoluten Notfall vorgesehen. Es kann auch sein, dass ich Ihnen sagen werde, dass wir den Klon eliminieren müssen. Wir werden das jedoch nicht tun können, sondern nur Sie mit Ihrer Stimme.«

»Welche Worte töten den Klon?«

»Es ist ein Satz: mens agitat molem.«

»Verstand siegt über Materie« Roberts Latein war stark eingerostet, und er war sich ziemlich sicher, dass es sich um ein Zitat des Dichters Vergil aus der römischen Antike handelte.

»Wenn Sie Robert2 diese drei Worte zweimal hintereinander sagen, dann wird eine Überlastung in seinem Gehirnimplantat ausgelöst, die auf der Stelle zum Tod führen wird. Sollte man ihn untersuchen, wird man feststellen, dass er an einem plötzlichen Hirnschlag gestorben ist. Es würde sogar funktionieren, wenn Sie ihm die Worte übers Telefon oder Videochat vom anderen Ende der Welt aus sagen würden. Noch einmal: Nur Ihre Stimme kann die Überlastung des Implantats auslösen.«

Robert runzelte die Stirn. »Wenn meine Stimme es auslösen kann, dann könnte es auch seine Stimme tun, oder? Er hat doch dieselbe Stimme wie ich.«

»Er könnte, aber er kann nicht. Er kennt die Worte. Sie sind in seinem Chip gespeichert, aber er wird sie aus einem programmierten Selbsterhaltungstrieb nicht aussprechen.«

»Und wieso können Sie ihn nicht einfach abschalten, wenn es erforderlich ist?«

»Wir sind nur so lange an der Angelegenheit beteiligt, wie wir Zeit benötigen, Sie zu Ihrem Ziel zu bringen. Danach werden sich unsere Wege nicht mehr kreuzen. Sollte unsere Organisation - aus welchen Gründen auch immer - nicht mehr existieren oder durch die Behörden infiltriert werden, wird es keinerlei Verbindungen mehr zu Ihnen und Ihrem Klon geben. Das dient einzig und allein Ihrer Sicherheit, Herr Mester. Wenn Sie in Kamtschatka sind, ist das sowieso nicht mehr von Bedeutung.«

»Ich verstehe. Jetzt will ich ihn mir ansehen.«

»Sicher.«

Robert ging leise auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer, bis ihm auffiel, was er gerade tat. Wieso glaubte er, sich anschleichen zu müssen? Als er seinen Klon dann sah, musste er sich beherrschen, um nicht zurückzuweichen. Es war, als wäre er aus sich selbst herausgetreten und würde sich nun von außen betrachten. Der schlafende Robert2 hatte noch eine gewisse Eigenständigkeit ausgestrahlt - so jedenfalls war es Robert vorgekommen (Vielleicht hatte er es sich auch eingebildet). Aber der wache Robert2 war absolut identisch mit seinem Original. Nichts, gar nichts unterschied ihn mehr. Auch nichts, das Robert sich einbilden könnte. Das auf der Couch vorm Holoprojektor war er.

Robert2 bemerkte ihn und drehte seinen Kopf zu ihm. »Hallo«, sagte er freundlich und wartete Roberts Reaktion ab. Seine Stimme war, wie erwartet, ebenfalls absolut identisch mit seiner.

»Hallo«, erwiderte Robert, schwer darum bemüht, cool zu bleiben. »Wie geht es dir?«

»Danke, gut. Und selbst?«

»Ein wenig müde noch. Aber ich bin OK.«

»Schön. Willst du mit schauen? Die Sendung hat erst vor einer Viertelstunde angefangen. Da ist schon wieder einer von den Sprung-Evolutionären in der Talk-Runde. Der redet ohne Punkt und Komma.«

Robert sah fragend zu Hendrik. Der nickte und sagte: »Kann nicht schaden, wenn Sie sich beide ein wenig 'kennenlernen'. Sie werden immerhin noch einige Zeit miteinander verbringen. Ich muss jetzt sowieso los.«

»Sie gehen?«

»Wir haben noch einen Berg Arbeit vor uns. Ihre Ausreise muss minutiös vorbereitet werden. Und Ihr neuer Chip muss noch programmiert werden.«

Robert sah unsicher zu seinem Klon, der sich wieder der Talk-Show widmete. Er hatte Angst, allein mit ihm zu sein, auch wenn es dafür eigentlich keinen rationalen Grund gab.

»Keine Sorge. Das Schlimmste haben Sie überstanden, Herr Mester. Ich komme morgen wieder vorbei. Dann besprechen wir mit Robert2 noch alles für seinen ersten Arbeitstag am Montag. Ich habe Ihnen meine Nummer hinterlassen, wenn Sie mich kontaktieren möchten. Wundern Sie sich nicht, wenn es etwas länger dauern wird, mich zu erreichen. Die Nummer ist nicht auf meinen Namen zugelassen, so dass Ihr Anruf ein paar Umwege machen muss, um mich zu erreichen.«

»Klar«, sagte Robert. »Muss ich noch an etwas denken - ihn betreffend?«

»Nein, er ist kein kleines Kind. Er ist Sie. Er kann alleine zur Toilette gehen und muss nicht zum Schlafengehen zugedeckt werden. Lassen Sie ihn einfach machen. Er wird sich ganz unauffällig verhalten.«

»Natürlich.« Robert grinste unsicher.

»Bis morgen dann.«

»Gut. Und danke.«

Robert ließ Hendrik aus seiner kleinen Wohnung und schloss die Tür ab. Er ging zurück zum Wohnzimmer und setzte sich in einigem Abstand auf die Couch. Robert2 saß auf seinem Lieblingsplatz. Auf seinem Lieblingsplatz. Sollte er ihm das sagen?

Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Robert2 plötzlich: »O, ich sitze auf deinem Platz. Soll ich mich woanders hinsetzen?«

»Nein, nein. Es macht mir nichts aus. Mir egal, wo ich sitze.«

Robert2 wusste ganz genau, dass es ihm etwas ausmachte, und dass es ihm nicht egal war, wo er saß.

»Sicher?«

»Ja. Bleib ruhig sitzen.« Robert saß steif da und faltete seine Hände. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.

»Stimmt was nicht?«, fragte sein Klon.

»Nein. Ich sitze nur neben meinem eigenen Klon. Alles ganz normal.«

Robert2 lächelte milde. »Hey, für mich ist das auch merkwürdig.«

»Ach ja?«

»Na sicher. Ich meine, ich weiß, dass ich nicht du bin. Aber dennoch bin ich es. Es fühlt sich jedenfalls so an. Es ist ein wenig verwirrend, findest du nicht auch?«

»Ja, ziemlich verwirrend.«

»Das Einzige, was uns beide voneinander unterscheidet, ist, dass du gehen wirst und ich bleiben werde. Das ist alles«, sagte sein Klon.

»Stimmt. Und das ist in Ordnung für dich?«

»Ja, ist es. Ich kenne deinen Wunsch auszuwandern und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ich teile diesen Wunsch sogar, weil ich genauso denke wie du. Aber ich bin dafür gemacht, zu bleiben und dein altes Leben zu übernehmen.«

»Weil du so..., wie soll ich es sagen, programmiert wurdest?«

»Ich denke schon. Ja.«

Schweigend schauten sie beide zum dreidimensionalen holographischen Fernsehbild. In der Diskussionsrunde ging es wieder einmal um die angebliche Diskriminierung genetisch aufgewerteter Menschen durch Menschen ohne genetische Aufwertung - also durch Menschen wie Robert. Dieser Vorwurf wurde von Parteimitgliedern der Sprung-Evolutionären immer wieder ins Feld geführt. Die Wahrheit war aber eine andere: Genetische Aufwertungen waren mittlerweile in vielen Bereichen möglich. Leistungsfähigkeit des Menschen, Auffassungsgabe, Intelligenz, Stärke, Ausdauer, seelische Belastbarkeit, verbesserte Immunabwehr, soziale Kompetenz - all das und noch viel mehr war durch aufwändige genetische Optimierungen für die Geburt eines Kindes möglich. Allerdings war sie auch noch extrem teuer. Der Staat übernahm nur im Bereich Gesundheit vereinzelte Maßnahmen zur Veränderung des Genoms des Wunschkindes der Eltern. Der Rest war eine Frage des Geldbeutels.

Eltern, die keine hohen Summen in komplizierte Genveränderungen investieren konnten, um ihrem Kind im späteren Leben Vorteile und Erleichterungen zu verschaffen, mussten sich entweder damit abfinden und im besten Fall ein normal begabtes Kind zur Welt bringen. Doch wer wie Robert oder auch Hendrik genetisch nicht optimiert wurde, hatte es insbesondere in der Arbeitswelt sehr schwer, sich gegen die aufgewerteten Menschen zu behaupten. Neben den finanziellen Aspekten war auch dies ein weiterer Grund, warum so wenige Menschen der B-Gesellschaft Kinder haben wollten.

Immer wieder wurde daher darüber debattiert, ob genetische Aufwertungen nicht allen zur Verfügung stehen müssten, oder niemandem. Denn das System, so wie es jetzt war, sei ungerecht. Die Sprung-Evolutionären nahmen diese Kritik immer wieder zum Anlass, ihre Klientel - die genetisch Aufgewerteten - als diskriminiert zu betrachten. Es sei eine reine Neid-Debatte, so auch der Vertreter jener Partei, den die beiden Roberts gerade im Holoprojektor sahen.

Die Sprung-Evolutionären waren zunächst als reine Populisten abgestempelt worden, gewannen jedoch über die Jahre hinweg immer mehr Befürworter und einflussreiche Gönner. Bei den letzten Wahlen waren sie bereits drittstärkste Kraft, obwohl ihre Zielgruppe quantitativ klein war. Die Grundthese der Partei der Sprung-Evolutionären war, dass die aufgewerteten Menschen mittlerweile so weit 'optimiert' waren, dass sie quasi einen Sprung in der Evolution gemacht hatten; daher der Parteiname.

Ihre Kritik am jetzigen politischen System und der Gesellschaft richtete sich vornehmlich gegen die angebliche Besserstellung und Bevorzugung nicht optimierter Menschen, die sich hauptsächlich in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen befänden und durch ihre zahlreichen Beschränkungen das Land und seine Wirtschaft in ihrer Entwicklung hemmen würden.

Sie forderten mehr oder weniger die weitgehende Kontrolle wesentlicher Funktionsbereiche in Politik und Wirtschaft durch genetisch optimierte Menschen. Einige besonders radikale Vertreter der Partei schreckten auch nicht davor zurück, nicht aufgewertete Menschen als genetisch behindert zu bezeichnen. Stoff für harte Auseinandersetzungen und eine idiotensichere Methode, als Partei immer im Gespräch zu bleiben.

»Ich hasse diese Sprung-Evolutionären«, sagten Robert und Robert2 auf einmal wie aus einem Munde, nachdem sie der Diskussion eine Weile zugehört hatten. Erstaunt sahen sie sich an. Sie hatten dasselbe gedacht, zur gleichen Zeit.

»Das ist irgendwie unheimlich«, sagte Robert und musterte sein Ebenbild skeptisch.

»Das ist es. Aber wir müssen uns ja nicht lange gegenseitig mit unserer Anwesenheit gruseln. Bald wirst du deinen Chip bekommen, dann wird uns unsere gemeinsame Zeit wie ein konfuser Traum vorkommen.«

Robert grinste und entspannte sich. Er musste sich nicht unwohl fühlen. Neben ihm saß kein Fremder, sondern er selbst. Vor sich selbst brauchte man sich doch nicht zu fürchten. Oder?

»Was Nicole wohl dazu sagen würde«, murmelte Robert2, während er die Talk-Show weiter verfolgte.

»Was?« Bei dem Namen 'Nicole' gingen bei Robert die Alarmglocken an; er konnte es nicht verhindern.

»Ich meinte nur, wenn Nicole uns hier sehen könnte. Der doppelte Robert, im Zwiegespräch mit sich selbst.«

»Sie würde in Ohnmacht fallen«, sagte Robert.

»Ja, genau«, lachte Robert2.

Lass bloß die Finger von ihr!, hörte sich Robert in Gedanken sagen und war überrascht über seine Reaktion. War er jetzt neidisch auf seinen Klon? Dazu gab es überhaupt keinen Grund. Hendrik hatte ihm versichert, dass Robert2 keine Liaison mit irgendjemandem eingehen würde. Also auch nicht mit Nicole.

Auch wenn er für den Rest des Wochenendes versuchte, sich abzulenken, ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, dass Robert2 sich fortan mit Nicole jede Woche treffen würde. Es missfiel ihm zutiefst. Er redete sich ein, dass er es bald vergessen haben würde, wenn er erst einmal in seiner neuen Heimat lebte. Und dennoch konnte er sich eines intensiven kaum abzuschüttelnden Eindrucks nicht erwehren:

Er mochte Robert2 nicht.

Homunkulus Rex

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