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Kapitel 1: Die zwei Gesellschaften

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»Ich wusste, dass Sie sich dafür entscheiden würden«, sagte der junge Mann erfreut, stand von seinem Stuhl auf und reichte Robert die Hand.

Per Handschlag besiegelt, dachte Robert und lächelte. Das würde der beste Deal sein, den er je gemacht hatte.

»Um sicherzustellen, dass Ihr Aufenthalt hier in diesem Gebäude keine Fragen aufwirft - falls jemand sich dafür später einmal interessieren sollte - müssen Sie jetzt nach oben gehen und sich in das Restaurant setzen. Ich werde dafür sorgen, dass man Sie durch die Hintertür hineinlässt. Bestellen Sie etwas. Essen Sie und lassen Sie sich Zeit. Danach gehen Sie ganz normal wieder nach Hause.«

»Ich verstehe«, sagte Robert. »Hier im Untergeschoss ist das Signal meines Ortungschips nicht lokalisierbar, richtig?«

»Ihr Signal ist permanent rückverfolgbar. Aber es wird sich nicht unterscheiden lassen, ob Sie hier im Keller waren oder oben im Restaurant. Sollte Sie also jemand fragen, was Sie in diesem Gebäude so lange getan haben, sagen Sie, dass Sie im Restaurant waren.«

»Na hoffentlich wird mich niemand fragen.«

»Ganz bestimmt nicht. Seien Sie unbesorgt.

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Wir melden uns dann bei Ihnen.«

»Alles klar.«

Robert war schon auf dem Weg zur Tür, als sein Auftragnehmer zu seiner Überraschung sagte: »Übrigens, mein Name ist Hendrik.«

Robert drehte sich noch einmal um. »Ist das Ihr echter Name?«

Hendrik lächelte schief. »Das ist der Name, den Sie sich merken sollten.«

Robert nickte und verließ den Raum. Jemand hielt ihm oben im Erdgeschoss eine Tür auf und schon befand er sich im Inneren des italienischen Restaurants. Er setzte sich an einen Tisch am Fenster, und es dauerte nur ein paar Sekunden, bis ein Kellner erschien und ihm die elektronische Speisekarte überreichte. Robert bestellte sich nur eine kleinere Portion Spagetti und ein Mineralwasser. Er bezweifelte, ob er überhaupt etwas herunterbekommen würde, so aufgeregt war er.

In dem dunklen Raum mit Hendrik hatte er sich im entscheidenden Moment der Auftragsbestätigung selbstsicher und stark gefühlt. Aber jetzt zurück an der Oberfläche, dem wirklichen Leben, sackte ihm das Herz in die Hose.

Er versuchte sich beruhigen und sah aus dem Fenster. Auf der Straße fuhren beinahe geräuschlos die autonom gesteuerten Fahrzeuge vorbei. Einige Lieferwagen und die unzähligen shared cars, also die Leihfahrzeuge, die fast ausschließlich von der arbeitenden Bevölkerungsklasse genutzt wurden. Autonom fahrende Autos als Eigentum, das war für diesen Teil der Gesellschaft nicht mehr erschwinglich. Der letzte Hersteller, der noch bezahlbare Fahrzeuge gebaut hatte, musste Insolvenz anmelden, kurz bevor Robert vor knapp 42 Jahren geboren wurde. Die Rendite war auch in jener Zeit, in der Robert lebte, immer noch das alles bestimmende Dogma.

Während es also in dieser Zukunft, in der wir uns befinden, normal war, dass vier oder auch acht Menschen der arbeitenden Klasse in einem shared car saßen, um sich von A nach B autonom transportieren zu lassen, konnte sich dagegen die Klasse der leistungslosen Geldelite ein eigenes Gefährt (meistens nicht nur eines) leisten, das sie mit niemandem teilen musste. Gegen einen Aufpreis konnte man sogar die Genehmigung erwerben, das Fahrzeug selbst zu steuern, des emotionalen Fahrerlebnisses wegen, wie es die Marketingabteilungen der Hersteller formulierten.

Positive Emotionen waren für Menschen wie Robert kein Mittel der Marketingabteilungen der Unternehmen. Für Roberts Klasse nutzte man vor allem die Angst als Verkaufsargument. Angst vor dem sozialen Abstieg, Angst vor dem Alter, Angst, sich falsch zu ernähren, Angst, nicht vorgesorgt zu haben, Angst, seine Wohnung zu verlieren - mit der Angst ließ sich noch bei der arbeitenden Bevölkerung viel Geld verdienen.

Um nicht einen falschen Eindruck entstehen zu lassen, sei vorweggenommen: Menschen wie Robert waren keine unmündigen Arbeitssklaven, die davon träumten, das Leben der Reichen zu führen. Robert hatte anders als andere Geringqualifizierte durch einen vergleichsweise gut bezahlten Job eine eigene Wohnung, die zum Teil vom Arbeitgeber mitfinanziert wurde. Er konnte zweimal im Jahr Urlaub machen, hatte sonntags frei, ging wählen und besaß eine hervorragende Krankenversicherung. Er zahlte in einen Rentenfonds ein, von dem er hoffte, seine Wohnung im Alter halten zu können. Nicht wenige Menschen waren der Meinung, das wäre ausreichend für ein auskömmliches Leben. Aber das war es eben nicht. Viele Privilegien für Menschen, die der Geldklasse angehörten, auch umgangssprachlich A-Klasse genannt, standen der B-Klasse, zu der Robert gehörte, nicht zu. Dazu gehörte zum Beispiel das Gründen einer Familie. Kinder zu bekommen, war für arbeitende Menschen schlicht unfinanzierbar geworden, geschweige denn bezahlbaren Wohnraum für eine Familie zu finden.

Politiker fast aller Parteien sprachen immer davon, die Gesellschaft sei gespalten. Aber die Wahrheit war, dass es die Gesellschaft nicht mehr gab. Es gab zwei Gesellschaften. Diejenige, die Geld hatte und das Geld für sich arbeiten lassen konnte, und die andere, die sich Geld erarbeiten musste. So wie Robert. Beide Gesellschaften trennten Welten in jedweder Hinsicht. Die größere der beiden, die A-Gesellschaft, lebte in ihren eigenen hermetisch abgeriegelten Ballungsräumen. Sie besaß eine eigene Infrastruktur, eigene Polizei und eigene Konsumwelten. Berührungspunkte mit der B-Gesellschaft gab es praktisch überhaupt nicht mehr. Der eigene Kosmos, in dem man jeweils lebte - der von Gesellschaft A und der von Gesellschaft B - war dem jeweils anderen derart fremd geworden, dass man sich nichts mehr zu sagen hatte. Und Roberts Gruppe von Menschen geriet mehr und mehr zur Minderheit, was bedeutete, dass Parteien und Organisationen, die seine Gesellschaftsklasse vertraten, immer weniger Einfluss hatten. Eine gefährliche Entwicklung, die schon zu manchen gewaltsamen Aufständen in den großen Metropolen der Welt geführt hatte. An den letzten großen Aufstand in London erinnerte sich Robert noch gut. Er war dort zu einem Kurztrip unterwegs und geriet mitten in den Mob, der allerdings schnell von Polizei und Militär unter Kontrolle gebracht wurde.

Dennoch: Die Wut wuchs - weltweit.

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Ein wesentlicher Grund mit der größten Wirkung war die rasant fortschreitende Entwicklung in der Robotik und der künstlichen Intelligenz. Von vielen Politikern jahrelang dramatisch unterschätzt, revolutionierte die Robotik zuerst die Industrie und drang schließlich in jeden nur vorstellbaren Lebensraum des Menschen vor. Robert hatte von seinem Großvater erzählt bekommen, dass es unter anderem mit Robotern begann, die Autokarosserien zusammenschweißten. Heute gab es nichts, was ein von einer künstlichen und lernfähigen Intelligenz gesteuerter Roboter nicht erledigen konnte. Vom normalen Straßenarbeiter, dem Müllmann, der Krankenschwester oder dem Vertriebsmanager über den Chirurgen, der komplizierte Operationen mit absoluter Präzision durchführte, bis hin zum Wissenschaftler, der das Universum erforschte. Alles konnte durch künstliche Maschinen und Intelligenzen erledigt werden. Und alles wurde schneller, präziser und rentabler als jemals zuvor erledigt.

Jobs für Menschen wurden dramatisch weniger. Man war sich des Problems seitens des Gesetzgebers bewusst, so dass mehrere Versuche unternommen wurden, Quoten für einen bestimmten Anteil von Menschen in den meisten Berufsgruppen durchzusetzen - ohne großen Erfolg. In einem internationalen Wettbewerb machte ein Quotensystem keinen Sinn, wenn sich nicht alle Länder der Erde daran hielten. Roberts Großvater hatte ihm gesagt, es läge in der Natur des Kapitalismus, nach immer Höherem zu streben. Es würde immer einen geben, der den anderen übervorteilen wolle. Und so konnte man auch in Europa, das lange Zeit eines der strengsten Quotensysteme zur Erhaltung der Beschäftigung von Menschen besaß, nicht verhindern, dass die Auflagen zugunsten des internationalen Wettbewerbs systematisch ausgehöhlt wurden. Die Maschinen verdrängten den Menschen wie eine Naturgewalt. Viele Berufsgruppen waren für Menschen mittlerweile ausgestorben.

Lange bevor Robert geboren wurde, entwickelte man daher ein Konzept, das die Bevölkerung an der Wertschöpfung der Maschinen teilhaben lassen sollte. Dieses Konzept funktionierte ähnlich einer Aktienbeteiligung, nur mit dem Unterschied, dass man nicht an Unternehmen beteiligt war, sondern an deren wertschöpfenden künstlichen Arbeitskräften. Dieses Beteiligungssystem sollte so praktisch jedem Bürger eine Rendite erbringen, von der er einen Großteil oder im Idealfall seinen ganzen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Das System war aber bei seiner Einführung extrem kompliziert und hatte viele Gegner. Es wurde argumentiert, es sei nicht vermittelbar, dass jedem Bürger dadurch praktisch leistungslos Einkommen zur Verfügung stehen würde. Er müsse es sich doch verdienen. In der Folge wurde daher viel und oft an den Bestimmungen zur sogenannten Roboter-Teilhabe herumgedoktert, was letztlich dazu führte, dass hohe Mindestinvestitionssummen erbracht werden mussten - analog zu heutigen Hedgefonds. Aber im Laufe der Zeit wurden diese Mindestinvestitionssummen so hoch, dass kein Normalverdiener diese erbringen konnte. Die Roboter-Teilhabe wurde dadurch und durch Missmanagement sowie fehlgeleitete Interessenpolitik zu einem Investitionsinstrument ausschließlich für Vermögende. Und deren Anteil an der Bevölkerung wuchs und wuchs, denn anders als Roberts Klasse, die mittlerweile praktisch ausgeschlossen von der Roboter-Teilhabe war, konnte diese Gruppe ihre Rendite sorgenfrei in die eigene Familienplanung investieren.

Es hatte viele Aufstände deswegen gegeben, aber die politischen Parteien waren zunehmend zerstritten und wurden durch ihre Spender, die ausschließlich aus der Wirtschaft kamen, in ihrem Handeln im Sinne einer gesamtwohlstandsfördernden Politik gehemmt oder behindert.

Fadenscheinige Gründe wurden in öffentlichen Diskussionen stets schnell vorgebracht, wenn es darum ging, warum Menschen wie Robert nicht in die Roboter-Teilhabe investieren durften. Menschen wie er müssten es sich verdienen, trug die Lobby der Vermögenden vor, obwohl das allein durch Arbeit inzwischen unmöglich geworden war, um die Mindestinvestitionssummen aufzubringen. Schließlich hätten die Reichen es sich auch eines Tages selbst verdient, wobei gerne verschwiegen wurde, dass der Löwenanteil des heute im Umlauf befindlichen Vermögens durch Vererbung und Verzinsung entstand und eben nicht mehr durch Leistung. Und das Geld, das Milliardäre horteten und nicht reinvestierten, befand sich damit faktisch in einer Sackgasse.

Die Lebenswirklichkeit für Robert war also die, dass er mit den Maschinen, an deren Wertschöpfung er eigentlich beteiligt hätte werden sollen und können, um die Arbeit konkurrieren musste. Aber es war ein ungleicher Kampf, den die Maschinen mehr und mehr für sich entschieden. Arbeit für Menschen wie ihn wurde weniger. Die Arbeitslosigkeit stieg, ebenso wie Frust und Demotivation. Aber Robert konnte sich eigentlich noch glücklich schätzen, denn er hatte einen Job in einer Einrichtung für einen großen Computerserver-Verteilerknoten. Wie lange er diese bezahlte Arbeit noch machen konnte, stand aber in den Sternen.

Durch das Erbe seiner Tante - die einzige Verwandte, die er noch gehabt hatte - wurde ihm eine einzigartige Möglichkeit eröffnet. Sicher, mit der üppigen Erbschaft könnte Robert in eine bessere Wohnung ziehen und sich einen guten Anteil an einem Roboter-Fonds kaufen. Er könnte beruflich kürzertreten und hätte mehr Zeit für sich. Aber das war es nicht, was er wollte. Er wäre immer noch ein Gefangener in einem Käfig. Er wäre immer noch in seinem Tun fremdbestimmt. Er wäre nie wirklich frei. Das könnte er nur sein, wenn er seine Heimat hinter sich lassen und an einen Ort fliehen würde, von dem viele glaubten, er existiere nicht. Doch Robert wusste es nun nach seinem Kontakt zu der Organisation, die seinen Klon erstellte, besser. Der Ort, der auch als Infintiy Horizon bezeichnet wurde, existierte.

Das Einzige, das Robert bedauerte, war, dass es niemanden in seinem Leben gab, an dessen Seite er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Lange Zeit hatte er gehofft, dass Nicole es sein würde. Aber seine schier endlosen und offensichtlich mangelhaften Werbungsversuche waren vergeblich geblieben...

Homunkulus Rex

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