Читать книгу Rivalinnen - Schweden-Krimi - Åsa Nilsonne - Страница 6
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ОглавлениеWer die Tiefgarage der Polizei in Kungsholm verlässt, gelangt nicht in eine kleinen Seitenstraße, sondern direkt auf die eine Querseite des Fridhemsplans. Zentraler geht es eigentlich nicht, und Monika kam sich auf dieser Fahrt immer wichtig vor, zumindest beruflich gesehen. In der letzten Zeit hatte es an professionellen Erfolgserlebnissen gefehlt, deshalb genoss sie diese Momente ganz besonders. In gewisser Hinsicht war es schön, an einem solchen Tag keine weiten Strecken zurücklegen zu müssen, zugleich aber war es ein wenig beunruhigend, dass ein Unglücks- oder Tatort nur fünf Minuten von der Wache entfernt war.
Daga saß hinter dem Lenkrad, Idriss neben ihr, und Monika hatte auf dem Rücksitz Platz nehmen müssen. Sie betrachtete Idriss’ gepflegten Hinterkopf. Sie hatte schon häufiger erlebt, wie Männer, die ungefähr so aussahen wie er, zuerst nichts begriffen, dann empört waren und schließlich in Panik gerieten, wenn ihnen aufging, dass Monika fahren würde. Sie hatte festgestellt, dass sie das unverhohlene Unbehagen dieser Männer genoss und dass sie sich ihrer Rachsucht nicht schämte, so sehr provozierte diese Haltung sie. Sie nahm an, dass diese Männer vermutlich mit dem Hinweis auf kulturelle Unterschiede verlangen könnten, von einem Mann gefahren zu werden, aber sie hatte dieses Thema nie mit Leuten besprochen, die dieser Frage auf den Grund gehen wollten. Idriss schien jedenfalls nichts dagegen zu haben, dass Daga fuhr, denn er saß gelassen und entspannt neben ihr.
Igeldammsgata.
Wenn Mikael jetzt hier wäre, würden sie über die Blutegel reden, denen die Straße ihren Namen verdankte, und darüber, welche Bedeutung die Nähe eines Krankenhauses für Straßennamen haben konnte. Sie hätten über die Häuser gesprochen. Doch nun saß Monika stumm da und betrachtete die vertraute Umgebung, die sich doch jedes Mal, wenn sie vorbeikam, verändert zu haben schien. Es war der erste richtige Wintertag, inzwischen war es halb zehn, und die Sonne war vor einer guten Stunde über den Horizont geklettert, beschrieb aber ihren flachen Winterbogen und hing noch immer so tief, dass das Licht indirekt zu sein schien.
Monika hatte eine regelrechte Liebesbeziehung zu Kungsholmen. Immerhin gab es doch einen Ort auf der Welt, an dem sie sich zu Hause fühlte, wo Boden und Bebauung ihr freundlich gesinnt zu sein schienen. Jetzt würde sie ein weiteres Haus hier kennen lernen, Igeldammsgata 32. Sie wusste nicht genau, welches Haus das war, aber die Straße war kurz, und sie war an vielen Abenden und Wochenenden hier unterwegs gewesen, mit und ohne Mikael. Jetzt würde eines dieser Häuser aus dem privaten in den beruflichen Teil ihres Lebens übersiedeln, genau wie Lottie das auch gerade machte.
Sie hatten das Ende der Fleminggata erreicht. Auf der rechten Seite führte nun die Igeldammsgata zum Kungsholms Strand hinunter. Eigentlich müsste die Straße Igeldammshang heißen, dachte Monika, als sie abwärts fuhren, oder Igeldammsabgrund oder Igeldammsschlucht. Links lagen der Felshang, rechts die individuell dem Terrain angepassten Häuser aus Monikas Lieblingsarchitekturperiode, dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
Sie brauchten die Hausnummern nicht zu lesen, um die richtige Stelle zu finden, denn die Streifenwagen und Absperrbänder waren schon von weitem zu sehen.
Nummer 32 entpuppte sich als schmales Haus mit nur vier Fenstern nebeneinander und war etwas niedriger als das fünfstöckige Nachbarhaus. Monika tippte auf ein Baujahr um 1920 ‒ das Haus wirkte solide und harmonisch proportioniert, ohne auffällige Verzierungen. Gestrichen war es in dem derzeit so beliebten orangeroten Farbton, der gut zu der strengen Form passte. Es hätte als ganz normales Haus seiner Epoche durchgehen können, wenn es nicht eine sehr ungewöhnliche Eigenheit aufgewiesen hätte: Dort, wo eigentlich ein Eingang zu erwarten gewesen wäre, führte eine Art Tunnel durch das Haus schräg nach unten. Heutzutage hätte man zuerst den Boden eingeebnet und dann ein kastenförmiges Haus errichtet, damals jedoch hatte man das Haus dem Boden angepasst. Von der Igeldammsgata aus schlängelte sich eine Treppe durch das Haus, über einen langen, schmalen Hof und durch das nächste mit Tunnel versehene Haus, dessen Front dem Kungsholms Strand zugekehrt war. Monika war schon oft über diese Treppe gegangen, und nicht einmal Mikael hatte erklären können, wie jemand auf die Idee gekommen war, auf diese Weise zu bauen.
Das Haus war, ebenso wie Lottie, bekannt, jedenfalls in der Umgebung.
Daga hatte es offenbar noch nie gesehen, denn sie wirkte ehrlich erstaunt.
»Aber was ist das denn hier? Eine Abkürzung zum Strand? Mitten durch das Haus?«
Monika nickte. Es war wie so oft eine Frage, die nicht beantwortet zu werden brauchte.
Sie gingen zu dem Hof weiter, der als Durchgang benutzt wurde. Die Treppe endete an einem kahlen, verschneiten Hangstück, wo es nicht mehr ganz so steil war. Das Ganze sah aus wie ein Stillleben in weiß, schwarz und braun, ein Stillleben, bei dem der Künstler impulsiv ein wenig Farbe hatte einbringen wollen und deshalb zwei Treppenstufen mit großen hellroten Flecken versehen hatte. Neben diesen Flecken standen zwei junge Polizisten mit vor Kälte weißen Gesichtern. Monika hatte den Eindruck, dass die beiden wider besseren Wissens darauf warteten nach Hause geschickt zu werden.
Es stellte sich heraus, dass sie nicht viel zu sagen hatten, da sie erst angekommen waren, nachdem Lotties Leichnam bereits abgeholt worden war. Die Kollegen, die als Erste an den Tatort gerufen worden waren, hatten für diesen Tag ihren Dienst bereits beendet.
Lottie hatte, wenn die beiden Polizisten das richtig verstanden hatten, ausgesehen, als sei sie auf der Treppe gestolpert. Am besten wusste das sicher Einar Jakobeus, der Mann, der sie gefunden hatte und zu Hause bereits auf den Besuch der Polizei wartete. Er wohnte in einem der Häuser am Kungsholms Strand.
Daga schaute sich auf dem kahlen Hof um. Dann fragte sie den einen der halb erfrorenen Kollegen:
»Und was habt ihr gefunden?«
»Nicht viel«, antwortete der junge Mann gleichgültig. »Keine Fußspuren ‒ die Treppe war doch freigeschaufelt und mit Sand bestreut worden, wir können also nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob die Tote selbst hergekommen ist. Es gibt auch sonst keine Fußspuren, wie ihr ja selbst seht.«
Monika, Daga und Idriss sahen sich um. Der Schnee war beiseite geräumt worden, als er noch weich gewesen war, und war inzwischen zu Eis gefroren. Die Treppe war schneefrei und mit Sand bestreut. Die einzigen Fußspuren, die zu erkennen waren, stammten von Hunden.
»Wir müssen feststellen, wer für das Schneeräumen und das Streuen zuständig ist und wann das gemacht worden ist.«
Daga schrieb, während sie das sagte; zum Ärger vieler Kollegen verteilte sie inzwischen die Aufgaben in schriftlicher Form.
»Wir müssen außerdem feststellen, wann genau das Wetter umgeschlagen ist und wie lange es gedauert haben kann, bis der Schnee gefroren war. Die Leute von der Technik können jeden Moment hier sein. Wenn sie kommen, könnt ihr beide die Nachbarschaft abklappern und fragen, ob jemand etwas gehört oder gesehen hat.«
Sie schauten zu den Häusern hinauf ‒ zu der unteren Reihe, die auf den Kanal hinausging, und zur oberen an der Igeldammsgata. Die Häuser stammten zumeist aus derselben Epoche, hatten fünf oder sechs Etagen, waren gut erhalten und in verschiedenen sanften Farben angestrichen ‒ hellgelb, ein etwas dunkleres Gelb, hellgrün. Sämtliche Fenster schauten wie Augen auf den Hof ‒ Lottie war nicht an einem abgelegenen Ort ums Leben gekommen, und mit etwas Glück müssten sie einen oder mehrere Menschen ausfindig machen können, die im richtigen Moment aus dem Fenster gesehen hatten. Wenn Monika nicht so müde gewesen wäre, hätte sie einen leichten Neid verspürt hatte immer gern solche Befragungen durchgeführt, im ment jedoch war sie froh darüber, dass es ihr erspart blieb. Hier in dieser Gegend wohnten vor allem jüngere berufstätige Menschen, die jetzt ihre Arbeitsplätze in der ganzen Stadt oder im Umland bevölkerten. Es würde seine Zeit brauchen, bis sie mit allen gesprochen hatten, sie konnten schließlich auch nach Uppsala oder Enköping pendeln oder ihre Zeit zwischen Stockholm, London und Singapur teilen.
Daga beschloss, auf die Technik zu warten und wandte sich an Monika.
»Ihr könnt doch schon mal mit Jakobeus reden, er wohnt Kungsholms Strand 173, angeblich gleich hinter der Ecke da unten. Und danach wäre es gut, wenn ihr euch noch einmal mit den Töchtern unterhalten könntet, wir müssen wissen, was Lottie gestern gemacht hat. Am besten nehmt ihr das Auto.«
Sie reichte Monika die Schlüssel.
Monika nickte und ging gemeinsam mit Idriss die Treppe hinunter und durch das nächste Haus, wo sie für einen Moment stehen blieb. Unmittelbar vor ihnen lag der Karlsbergskanal, dessen Oberfläche zu einer ersten dünnen Eisschicht erstarrt war, und dahinter stand das am Ufer errichtete Schloss Karlsberg.
Gleich links lag eine Wayne’s Bakery, wo es caffè latte und Möhrentorte gab. Rechts befand sich eine traditionellere Variante, eine Kaffeestube mit Weihnachtsdekoration im Fenster, wo Kaffee und Zimtbrötchen oder Bratwurst mit Makkaroni serviert wurden. Monika spürte, wie sie hier im wahrsten Sinne des Wortes zwischen dem Alten und dem Neuen stand, und fragte sich, ob es illoyal war, Wayne’s mit dem Duft von Kaffee und Croissants dem von Tabakrauch und Essensgerüchen erfüllten anderen Lokal vorzuziehen.
Die Restaurants zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich, ebenso wie das Schloss, alles schien plötzlich viel wichtiger als der Gedanke an die Arbeit. Sie fragte sich besorgt, wie sie diesen Tag überstehen sollte ‒ sie spürte, dass sie einfach nicht an das denken wollte, woran sie denken musste. Für den Moment löste Idriss das Problem für sie, indem er hustete, die Sorte Husten, mit der man sein Glück versucht, wenn man vorher vergeblich an eine Tür geklopft hat.
»173, stimmt das?«
Monika nickte und riss sich zusammen. Immerhin schien Idriss Taktgefühl zu haben. Einar Jakobeus, der Lottie gefunden hatte, wohnte im ersten Haus auf der rechten Seite. Auch dieses Haus war gut in Schuss, die Fassade war frisch renoviert und die Diele in Marmor gehalten.
Einar wohnte im fünften Stock und öffnete gleich nach dem ersten Klingeln. Er war ein kleiner Mann von vielleicht vierzig, der dennoch schon alt aussah; ein unauffälliger Mann, der offenbar auf seinen Platz im Leben gestellt und dann vergessen worden war, dachte Monika.
Sie betraten eine enge Diele, deren Möbel ebenso müde und resigniert aussahen wie ihr Besitzer, die dann aber plötzlich von einem gefleckten Hundebaby aufgemuntert wurde, das zielstrebig angewackelt kam und die Fußmatte beschnupperte. Einar machte ein stolzes Gesicht.
»Das ist Klara, sie ist zehn Wochen alt, und ich habe sie seit zehn Tagen. Mein erster Hund.«
Er bückte sich ein wenig ungeschickt, um Klara zu streicheln, worauf sie ihn in die Hand biss. Mit leicht enttäuschter Miene richtete er sich wieder auf.
»Wir müssen einander noch richtig kennen lernen. Kommen Sie herein!«
Aus der kleinen Diele gelangten sie in ein Wohnzimmer, das ebenso trist möbliert war, jedoch einen prachtvollen Blick auf den Kanal und auf das Schloss bot, das in dem kalten, sonnigen Tag funkelte wie ein Palast aus Eis und Schnee.
Monika stellte zuerst sich und dann Idriss vor. Einar nickte zerstreut, während er zu verhindern versuchte, dass Klara ein Sofabein annagte, das schon von schmalen spitzen Bissspuren übersät war. Dass Idriss ein etwas ungewöhnlicher Polizist war, schien ihn nicht weiter zu irritieren.
Am Ende machte Klara sich über einen der vielen Plastikknochen her, die überall auf dem Boden herumlagen, und Einar widmete sich seinen Gästen.
»Nehmen Sie Platz.«
Er hatte auf dem schmutzigen Couchtisch bereits staubige Kaffeetassen und eine Thermoskanne bereitgestellt. Die meisten Menschen, die Monika zu Hause aufsuchte, boten etwas an, Kaffee zumeist, und sie lehnte fast nie ab. Sie wusste, wie viel leichter es ist, ungewohnte Situationen mit einer Kaffeetasse in der Hand zu überstehen, wie beruhigend es auf die Leute wirkte, im eigenen Heim als Gastgeber oder Gastgeberin auftreten zu können, auch dann, wenn die Gäste ungebeten auftauchen.
Einar öffnete die Thermoskanne und Monika hielt ihm ihre Tasse hin. Sie war schon längst zu dem Schluss gekommen, dass Kaffee Bakterien tötet ‒ sie hatte schon aus so vielen schlecht gespülten Tassen getrunken, war aber niemals krank geworden.
Idriss ließ sich in einen weichen Sessel sinken, der eine Staubwolke abgab, als er sich setzte. Klara fand das interessant, lief zu ihm und ließ sich zu seinen Füßen auf den Rücken fallen. Monika hatte fast damit gerechnet, dass er Angst vor Hunden hätte, doch er streichelte mit seinen Fingerknöcheln Klaras weichen runden Bauch. Klara schaute eine Weile forschend zu ihm hoch, dann schlug sie plötzlich ihre nadelspitzen Zähnchen in seine Hand. Idriss zog die Hand nicht zurück, sondern beugte sich über sie, runzelte drohend die Stirn und knurrte mit tiefer Stimme:
»Noooo. Bad Dog, off.«
Klara ließ sofort seine Hand los und kehrte ihm wieder den Bauch zu.
Einar schien beeindruckt zu sein.
»Wie haben Sie das gemacht? Was haben Sie zu ihr gesagt?«
Idriss lachte zum ersten Mal an diesem Tag.
»Was man sagt, spielt keine Rolle, es kommt darauf an, wie man es sagt. Man muss sich böse anhören, das verstehen alle Hunde.«
Einar schien von dieser Lösung nicht gerade angetan.
»Ich will aber nicht böse auf sie sein, sie ist doch noch so klein. Trotzdem achtet sie überhaupt nicht darauf, was ich ihr sage.«
»Sie sollen sich böse anhören«, sagte Idriss freundlich, »nicht böse sein.«
Einar dachte eine Weile darüber nach, dann nickte er nachdenklich. Auf diesen Gedanken schien er noch nicht gekommen zu sein.
Monika ärgerte sich schon wieder. Sie waren nicht hier, um Einar gute Ratschläge über Hundeerziehung zu erteilen, sondern um sich ein Bild von den nächtlichen Ereignissen zu machen. Andererseits aber schärfte sie jungen Kollegen immer wieder ein, wie wichtig es war, einen guten Kontakt zu den Zeugen zu bekommen, ehe man sie befragte, und Idriss war das zweifelsohne gelungen. Das überraschte sie. Und es ärgerte sie, dass es sie überraschte.
Was für ein Elend!
Sie übernahm wieder das Kommando.
»Also, Herr Jakobeus, Sie sind ein wichtiger Zeuge für uns, und wir möchten Sie bitten, uns genau zu erzählen, was heute Morgen passiert ist.«
Einar setzte sich ein wenig auf, als mache die Aufmerksamkeit der beiden Gäste ihn in seinen eigenen Augen ein wenig größer.
»Klara hat mich gegen fünf geweckt, sie musste raus, und deshalb habe ich mir einen Trainingsanzug über meinen Schlafanzug gezogen.« Er sprach jetzt mit einer Stimme, die er wohl für diese Gelegenheit als angemessen erachtete, die ihn jedoch wie eine Parodie auf einen Nachrichtensprecher klingen ließ. »Ich wusste nicht, dass es so kalt geworden war, wir bekamen beide fast einen Schock, als wir nach draußen kamen, den ersten, aber nicht den letzten. Es war natürlich noch dunkel, aber die Straßenlaternen hier sind jetzt wirklich ziemlich hell. Ich gehe immer mit ihr auf den Hof hinter der Nummer 175, die Nachbarn wollen nicht, dass Hunde das auf unserem Hof machen, der andere gilt irgendwie eher wie ein Ort für die Allgemeinheit.«
Er legte eine besorgte Pause ein, so als fürchte er Monikas und Idriss’ Kommentar zu der Frage, wo sein Hund nachts pissen durfte.
»Ich habe sie ‒ Klara, meine ich ‒ um die Ecke auf den Hof getragen. Sie war verwirrt von der Kälte, glaube ich, und stand einfach nur zitternd neben mir. Sie hat ja noch kein dickes Fell, das muss doch so sein, als wäre sie nackt unterwegs.«
Noch eine Pause. Monika zählte in Gedanken bis zehn, ihr war klar, dass Einar aller Wahrscheinlichkeit zu der Sorte Zeugen gehörte, die in ihrem eigenen Tempo erzählen mussten, und dass alles noch viel länger dauern würde, wenn sie ihn bedrängte. Zugleich war sie zu müde und genervt, um seine Umständlichkeit ertragen zu können. Er sollte so schnell wie möglich alles erzählen, doch das tat er nicht. Sie war bis sieben gekommen, als er weitersprach:
»Dann bin ich ein Stück weitergegangen, die Treppe hinauf, und da lag sie dann.«
»Würden Sie uns bitte genau beschreiben, was Sie gesehen haben?«
»Ich habe nur mitten auf der oberen Treppe etwas Dunkles gesehen. Zuerst wusste ich nicht, was es sein könnte, aber dann habe ich gesehen, dass es ein Mensch war, der mit den Füßen nach oben lag, so als sei er vornüber gekippt.«
Er erschauderte ein wenig theatralisch und zugleich ein wenig wollüstig und verstummte.
Monika hielt es nicht mehr aus und versuchte, das Tempo zu steigern.
»Und was haben Sie dann gemacht?«
Er blickte sie vorwurfsvoll an.
»Das kommt gleich, ich muss nur zuerst nachdenken, damit ich nichts Falsches erzähle.«
Es folgte eine weitere und längere Pause, genau wie Monika befürchtet hatte. Sie holte tief Luft und verfluchte ihre Ungeduld. Sie hatte sich gerade zur Gelassenheit ermahnt, als er endlich weiterredete.
»Also, ich dachte, sie könnte doch gestolpert oder krank sein oder so. Ich habe Klara auf den Arm genommen und bin hinaufgegangen, das war nur ungefähr ein Dutzend Meter. Beim Näherkommen habe ich gesehen, dass es eine Frau war. Sie lag auf dem Bauch, einen Arm unter dem Körper, sie trug so einen gefütterten Regenmantel mit Kapuze und hatte ziemlich kleine Füße.«
Einar wurde plötzlich blass und schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen.
»Klara wollte nicht mehr getragen werden, deshalb habe ich sie auf den Boden gesetzt. Dann bin ich zu der Frau gegangen und habe gefragt, was los ist, was passiert ist, aber sie gab keine Antwort, sie lag einfach nur da. Ich hätte ihr so gern geholfen.«
Um für einen Tag oder eine Woche als Held zu gelten, dachte Monika und staunte wieder über ihre Gehässigkeit. Normalerweise hätte Einars klares Bedürfnis nach Aufmerksamkeit an ihr Mitgefühl appelliert, aber an diesem Tag war alles anders, ein solches Engagement hätte sie mehr psychische Energie gekostet als sie im Augenblick aufbrachte. Sie ärgerte sich sogar über seine kleinen rosa Hände, die sie an Mäusepfoten erinnerten, als er seine Tasse vor sich hielt.
Jetzt begann Einars Stimme zu zittern.
»Ich wusste nicht, was ich tun sollte, deshalb habe ich ein wenig ihre Schulter geschüttelt. Darauf hat sie auch nicht reagiert, deshalb dachte ich, sie hätte vielleicht zu viel getrunken und das Bewusstsein verloren, aber sie roch nicht nach Alkohol. Ich bin also auf ihre andere Seite gegangen, um ihr Gesicht sehen zu können.«
Er kniff die Augen zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich sehe das alles noch vor mir, das werde ich nie wieder vergessen. Ihr linkes Auge sah mich an, es war weit offen und wütend und...«, seine Stimme war kaum noch zu hören. »Das rechte war verschwunden, da gab es nur noch ein blutiges Loch, wer kann so etwas tun? Und das andere Auge starrte mich nur an, klar und unbeweglich.«
Monika bildete sich plötzlich ein, seinen raschen Herzschlag sehen zu können ‒ sein schmächtiger Leib schien zu beben, als er diesen schrecklichen Moment noch einmal durchlebte.
»Und dann, dann kam Klara, und sie...«
Plötzlich stürzte er aus dem Zimmer, und gleich darauf hörten Monika und Idriss die Geräusche eines leeren Magens, der trotzdem verzweifelt versuchte, seinen Inhalt von sich zu geben.
Was da wohl passiert war? Was hatte Klara getan? Was macht ein Hundebaby, das ein herausgerissenes Auge findet? Monika sah Klara an und stellte fest, dass auch ihr mit einem Mal schlecht zu werden drohte.
Erst nach einigen Minuten kam Einar mit feuchtem Gesicht und Händen wieder zurück.
»Verzeihen Sie. Es war nur so schrecklich und so unerwartet, und dass Klara sich dann nicht zusammenreißen konnte.«
Monika schauderte wieder und fragte sich, ob auch sie sich gleich übergeben würde.
»Was genau hat sie gemacht?«
»Gemacht? Herumgeschnuppert, sie wollte spielen.«
»Hat sie nichts mit dem Auge gemacht?«
»Mit dem Auge? Es gab doch kein Auge. Das war ja gerade das Schreckliche.«
»Entschuldigung. Ich dachte, sie hätte das Auge gefunden...« Monikas Stimme versagte, teilweise aus Erleichterung.
»Ich bitte um Verzeihung, das war ein unnötiges Missverständnis.«
Einar holte einige Male tief Luft und fuhr mit zitternder Stimme fort:
»Viel mehr ist dann nicht mehr passiert ‒ ich habe mir Klara geschnappt und bin so schnell wie möglich in meine Wohnung gerannt, ich habe so stark gezittert, dass ich kaum die Nummer wählen konnte, aber dann habe ich es ja doch geschafft, und sie haben einen Krankenwagen geschickt.«
»Wissen Sie noch, ob Sie sonst irgendjemanden gesehen haben?«
»Nein. Die Gegend war menschenleer, das ist um diese Zeit immer so, das weiß ich, ich war jetzt ja seit zehn Tagen immer so früh draußen. Übrigens, ein paar Mal habe ich eine Frau mit einem Einkaufswagen gesehen.«
»Auch heute Morgen?«
»Nein.«
Er hatte sich jetzt einigermaßen gefasst und schien mit seiner Leistung zufrieden zu sein, sich in seiner Rolle als Actionheld fast schon zu bewundern. Monika hatte plötzlich Lust aufzuspringen und Bu! zu rufen.
»Sagen Sie ‒ haben Sie in der Nähe der Toten irgendeinen Gegenstand gesehen?«, fragte sie stattdessen freundlich.
»Nein. Ich habe nichts gesehen, ich glaube nicht, dass dort etwas lag, aber ganz sicher bin ich nicht, ihr schreckliches Gesicht hat irgendwie alles andere ausgelöscht. Hätte ich etwas sehen sollen?«
In ihr keimte der Verdacht, wenn sie nach einer blauen Bowlingkugel gefragt hätte, dann wäre ihm bestimmt eingefallen, dass eine neben Lotties Kopf gelegen hatte. Sie war froh darüber, dass sie mit ihm gesprochen hatten, ehe er zu viele Veränderungen an seinem Erinnerungsbild vornehmen konnte.
»Jetzt habe ich nur noch ein paar Fragen, Einar. Haben Sie Handschuhe getragen?«
»Nein, wieso denn?«, fragte er überrascht.
»Sie haben gesagt, dass Sie die Tote ein wenig an der Schulter gerüttelt haben ‒ würden Sie uns das bitte vorführen?«
Einar berührte mit den Fingerspitzen ein verschlissenes braunmeliertes Kissen und drückte einige Male zu.
»Ungefähr so. Ihre linke Schulter oder eigentlich eher ihren Rücken.«
»Haben Sie den Leichnam oder die Kleider sonst noch berührt?«
»Nein. Nein, wirklich nicht. Warum wollen Sie das wissen? Ich habe nur das getan, was ich Ihnen erzählt habe, Sie glauben doch wohl nicht, ich hätte ihr etwas getan?«
Plötzlich hatte sich seine Heldenhaftigkeit in Luft aufgelöst, und er sah aus, als würde ihm gleich wieder übel.
»Wir glauben noch gar nichts, wir versuchen nur herauszufinden, was passiert ist. Und es war uns eine große Hilfe, mit Ihnen zu sprechen.« Monika fügte diese letzte Bemerkung als eine Art Entschuldigung dafür hinzu, dass sie in Gedanken so viel Kritik an diesem kleinen Mann geübt hatte, der nicht einmal mit einem zehn Wochen alten Hundebaby fertig wurde.
Dann standen sie auf und gingen. Monika hätte gern gewusst, ob irgendein Grund bestand, Einar zu verdächtigen ‒ ob er wohl imstande wäre, jemanden zu ermorden, um dann die Leiche zu finden und von der Polizei befragt zu werden. Der Mann hatte Angst, aber das war ja nicht schwer zu verstehen, er hatte schließlich allerhand mitgemacht. Aber diese banale Erklärung konnte vielleicht einen anderen Grund für seine Angst verdecken. Nicht zum ersten Mal wäre ein scheinbar unwahrscheinlicher Täter als Zeuge aufgetreten. Es konnte sich aber auch um eine Variante des irrationalen Schuldbewusstseins handeln, das viele Menschen überkommt, wenn die Polizei ihnen gegenübersteht. Und dann würde seine Angst sich sicher bald legen.
Im Fahrstuhl dachte Monika vor allem über die Sache mit dem Auge nach. Warum hatte Daga nichts davon gesagt? Wenn ein Auge aus der Augenhöhle gerissen worden war, konnte doch niemand mehr von einem Unfall ausgehen? Das Letzte, was sie sich wünschte, war eine Konfrontation mit einem schwachen Mann und seinem so großen Wunsch nach Macht über andere, dass er zum Mörder wurde und groteske und symbolische Verletzungen hinterließ. An diesem Morgen stellte die Vorstellung eines solchen Täters keine Motivation, sondern nur einen Grund dar, sich ernsthaft nach einem anderen Job umzusehen.
Sie sehnte sich nach Mikael. Was sie über ihre Arbeit dachte und empfand, machte ihr Angst, es war so, als hätte sie plötzlich einen Menschen, mit dem sie seit vielen Jahren zusammenlebte, angesehen und erkannt, dass sie nicht wusste, ob sie dieses Zusammenleben fortsetzen sollte. Sie musste mit jemandem sprechen, doch sie hatte niemanden. Sie musste einfach versuchen, auf irgendeine Weise diesen Tag zu überleben.
Trotz aller Unklarheiten mussten sie sich jetzt mit denen befassen, die von Lotties Tod vermutlich am schwersten betroffen waren, ihren beiden Töchtern.
Erkundigt euch, was Lottie am Sonntagnachmittag gemacht hat, hatte Daga gesagt, als sei das ganz einfach, als müssten sie dafür nicht mit zwei jungen Frauen sprechen, die nachmittags noch eine gesunde, schöne, arbeitsfähige Mutter und jetzt gar keine mehr hatten. Monika konnte sich nicht erinnern, dass die Arbeit ihr jemals so schwer gefallen wäre. Es war doch ein Routineeinsatz, aber gerade an diesem Tag kam er ihr fast unüberwindlich schwierig vor.