Читать книгу Rivalinnen - Schweden-Krimi - Åsa Nilsonne - Страница 9

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Zum zweiten Mal an diesem Tag sahen sie die Fleminggata unterhalb der Igeldammsgata auftauchen. Das Licht war beim ersten Mal milder gewesen, und die Straße kam ihnen jetzt ein wenig normaler vor, ein wenig härter in den Konturen. Die Nummern 24 bis 28 gehörten zu einem langen Haus mit Betonbalkons über die gesamte Fassade; soweit Monika sehen konnte, handelte es sich um das einzige Haus in der Straße, das aus den sechziger Jahren stammte. Lottie war an diesem Morgen oberhalb der Nummer 32 gefunden worden, eine Nummer 30 gab es offenbar nicht. Monika schüttelte den Kopf.

»Das kann einfach kein Zufall sein.«

Das hätte ihr eigentlich eher zusagen müssen. Wenn Lotties älteste Tochter jetzt mit einem blutigen Baseballschläger in der Hand in ihrer Wohnung saß und sich danach sehnte, alles gestehen zu dürfen, dann wäre der Fall gelöst und würde bald aus der Welt sein. Monika könnte sich wieder ihrer normalen Arbeit widmen und die Verantwortung für Idriss jemand anderem überlassen, eine einfache und arbeitssparende Lösung. Überrascht stellte Monika fest, dass sie hoffte, es werde doch nicht ganz so einfach sein. Plötzlich wollte sie nicht, dass sich das am wenigsten geliebte Kind gerächt hatte, dass ein Keim, der in der Kindheit gepflanzt worden war, am Ende zu Lotties eingeschlagenem Schädel geführt hatte. Wie sollte man sich in einer solchen Welt denn sonst jemals sicher fühlen können?

Idriss schien ähnlichen Gedanken nachgehangen zu haben, denn er sagte leise: »Kann man wirklich plötzlich von einem Hass überwältigt werden, den man schon so lange mit sich herumschleppt? Ich habe das einmal nachgerechnet: wenn Eva-Maria auf dem Foto in der Zeitung drei war, dann ist sie jetzt Anfang vierzig. Jenny sagt, dass Eva-Maria Lottie immer noch hasste, aber wie wollte Jenny das wissen, wenn sie doch keinen Kontakt zueinander hatten? Und was bedeutet das überhaupt? Wir sehr können wir unsere Eltern hassen?«

»Genug, um sie zu töten, das solltest du doch wissen. Und es braucht kein Grund von früher zu sein, der hier herumspukt, Lottie kann diesen Grund dafür, dass jemand ihr den Tod gewünscht hat, auch erst vor kurzem geliefert haben.«

Sie hielten am Bürgersteig an und stellten den Wagen vor dem Hauseingang ab, der auch hier aus einer Art Tunnel bestand, nur war dieser gerade und rechteckig, genau wie das übrige Haus, und besaß eine Einfahrt für Autos und einen Fußweg. Die eine Mauer war grau gefliest, unter der Decke hingen Neonröhren. Den Architekten der sechziger Jahre hatte es an Selbstvertrauen jedenfalls nicht gefehlt ‒ das Haus war entworfen und gebaut worden, als bestünde nicht der geringste Grund, auf irgendjemanden oder irgendetwas in der Umgebung Rücksicht zu nehmen. Es war in einer Zeit entstanden, in der Schweden zu den reichsten Ländern der Welt gehört hatte, in einer Zeit ohne Staatsverschuldung, einer Zeit, in der die Bevölkerung glauben konnte, dass das Land im Gegensatz zu den meisten anderen nicht zu Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit neigte. Einer Zeit, als Reihen von identischen eckigen Betonhäusern auf frisch asphaltierte Felder gesetzt wurden und alle das so in Ordnung fanden. Auf einem Feld wäre es vielleicht logisch erschienen, die Balkons auf der einen und die Eingänge auf der anderen Seite anzulegen. Heute jedoch wirkte es alles andere als selbstverständlich, zuerst durch das Haus gehen zu müssen, ehe man es betreten konnte, doch da die Querseiten mit denen der Nachbarhäuser zusammengebaut waren, blieb keine andere Wahl.

Links, vor Eva-Marias Haus, verlief ein Straßenende, das in einer etwas breiteren Fläche endete, die von einem Schild als Wendehammer deklariert wurde und von einigen Rhododendronbüschen umgeben war, deren dunkle Blätter sich in der Kälte aufgerollt hatten. Dahinter verlief eine niedrige Betonmauer mit schwarzem Eisengeländer. Monika ging am Haus entlang, zwängte sich dann durch die Büsche und beugte sich vor, um festzustellen, ob es einen Durchgang zum Hinterhof von Nummer 32 gab. Dabei erkannte sie, dass sie auf einem Absatz stand, der schräg oberhalb vom eventuellen Tatort lag. Unter sich sah sie die Treppe mit dem hellroten Blutfleck und die Kollegen von der Technik sowie einen jungen Schäferhund, die systematisch den Hof durchsuchten. Der Hund schien als Einziger mit Freude und Enthusiasmus an der Arbeit zu sein.

Es waren bestimmt sieben oder acht Meter bis nach unten, und es gab keine Treppe. Es war offenbar nicht möglich, von Eva-Marias Hinterhof in den der Nummer 32 zu gelangen, solange man sich nicht abseilte. Vermutlich war das alles nicht wichtig, dennoch war es ein befriedigendes Gefühl, etwas Konkretes zu wissen ‒ als Gegenstück zu den Grübeleien über Lottie und ihre Familie, die der Besuch bei den jüngeren Töchtern ausgelöst hatte.

Sie gingen am Haus vorbei zu Eva-Marias Eingang. Moussaoui, K., wohnte im zweiten Stock. Monika klingelte, und sie wurden sofort eingelassen.

Als sie oben ankamen, stand die Wohnungstür bereits offen. Die Frau sah wesentlich älter aus, als Monika erwartet hatte, deshalb hielt sie sie zuerst für eine Freundin oder eine Nachbarin.

»Eva-Maria Moussaoui.«

Sie sprach ihren Namen fast tonlos aus, als habe sie kaum noch Herrschaft über ihre Stimme. Lotties älteste Tochter trug eine alte Trainingshose, die immer schon von schlechter Qualität gewesen war, ein verschlissenes T-Shirt und ein Paar Frotteesocken, die in der Wäsche Farbe und Form eingebüßt hatten. Ihre hellbraunen Haare wiesen bereits graue Strähnen auf, und ihre nachlässige Frisur verstärkte den Eindruck von Müdigkeit und Resignation noch. Monikas erster Gedanke war, dass diese Frau einfach nicht genug Energie besitzen konnte, um einen Mord zu begehen.

Sie stellten sich vor, und Eva-Maria führte sie durch eine enge Diele und einen schmalen Gang in ein Wohnzimmer, das noch kleiner war als erwartet. Vielleicht sah es auch nur so klein aus, weil zwei riesige Sofas fast beinahe den gesamten Raum einnahmen. Oder weil Lotties Wohnung so riesig gewesen war. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch und Staub.

Sie setzten sich. Eva-Maria bot ihnen nichts zu trinken an.

»Sind Sie allein zu Hause?«, fragte Monika.

»Ja. Mein Mann ist bei der Arbeit, und mein Sohn besucht einen Freund. Wieso?«

»Wir bringen leider sehr schlechte Nachrichten. Und in einer solchen Situation ist es oft besser, sich auf einen lieben Menschen stützen zu können.«

Abgenutzte Worte.

Früher waren sie ihr wichtig erschienen, bedeutungsschwer, und sie auf die richtige Weise vorzubringen, hatte für sie als berufliche Herausforderung gegolten. Auch so schwierige Situationen wie diese hatte sie gemeistert. Es hatte einen Teil ihres Berufsstolzes ausgemacht.

Heute klangen sie nur dürftig. Solche Nachrichten dürften nicht von unbekannten Staatsdienern vorgebracht werden. Nicht einmal dann, wenn es nach allen künstlichen Regeln der Kunst geschah.

Eva-Maria zeigte keine nennenswerte Reaktion, sondern starrte lediglich einen kleinen Perlenteppich auf dem Tisch an. Monika wusste genau, dass es nichts zu bedeuten hatte, dass Eva-Maria im Augenblick keine Fragen stellte, doch sie wunderte sich dennoch darüber. Eva-Maria wusste vielleicht schon mehr als Monika selbst, sie konnte ihnen vielleicht erzählen, wie, wann, von wem und warum. Oder sie wusste nichts, obwohl Lottie nur einen Steinwurf von ihrer Wohnung entfernt zu Tode gekommen war, schräg gegenüber von ihrem Hinterhof.

Am Ende sagte Eva-Maria ohne aufzublicken: »Das spielt keine Rolle. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben.«

»Wir wissen nicht sehr viel. Heute Morgen, gegen fünf, kam eine Meldung über die Notrufnummer. Auf der Treppe zwischen der Igeldammsgata und dem Kungsholms Strand war eine Frau gefunden worden. Sie war tot«, sagte Monika so freundlich wie möglich.

Sie legte eine Pause ein.

»Es war Lottie Hagman, Ihre Mutter. Es tut uns Leid.«

Noch immer schwieg Eva-Maria und starrte die Perlen an.

Als Eva-Maria endlich etwas sagte, schien sie beinahe mit sich selbst zu sprechen.

»Offenbar kommt aller Dreck an diese Adresse hier. Aller verdammter Dreck auf der Welt.« Danach schaute sie Monika zum ersten Mal ins Gesicht: »Wie ist sie gestorben?«

»Das wissen wir noch nicht genau. Sie lag auf der Treppe, als sei sie gestürzt. Sie hatte eine Kopfverletzung. Wir glauben, dass es sehr schnell gegangen ist, aber wir wissen nicht, wie.«

Eva-Maria schaute sie verständnislos an. »Wie meinen Sie das? Was wissen Sie nicht?«

»Es ist möglich, dass es sich nicht um einen natürlichen Tod oder einen Unfall handelt.«

Eva-Maria setzte sich plötzlich auf und blickte Monika trotzig an. »Deshalb kommen Sie also gleich zu zweit, und auch nicht mit Anfängern. Sie vermuten, dass jemand sie ermordet hat, und da denken Sie an mich. Oder an meinen marokkanischen Mann.« Ihre Stimme wurde schriller, wenn auch nicht wesentlich lauter. »Ich kann mir schon denken, dass irgendein armer Teufel, der ihr zu nahe gekommen ist, die Nerven verloren hat. Aber wenn Sie glauben, wir hätten sie hergelockt und sie dann vor unserem eigenen Haus erschossen, dann irren Sie sich.« Dann brach sie plötzlich in Tränen aus, lehnte ihren Kopf an den Sofarücken und weinte leise vor sich hin.

Nach einer Weile verstummte sie schließlich und murmelte: »Gibt es denn gar nichts, woran nicht ich schuld sein soll?«

»Wie meinen Sie das?«

»Das Personal in meinem Kinderhort kündigt ‒ und ich soll daran schuld sein, obwohl niemand mich gefragt hat, als der neue Dienstplan festgelegt wurde. Für die Kinder sind die neuen Großgruppen nicht gut, ich soll etwas unternehmen, ich bin dafür verantwortlich. Neulich bin ich mit meinem Sohn im Fahrstuhl gefahren, und da sind zwei Typen von vielleicht zwanzig gekommen und haben mich an die Wand gedrückt. Sie wollten wissen, ob schwedische Kinder nicht gut genug für mich seien. Jetzt stirbt Lottie, und auch daran soll ich schuld sein, nur weil sie in der Wahl ihres Todesortes genauso rücksichtslos war wie in jeder anderen Hinsicht.« Jetzt weinte sie. »Begreifen Sie das nicht? Ich hatte keinen Kontakt zu ihr. Ich weiß nichts über ihr Leben oder ihren Tod. Ich will meine Ruhe haben.«

Monika hätte sie gern getröstet, ihr gesagt, dass sie sie durchaus nicht für die Zustände in ihrem Kinderhort oder für Lotties Tod verantwortlich machten, aber da das ja streng genommen nicht gestimmt hätte, schwieg sie lieber. Sie hätte gern gefragt, warum Eva-Maria und Lottie den Kontakt zueinander abgebrochen oder verloren hatten, aber es schien dafür einfach nicht der richtige Moment zu sein.

Sie begnügte sich mit der Mitteilung: »Eine Untersuchung eines ungeklärten Todesfalls ist immer eine große Belastung für die Angehörigen, für alle Beteiligten. Sie hätten natürlich schon früher unterrichtet werden müssen, aber wir hatten Ihre Telefonnummer nicht. Ich kann verstehen, wie sehr Ihnen das zu schaffen macht. Wir können später wiederkommen, wenn Sie möchten.«

»Nein, das ist nicht nötig. Aber ich habe nichts zu sagen. Ich weiß sicher weniger über Lotties Leben als die meisten anderen. Ich lese keine Illustrierten. Wie gesagt, wir hatten keinen Kontakt. Sie hat sich nicht einmal für meinen Sohn interessiert, obwohl er ihr einziges Enkelkind ist. Er hat nie etwas zu Weihnachten von ihr bekommen, nie ein Geburtstagsgeschenk.«

»Das muss für Sie und für ihn sehr hart gewesen sein.«

»Er kann ja nichts vermissen, was er nie gehabt hat. Für mich war es schlimmer. Sie war in vieler Hinsicht ein böser Mensch, aber ich habe sie nicht umgebracht.«

»Wie stand Ihr Mann zu all dem?«

»Was glauben Sie wohl? Er hält sie für eine unnatürliche Mutter. Seine Eltern sind arm und können kaum lesen und schreiben, aber sie kümmern sich mehr um meinen Sohn als sie, und dabei haben sie an die dreißig Enkelkinder.«

Inzwischen war sie etwas weniger apathisch.

»Er hatte keine Möglichkeit sie umzubringen. Sie sind sich nur einmal begegnet, er ist zu ihr gegangen, weil sie wissen sollte, mit wem ihre Tochter verheiratet ist.«

»Und was ist passiert?«

»Sie konnte Araber nicht leiden, sie konnte Menschen, die nicht schön sind, überhaupt nicht leiden, und außerdem legte sie großen Wert auf Geld. Sie hat ihm deutlich gemacht, was mit ihm alles nicht stimmte. Aber das ist lange her.«

»Wann ist er am Sonntag nach Hause gekommen?«

»Er ist U-Bahnführer, sonntags kommt er um Punkt 10. Er kommt immer sofort nach Hause, damit wir uns keine Sorgen machen. Er steigt an der Station Stadshagen aus und geht dann zu Fuß durch die Igeldammsgata.«

»Wir werden vielleicht auch noch mit ihm sprechen müssen, würden Sie ihn bitte darauf vorbereiten?«

»Das wird ihm gar nicht gefallen. Als ich ihn kennen gelernt habe, war er illegal hier im Land, und damals hat er keinen guten Eindruck von der Polizei bekommen, und seither hat sich seine Ansicht kaum verbessert.«

Die Wohnungstür wurde geöffnet, und Eva-Maria rief mit einer plötzlichen Wärme in der Stimme:

»Hallo, Liebling, wir haben Besuch!«

Ein Junge von etwa zehn Jahren kam hereingerannt. Er war schlank und hatte dunkle Locken, und er musterte Monika und Idriss aus großen neugierigen Augen, die so dunkel waren, dass die Pupille kaum zu erkennen war.

»Hallo. Ich bin Murad.«

Er betonte seinen Namen auf der ersten Silbe, nicht wie den des napoleonischen Marschalls.

Seine kleine Hand lag eiskalt in Monikas.

Sein Kommen bildete einen natürlichen Abschluss für das Gespräch. Sie verabschiedeten sich von Eva-Maria und ihrem Sohn und versprachen, sich am nächsten Tag zu melden.

Dann versanken Monika und Idriss wieder in Schweigen. Sie hätte gern gewusst, was er dachte. Eva-Maria hatte sicher nicht Unrecht ‒ wenn Kassem Engländer oder Belgier gewesen wäre, hätte Lottie ihn vielleicht eher akzeptieren können. Monika hatte keine Ahnung, wie sie mit Idriss darüber reden sollte. Sie wusste ja nicht einmal, ob Iraker sich selber als Araber betrachten. Aber sie musste mit ihm reden, wo sie doch zusammenarbeiten sollten.

Doch sie sollte nie erfahren, was Idriss gedacht hatte.

»Ich frage mich, woher sie so genau weiß, dass ihr Sohn Lotties einziges Enkelkind war, wenn sie zu ihrer Familie keinen Kontakt hatte«, sagte er nur.

Dazu fiel Monika nichts ein.

Sie glaubte plötzlich nicht mehr, dass sie diesen Fall klären würde.

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