Читать книгу Rivalinnen - Schweden-Krimi - Åsa Nilsonne - Страница 7

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Der Verkehr in der Fleminggata war dichter geworden, weshalb sie mit dem Auto kaum schneller vorankamen, als wenn sie zu Fuß gegangen wären. Diese Langsamkeit schien das Schweigen, das zwischen Monika und Idriss herrschte, noch um einiges belastender zu machen. Am Ende sagte sie, vor allem, um überhaupt etwas zu sagen: »Ob die wohl wissen, dass wir kommen? Wir sollten vielleicht mal nachfragen.«

Sie wollte schon nach dem Telefon greifen, überlegte es sich dann jedoch anders. Wenn sie mit Mikael oder einem anderen Kollegen unterwegs gewesen wäre, hätte sie den gebeten, den Anruf zu erledigen. Und es gab keinen Grund, Idriss anders zu behandeln.

»Mach du das doch bitte.«

Jetzt würde es sich ja herausstellen, ob er Befehle von einer Frau entgegennehmen könnte. Monika wusste nicht genau, was sie tun würde, wenn er sich weigerte, aber diese Entscheidung wurde ihr abgenommen, da er einfach nickte und auf der Wache anrief, wobei er wie ein ganz normaler Kollege klang. Sie hörte trotzdem aufmerksam zu, während sie Meter um Meter weiterschlichen. Sie fragte sich, ob sie vielleicht lächeln und aufmunternd nicken sollte ‒ aber das könnte er ja auch als Beleidigung auffassen ‒ oder ob sie überhaupt keine Reaktion zeigen und damit vielleicht unfreundlich wirken könnte. Am Ende fühlte sie sich dermaßen unbehaglich, dass sie sich fragte, wie sie wohl von außen wirkte: wie eine kleine bleiche Frau mit unbeholfener Körpersprache, die verkrampft am Steuer saß, ein passiver Mensch, der aus einer quälenden Situation einfach keinen Ausweg fand. Sie warf einen Rat suchenden Blick in den Rückspiegel und blickte in ihre wie immer neutral wirkenden Augen, die weder blau noch wirklich grau waren, sie sah ihr wie immer ausdrucksloses Gesicht und dieselben öden blonden, halblangen Haare. Dieser Anblick konnte wirklich nicht zur Verbesserung der Lage beitragen.

Sie nahm an, dass sie Mitleid mit ihm haben und deshalb besonders freundlich sein müsste ‒ sie müsste Mitleid mit ihm haben, weil er dunkelbraune Augen hatte, keine blauen, weil er nicht in Schweden geboren war und weil seine Eltern aus dem Irak stammten. Doch sie hatte kein Mitleid mit ihm, wer ihr hier Leid tat, war sie selbst, und deshalb packte sie das Lenkrad mit noch festerem Griff. Sie hoffte wider besseres Wissen, dass die Kollegen von der Wache sie zurückrufen und sagen würden, es sei alles ein Irrtum gewesen, die Ermittlungen seien abgeblasen. Aber nein, sie mussten sich anhören, dass niemand auf die Idee gekommen war, die Töchter zu informieren. Doch das sollte aber sofort geschehen, damit sie nicht unerwartet hereinplatzten. Wie gut, dass mir das eingefallen ist, dachte sie.

Idriss sprach ihre Gedanken laut aus.

»Danke. Es wäre sicher nicht so gut, unangemeldet dort aufzutauchen.«

Danke? Bedankte er sich bei ihr, weil sie ihre Arbeit tat? Wollte er hier entscheiden, was gut oder schlecht war, richtig oder falsch? Glaubte er, er könne ihren Einsatz bewerten und sie dann nach Lust und Laune belohnen? Oder wollte er vielleicht nur höflich sein oder sich vielleicht sogar einschmeicheln? Sie wusste nicht, was sie glauben sollte, deshalb konnte sie sich auch für keine Reaktion entscheiden und nickte einfach nur stumm.

Dann schwiegen sie wieder.

Der Weihnachtsverkehr schien in der Hamngata, wo eine dicht gedrängte Menschenmenge langsam durch die Straßen und über die Zebrastreifen kroch, seinen Höhepunkt zu erreichen. Menschen, die sonst bei Rot immer stehen blieben, ließen sich nun von der Masse leiten und wurden in einem kompakten Strom vorangetrieben, der nicht auf den Versuch der Autos achtete, sich einen Weg zu bahnen. Die Fußgänger betrachteten die Autofahrer mit freundlicher Nachsicht und einer gewissen Schadenfreude ‒ heute sind wir an der Reihe, heute haben wir die Übermacht, heute musst du einfach warten! Die Autofahrer schienen die Lage zu akzeptieren, sie hupten nicht und drängelten auch nicht.

Das Schweigen steigerte Monikas Anspannung noch. Sie brauchte ohnehin immer lange, um sich an neue Menschen zu gewöhnen, und Idriss gegenüber fühlte sie sich so unsicher, wie ihr das schon lange nicht mehr passiert war. Weshalb sie sich dummerweise noch mehr über ihn ärgerte. Es half auch nichts, dass sie einsah, wie unsinnig sie sich verhielt.

Endlich lag das ärgste Gedränge hinter ihnen. Sie fuhr durch den Strandväg und versuchte durch das Betrachten der Häuser auf andere Gedanken zu kommen.

Östermalm war der Teil der Innenstadt, der sie am wenigsten interessierte. Sie fand die Straßen zu breit und zu leer, die Häuser zu aufdringlich, die Mehrzahl der Verbrechen zu ausgefeilt. Sie konnte kaum verstehen und noch weniger verzeihen, dass Gewerkschaftsbonzen und Künstler plötzlich, wenn sie zu Geld kamen, in eine so genannte bezaubernde Jugendstilwohnung in Östermalm zogen, als weise ihr bisheriges Wohnviertel irgendeinen Makel auf, weshalb man von dort fortzog, sobald man es sich leisten konnte. Monika selbst wäre natürlich gern aus ihrem Vorort nach Kungsholmen gezogen, aber sie empfand das nicht als illoyal, da sie Zeit genug gehabt hatte, um diesen Stadtteil sehr genau kennen zu lernen.

Sie fand den Weg zur Storgata ohne Probleme. Nummer 12 erwies sich als prachtvolles, ansprechend hell gehaltenes Eckhaus, von dem sie trotz seiner Lage einfach hingerissen war, und obwohl es von allem ein wenig zu viel hatte, wie eine Zwölfjährige, die eben anfängt, sich zu schminken.

Sie stellten den Wagen vor dem 7-Eleven-Kiosk gegenüber ab. Wäre Mikael dagewesen, hätte Monika gesagt, dass bald jeder Winkel in der Stadt einen rund um die Uhr geöffneten Kiosk haben würde, wo man Kaffee, Schnellmahlzeiten und Grundnahrungsmittel zu einem übertriebenen Preis kaufen konnte, jetzt aber fürchtete sie, dass sie sich übellaunig und quengelig anhören könnte, und deshalb schwieg sie auch weiterhin.

Die Haustür war nicht ganz so reich verziert wie das übrige Haus. Es war eine solide Tür aus dunklem Holz mit großen, geschliffenen Glasfenstern. An der Wand gegenüber war eine kleine Tafel angebracht, die die Gäste darüber informierte, dass das Haus in den Jahren 1905 bis 1906 errichtet und vom Architekten Sam Kjellberg entworfen worden war. Diesen Namen kannte Monika, und sie fragte sich, ob Sam noch weitere Häuser hinterlassen hatte, die so strikt gegen das Gebot, nur ja nie aufzufallen, verstießen wie dieses hier.

Durch die Glasscheiben war eine leere und einfarbige Eingangshalle mit zwei weiteren Türen zu sehen, die wie die elegantere Antwort auf die Haustür wirkten. Sie gaben den Türcode ein, durchquerten die Eingangshalle und erreichten einen der scheußlichsten Fahrstühle, die Monika seit langem gesehen hatte. Ein grüner Blechkasten, der offenbar als Notlösung während einer akuten Fahrstuhlkrise aufgebaut und niemals wieder ersetzt worden war. Monikas Laune wurde noch schlechter. War auch das hier ein Haus, das in den siebziger Jahren politisch unkorrekt gewesen war und sich deshalb diesen Fahrstuhl zugelegt hatte? Waren wohl gleichzeitig Kachelöfen, geschnitzte Verzierungen, Parkett und Stuck herausgerissen worden?

Der Fahrstuhl war von innen ebenso deprimierend wie von außen, brachte sie jedoch ohne zu murren in den vierten Stock hinauf.

Die Tür zu Lotties Wohnung bestand aus demselben dunklen Holz wie die Haustür und war mit zwei selbst gemachten Namensschildern sowie einem aus Messing dekoriert, auf dem einfach nur »Hagman« stand. Auf dem einen der beiden Schilder stand »Hier wohnt Pernilla«, das andere zeigte eine rote und rosa Collage zum Thema Dahlien. Ein Stück weiter unten war mit Klebestreifen eine Visitenkarte angebracht, auf der der Name Sara Gottman geschrieben stand.

Monika fühlte sich ein wenig besser. Sie hatte immer schon gern die Wohnungen anderer Menschen besucht, wo sie häufig das Gefühl hatte, die Gedanken der Menschen vor sich sehen zu können ‒ wer sie sein wollten, wie sie sich selber sahen.

Aber das war auch der einzige Pluspunkt. An Minuspunkten dagegen hatte sie eine reiche Auswahl. Menschen zu treffen, die eben erst einen nahen Angehörigen verloren haben, ist immer schrecklich, und gerade an diesem Morgen wusste Monika nicht, woher sie die Kraft nehmen sollte, diese Begegnung durchzustehen. Außerdem machte ihr Einars überraschende Mitteilung zu schaffen, dass Lottie ein Auge fehle. Sie hatte nicht vor, den Töchtern davon zu erzählen, doch ihr Unbehagen wurde durch dieses Wissen noch vergrößert. Und zu allem Überfluss war da ja noch ihr unwillkommener irakischer Schatten.

Sie drückte auf den Klingelknopf.

Jetzt würde sie auf jeden Fall erfahren, wie Lottie ihre Umgebung gestaltet hatte.

Eine bleiche junge Frau mit verweinten Augen trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Warme Luft, die nach Duftölen, Tee, Toast und Parfüm roch, strömte ihnen entgegen. Die junge Frau hatte sich in einen viel zu großen Morgenrock gehüllt und erwiderte ihre Blicke nicht, schien sich auf diese Weise gegen ihre unerwünschte Anwesenheit schützen zu wollen. Sie erschauderte ein wenig, vielleicht wegen der Kälte, die mit den Gästen in die Wohnung eindrang.

Die Diele hätte als geräumige Einzimmerwohnung genutzt werden können ‒ das Bett hätte bequem an die linke Wand gestellt werden können, rechts eine Kochnische, und trotzdem wäre noch immer genug Platz für ein kleines Sofa, einen Tisch und zwei Sessel gewesen. Die Diele war jedoch nicht als Wohnung eingerichtet, sondern eben als Diele, als Übergang zwischen der Außenwelt und dem Inneren der Wohnung, und bot ausreichend Platz für die große Menge an Mänteln, die hier aufbewahrt wurden. Und das alles ließ auf die Ausmaße der restlichen Wohnung schließen.

»Legen Sie ab.« Die Stimme klang leise und ausdruckslos. »Ich bin Pernilla. Die jüngste Tochter.«

Monika wollte sich und Idriss vorstellen, doch Pernilla hatte ihnen schon den Rücken gekehrt. Sie führte die Gäste durch einen Bogengang in einen für Monikas Maßstäbe riesigen Raum, in dem es von Möbeln, Katzen und Menschen nur so zu wimmeln schien.

»Da sind sie.« Mit diesen Worten schien Pernilla ihre Pflichten als erfüllt zu betrachten. Sie lief zwischen Stühlen, Hockern, niedrigen Tischen und hohen Kissen umher, bevor sie sich auf die Ecke eines großen roten, abgenutzten Ledersofas sinken ließ.

Bei genauerem Hinsehen stellte es sich heraus, dass sich nur drei weitere Personen in dem Zimmer aufhielten, zwei junge Frauen und ein etwas älterer Mann. Dazu kamen eine lebendige Katze und einige Dutzend aus Ton oder Stoff. Der Eindruck von Gewimmel entstand dadurch, dass die Wände von Plakaten, Portraits und Fotos bedeckt waren, die allesamt Menschen zeigten. Auf dem Couchtisch und dem Flügel standen zahlreiche gerahmte Fotos, zwei Büsten, eine aus Gips und eine aus Ton, flankierten den Bogengang. Die eine stellte vermutlich Lottie im Alter von fünfundzwanzig dar. Es war eines der ungewöhnlichsten und schönsten Zimmer, die Lottie je gesehen hatte.

Die eine Frau erhob sich und kam ihnen entgegen. Ihre Kleidung sorgte dafür, dass man zuerst ihren Körper ansah ‒ groß, durchtrainiert und nahezu ohne Hüften oder Brüste. Als Nächstes fielen die Haare mit ihrem modischen Schnitt und die schmale schwarze Brille mit den dicken Bügeln auf.

»Hallo. Jenny Hagman. Könnten Sie uns sagen, was eigentlich los ist? Zuerst stehen Sie um sechs Uhr morgens vor der Tür und behaupten, meine Mutter sei aller Wahrscheinlichkeit nach schnell und schmerzlos gestorben, dann ruft jemand an und sagt, wir müssten einige Fragen beantworten, und gleich darauf kommen dann Sie.«

Plötzlich erkannte Monika, wen sie vor sich hatte. Jenny Hagman entwarf kühle und nüchterne Kleidungsstücke für kühle und nüchterne Zwanzigjährige, und zwar mit großem Erfolg.

Jetzt war es wohl angebracht, sich endlich vorzustellen.

»Hallo. Polizeiinspektorin Monika Pedersen und Polizeiinspektor Idriss Al-Khalili von der Kriminalpolizei City.«

Monika hasste ihren Titel. Sie wollte Kriminalkommissarin sein, Polizeiinspektorin klang wie etwas ganz anderes, wie Ladenkontrolleurin oder Warenprüferin. Dieser Titel ließ sie kleiner werden. Sie war umklassifiziert worden, ohne dass jemand sie gefragt hätte, was ihr wie eine halbe Kündigung erschien.

Jenny starrte sie noch immer an, deshalb fuhr Monika fort: »Ja, es tut mir Leid, dass wir Sie gerade jetzt stören müssen, wo Sie natürlich in Ruhe gelassen werden wollen, und wir möchten Ihnen unser Beileid aussprechen. Aber wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen.«

Sie berichtete kurz über die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung und sagte, dass sie mehr Informationen über Lottie brauchte. Die Sache mit dem Auge ließ sie unerwähnt.

»Sie wissen also nicht, was passiert ist«, sagte Jenny herausfordernd.

»Wir wissen, dass ein einfacher Sturz höchstwahrscheinlich nicht zu diesen Verletzungen geführt haben könnte. Deshalb sind wir hier.«

»Unwahrscheinliche Dinge können aber trotzdem passieren. Hätten Sie nicht warten können, bis Sie sicher sind, falls Sie das überhaupt jemals sein werden? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand, der sie gekannt hat, sie ermordet haben könnte, und wenn es jemand war, der sie nicht kannte, dann können wir Ihnen auch nichts sagen, das weiterhilft.«

Kühle Logik, und interessant. Sie hatte nicht das Übliche gesagt, nämlich, dass niemand Lottie etwas angetan haben könnte, dass sie der liebste Mensch auf der ganzen Welt gewesen sei.

Monika fragte sich, wie sie hier irgendeine Form von Zusammenarbeit entwickeln sollte. Die kleine Menschengruppe in diesem Zimmer hatte sich gegen die Eindringlinge zusammengeschlossen und kam ihr alles andere als hilfsbereit vor. Ein misstrauischeres Gemüt hätte vielleicht angenommen, dass sie etwas zu verbergen hatten, aber Monika konnte sich noch allerlei andere Gründe vorstellen, aus denen sie nichts mit ihr zu tun haben wollten.

Jenny stand noch immer vor Monika, und dieses Mal ergriff Idriss die Initiative ‒ er ging ganz einfach um sie herum und begrüßte die übrigen Anwesenden. Er reichte zuerst Pernilla die Hand, danach dem kräftigen Mann von etwa Mitte dreißig, der auf der anderen Seite des Sofas saß und sich als Johan vorstellte, dann wandte er sich der schmächtigen dunkelhaarigen jungen Frau mit den violetten Augen zu, die unter einer Decke auf einem breiten schwarzweißgestreiften Hocker mit krummen Beinen aus Weißmetall mehr lag als saß. Sie hieß Dahlia, wie das Schild an der Tür schon hatte vermuten lassen. Monika folgte Idriss und ließ sich rasch und ungebeten in einen zum Sofa passenden Sessel sinken. Die Katze, die auf der Armlehne gesessen hatte, sprang mit einer fließenden, kurzen Bewegung auf den Boden. Sie war klein und kohlschwarz, und Monika hielt sie für irgendeine Rassekatze, da sie aussah wie die Antwort der Katzenwelt auf ein Vollblutpferd.

Jenny stand noch immer schräg hinter Monika, doch Monika beschloss, sich nicht um diese stumme Aufforderung, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden, zu kümmern.

Sie wandte sich Dahlia zu, da sie nicht davon ausgehen konnte, dass Lotties Töchter Antworten liefern würden.

»Wir brauchen ein paar Hintergrundinformationen. Sie wohnen hier, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Ja. Seit einem Jahr. Damals habe ich die Theaterschule verlassen und zugleich meine Wohnung verloren ‒ und da hat Lottie mir angeboten, hier ein Zimmer zu mieten. Sie hat manchmal an der Schule unterrichtet, und so habe ich sie kennen gelernt.« Dahlias Augen füllten sich mit Tränen. »Sie war ein großzügiger Mensch, niemand hätte ihr etwas angetan, da können Sie sicher sein. Ich kann nicht begreifen, dass sie nicht mehr da ist.« Jetzt strömten ihr die Tränen über die Wangen. »Wir haben zusammen gefrühstückt, das machen wir nicht immer, hier essen alle, wenn sie Hunger haben. Wir sind beide erst spät aufgestanden, so gegen zwölf. Sie hatte nachmittags eine Vorstellung, weil Sonntag war. Sie war so wie immer ‒ las die Zeitung, plauderte ein wenig. Ich bin sicher, dass sie keine Ahnung davon hatte, dass das ihr letztes Frühstück war, das hätte ich gemerkt.«

»Natürlich hatte sie keine Ahnung davon, dass das ihr letztes Frühstück war, kein Mensch glaubt ja wohl, dass sie sich selber umgebracht hat«, warf Jenny gereizt ein.

Dahlia setzte sich auf und zog die Decke über ihren schmalen Schultern zusammen.

»Ich verstehe dich nicht, Jenny. Die Polizei ist hier. Sie arbeiten für dich, aber du bist ihnen nicht im Geringsten behilflich. Setz dich und benimm dich anständig. Lottie zuliebe, wenn schon aus keinem anderen Grund.«

Aber Jenny blieb stehen, und die Kälte in ihrer Stimme ließ Monika zusammenzucken.

»Es ist nicht deine Mutter, die hier gestorben ist und an der alle einen Anteil zu besitzen glauben. Niemand hat sich in dein Zuhause gedrängt. Also solltest du die Klappe halten!«

Monika hatte noch nie einen weniger gelungenen ersten Kontakt mit Hinterbliebenen erlebt. Sie beschloss, nicht auf Jenny zu achten und hoffte, dass Dahlia ihrem Beispiel folgen würde.

»Also, hier in Lotties Wohnung leben Dahlia und Pernilla. An der Tür steht noch ein dritter Name, wer ist das?«

»Sara, Sara Gottman.« Dahlia hatte sich von Jennys Ausbruch nicht ins Bockshorn jagen lassen. »Sie will auch Schauspielerin werden. Sie ist in Indien und kommt erst nach Weihnachten zurück.«

Monika hörte Idriss’ Füllfederhalter kratzen. Sie hatten nicht über die Arbeitsverteilung gesprochen, aber er hatte offenbar die Protokollführung übernommen.

Monika wandte sich dem Mann zu, der stumm und aufmerksam, aber seltsam distanziert dasaß wie ein offizieller Beobachter oder Diplomat, den die Geschehnisse jedoch persönlich nicht betrafen. Er war untersetzt und grob gebaut, wenn auch nicht dick, hatte ein viereckiges Gesicht und dunkle Locken. Seine Augen waren hellbraun und in romantischen Situationen sicher brauchbar. Er beantwortete ihre stumme Frage: »Johan Lindén, Freund der Familie. Ich habe heute hier übernachtet, habe Lottie aber nicht gesehen. Das kommt häufiger vor. Kam häufiger vor.«

Monika hätte gern gewusst, ob er mit Pernilla oder mit Dahlia zusammen gewesen war, doch deren Verhalten gab keinerlei Hinweis darauf. Sie verkniff sich die Frage ‒ den minimalen Kontakt, den sie bisher aufgebaut hatte, wollte sie nicht durch Fragen zerstören, die unnötig persönlich wirken könnten. Im Laufe der Zeit würde sie schon alles in Erfahrung bringen, wenn es von Bedeutung für den Fall war.

»Na gut. Dann möchte ich vor allem wissen, ob Lottie Ihres Wissens nach jemals bedroht worden ist.«

Alle, die Monika sehen konnte, schüttelten den Kopf. Sie sahen verängstigt und ein wenig verständnislos aus, als könnten sie noch immer nicht glauben, dass das hier wirklich passierte.

»Aber was ist das denn für ein Unsinn! Niemand hat Lottie bedroht!«, protestierte Jenny.

»Woher wissen Sie das?«

»Das hätte sie auf jeden Fall aller Welt erzählt, aber sie hat kein Wort gesagt.«

Die anderen nickten zustimmend.

»Wissen Sie, was sie in Kungsholmen wollte?«

Niemand wusste eine Antwort.

»Was machte sie sonst nach den Nachmittagsvorstellungen?«

Nach einer ziemlich langen Pause sagte Johan zögernd, das sei ganz unterschiedlich gewesen. Manchmal sei sie nach Hause gekommen, manchmal hätte sie aber auch ihre vielen Bekannten besucht oder sei mit Kolleginnen oder Kollegen essen gegangen.

»Wissen Sie, was sie gestern gemacht hat?«

Das wusste niemand, oder sie verschwiegen es, falls sie es wussten. Sie hatten sich jedenfalls keine Sorgen gemacht, als sie abends nicht nach Hause gekommen war, sie waren an Lotties unregelmäßige Lebensführung gewohnt und deshalb wie sonst schlafen gegangen.

»Können Sie mir sagen, woran Lottie im Moment gearbeitet hat? Sie haben das Theater erwähnt, aber sie wirkte ja offenbar auch in einer Fernsehserie mit?«

Jenny gab nach und ließ sich zwischen Pernilla und Johan auf das Sofa sinken, sodass sie Monikas Blick erwidern konnte.

»Sie hatte viele Eisen im Feuer. Da war das Theater, die Revue im Maximtheater, gleich hier in der Nähe. Und dann ›Unsere verrückte Familie‹, eine Seifenoper, wo sie eine Großmutter spielte, die sich immer wieder in das Leben der anderen einmischte, Sie haben sicher einige Folgen gesehen, die Serie läuft schon seit einer Ewigkeit. Soviel wir wissen, hatte sie keine Feinde, sie hatte weder mit Drogenhandel noch mit Erpressung oder anderen Dingen zu tun, die auf die Dauer gefährlich werden können. Sie fürchtete sich vor nichts und niemandem. Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden, denn damit ist dieses Gespräch beendet.«

Jenny sprang wieder auf, und dieses Mal folgte Monika ihrem Beispiel. Sie nahm an, dass sie hier nicht weiterkommen würden. Und da noch immer nicht feststand, ob Lottie wirklich ermordet worden war, gab es auch keinen Grund, auf der Fortsetzung des Gesprächs zu bestehen und sich den trauernden Töchtern noch länger aufzudrängen.

Doch zugleich fragte Monika sich, wen Jenny zu beschützen versuchte. Sich selbst, vor Trauer und Schock? Pernilla, die in ihrer Sofaecke wie ein verzweifeltes Kind in sich zusammenkroch? Lotties eventuelle Geheimnisse? Wenn Lottie wirklich ermordet worden war, dann würden sie bald ihre Wohnung auf den Kopf stellen, doch bis dahin sollten die Töchter ihre Ruhe haben. Oder vielleicht hatte Jenny einfach seit ihrer Kindheit um ihr Privatleben kämpfen müssen. Sie war vielleicht diejenige gewesen, die Grenzen zog, die einen ständigen Kampf darum ausfocht, einen kleinen Teil von Lotties öffentlich geführtem Leben zu behalten. Vielleicht hatte sie Pernilla schützen müssen, weil Lottie das nicht tat. Zum ersten Mal seit sie diese Wohnung betreten hatte, empfand Monika eine gewisse Sympathie, stellte sich plötzlich die vielen Fragen vor, die neugierigen Blicke, die vielen Eindringlinge ins Familienleben, mit denen Lotties Kinder hatten leben müssen. Das könnte durchaus erklären, dass weder Jenny noch Pernilla das Bedürfnis zeigten, ihr Leben, die Ereignisse und ihre Reaktionen genau zu beschreiben, wie es Monika so oft bei Angehörigen begegnet war.

Eine andere Erklärung war natürlich, dass die Polizei nun zu der Feindin geworden war, die um keinen Preis die Wahrheit über Lotties Tod in Erfahrung bringen durfte.

Sie hatten den Bogengang schon fast durchquert, als Jenny noch hinzufügte: »Wenn Sie schon jemanden schikanieren wollen, dann versuchen Sie es doch bei Eva-Maria, unserer Halbschwester. Die wohnt übrigens dort in der Gegend.«

»Wir wussten nicht, dass es noch eine Schwester gibt. Ist sie schon unterrichtet worden?«, fragte Idriss.

Jenny schüttelte den Kopf.

»Von uns jedenfalls nicht. Wir haben keinen Kontakt zueinander.«

»Aber dann weiß sie vermutlich noch nicht einmal, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Sicher hat sie ihren Namen geändert und ist uns deshalb nicht aufgefallen.«

»Sie ist mit einem Marokkaner verheiratet. Er heißt Mossati, Mossa... so was in der Art. Aber das ist doch egal ‒ für sie ist Lottie seit über zwanzig Jahren tot.«

Am Ende war es Johan, der anbot nach dem Namen und der Adresse zu suchen. Die anderen schienen sich nicht im Mindesten daran zu stoßen, dass er, der Gast, Lotties Habseligkeiten durchsuchte, oder genauer gesagt, ihren Nachlass.

»Hier ist es«, rief Johan aus dem Inneren der Wohnung. Seine Stimme schien von weither zu kommen. Er hielt ein kleines, abgegriffenes Notizbuch und ein Telefonbuch in der Hand, als er zurückkam.

»Ich habe auch eine Nummer, aber keine Adresse. Ich sehe mal im Telefonbuch nach.«

Er fing an zu blättern. Monika notierte inzwischen die Nummer.

»Moussaoui. Moussawi. Die Franzosen sind schuld daran, dass dieser Name M-o-u-s-s-a-o-u-i geschrieben wird. Wenn Marokko eine englische Kolonie gewesen wäre, dann würde es M-o-o-s-a-w-e-e geschrieben. Ein Buchstabe weniger!«

Idriss war der Einzige, der lachte.

»Hier. Kassem und Eva-Maria.«

Er verstummte plötzlich und sah peinlich berührt aus.

»Seltsam. Sie wohnen in der Igeldammsgata 26. Das muss doch ganz in der Nähe sein.«

Monika sah Jenny und Pernilla an. Wollten sie ihr wirklich einreden, sie wüssten den Namen und die Adresse ihrer Schwester nicht? Oder war es einfach so, dass kein warmes Zimmer, kein Erfolg, keine Begabung vor den Kräften schützt, die die Bindungen zwischen Frauen mit derselben Mutter, zwischen Mutter und Tochter zerreißen können?

»Wollen Sie Eva-Maria anrufen oder sollen wir das übernehmen?«

»Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden ‒ wir kennen sie nicht, wir hatten noch nie Kontakt, und es gibt wohl keinen Grund, jetzt damit anzufangen«, sagte Jenny sofort.

Monika verkniff sich die Bemerkung, dass der Tod eines Menschen die Hinterbliebenen oft in Kontakt miteinander bringt. Unbekannte Kinder, entlaufene Ehemänner, Geschwister, die abgeschrieben wurden oder verschwunden sind.

»Könnte Lottie nicht trotzdem auf dem Weg von oder zu Eva-Maria gewesen sein? Früher oder später versöhnen sich die meisten doch wieder, und zwanzig Jahre sind eine lange Zeit.«

»Eva-Maria hat Lottie gehasst«, sagte Jenny, bevor sie etwas leiser fortfuhr. »Und Lottie wäre niemals zu ihr gegangen.«

Monika wartete vergeblich auf eine Erklärung.

»Dann werden wir sie verständigen. Ja, und wir möchten die Presse so lange wie möglich aus der Sache heraushalten. Würden Sie uns dabei behilflich sein?«

»Wir werden alle dichthalten.« Dahlia hatte sich zur Sprecherin der Gruppe erhoben, und Monika hoffte, dass Jenny nicht sofort aus Protest bei irgendeiner Abendzeitung anrufen würde.

Sie gab sich alle Mühe, das Gespräch auf freundliche Weise zu beenden. Menschen, die gerade erst einen nahen Angehörigen verloren haben, setzen schließlich andere Prioritäten als die Zusammenarbeit mit der Polizei. Idriss notierte Adressen und Telefonnummern, während Monika den Anwesenden die Hand gab und nach ein paar freundlichen Worten suchte. »Wir melden uns, wenn wir mehr wissen«, schloss sie.

Jenny reichte ihr eine Visitenkarte, als sie die Wohnung schon fast verlassen hatten. »Rufen Sie diese Nummer an ‒ das ist Lotties Geheimnummer für wichtige berufliche Verbindungen und gute Freunde. Wir haben den Stecker des anderen Anschlusses herausgezogen.«

Die Visitenkarte ließ Monika erschaudern ‒ Lottie hatte ihre Augen, die großen violetten Augen, als Hintergrund gewählt. Sie schienen sie anzusehen, und Monika wollte lieber nicht daran denken, was mit dem einen geschehen war. Aber daran musste nicht unbedingt der Täter schuld sein, in der Stadt wimmelte es doch von hungrigen kleinen Tieren, und sie wusste, was Ratten oder Krähen einem Leichnam antun konnten. Die weichen Augen verschwinden meistens als Erstes.

Dieser Fall kam ihr aus so vielen Gründen seltsam und bedrohlich vor, dass sie sie gar nicht alle aufzählen konnte.

Im Fahrstuhl spielte Monika mit dem Gedanken, jemand anderen zu Eva-Maria schicken zu lassen, beschloss dann aber, sie doch selbst aufzusuchen. Die Reaktion auf die Todesnachricht konnte von großer Bedeutung sein, deshalb sah sie sie lieber mit eigenen Augen. Aber das brachte sie zum nächsten Problem: sie wusste nicht, was sie zu Idriss sagen sollte.

Im Fahrstuhl hatte sie ihm den Rücken zugekehrt, um keine Kommentare abgeben zu müssen. Der Fahrstuhl kam ihr ungewöhnlich langsam vor, und am Ende fühlte sie sich zu irgendeiner Bemerkung gezwungen, also drehte sie sich zu Idriss um, der jedoch völlig in Gedanken versunken zu sein schien. Schweigend gingen sie auf die Haustür zu.

Als sie die Straße betraten, sahen sie als Erstes eine junge Frau, die vor dem Kiosk Zeitungsplakate aufhängte. Sie trug keinen Mantel, hob die Schultern und spannte ihren ganzen Körper an, um sich vor der Kälte zu schützen. Ihr Atem gefror zu Eis und hing wie eine leere Sprechblase vor ihrem Gesicht, während sie mit schnellen, ruckartigen Bewegungen arbeitete. Das Plakat, das sie aufhängte, machte Monika und Idriss bewusst, dass ihnen noch weniger Zeit blieb, als sie erwartet hatten.

Die Zeitung Expressen hatte den Wettlauf gewonnen. Ein dicker schwarzer Rahmen umgab Lotties Gesicht, und die Schlagzeile fragte kurz und bündig: »Lottie Hagman tot ‒ Mord?«

Aftonbladet hatte sich mit dem Wetter begnügen müssen, und die Schlagzeile »—14, wir frieren«, stellte keinerlei Konkurrenz dar.

Verdammt!

Rivalinnen - Schweden-Krimi

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