Читать книгу Utopia - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider - Страница 10
Noem – Einbruch
Оглавление„Durch Fehler kann man nur lernen, wenn Erkenntnis und Einsicht mit neutraler Analyse gepaart werden. Ohne Schmerz, ohne Schuldzuweisung. Was die Menschheit heute durchmacht, in dieser Zeit der Unruhe – geschaffen durch ungerechte Verteilung, durch Habsucht und Korruption, Terrorismus, geboren aus unterschiedlichen Wertvorstellungen sowie Glaubensrichtungen, durch Unterdrückung und Bevormundung –, ist bereits geschehen. Kriege hat es trotz ihrer Schrecken immer gegeben. Ist der Mensch vergesslich? Kann er die Fürchterlichkeiten nicht weiter als drei Generationen tragen? Ein neutrales Archiv, das unbeeinflussbar ist, wird benötigt. Ich kann euch ein System geben, das diese Gräueltaten nicht vergisst und alles tun wird, damit die gleichen Fehler nicht wieder und wieder passieren.“
Programmierer 2072
Der Tag ist endlich da. Ich habe Jahre lang so hart für ihn gearbeitet und freue mich darauf, die Früchte meiner Anstrengungen zu ernten. Noch nie ist mir etwas so schwergefallen oder hat so lange gedauert. Ich habe Ideen durchdacht, Programme geschrieben und wieder verworfen. Und nach all der Arbeit, bin ich mir nun sicher, dass es funktionieren wird.
In meinem Egoismus und meiner Sucht nach Aufmerksamkeit, brauche ich Zuschauer. Menschen, denen ich zeigen kann, was ich geschafft habe, was ich noch schaffen werde. Ich werde die Maschine überlisten. Das Programm umgehen, das unsere Umwelt steuert.
Ohne dass es bemerkt wird.
Hierin liegt die Glorie und das Dilemma. Ein Paradoxon, das sich jedoch lösen lässt. Nicht ganz zu meiner Zufriedenheit, aber gut genug, damit mein Ego wachsen und das Gefühl des Erfolges sich einstellen kann.
Karina und Avna werden mich begleiten. Sie werden Zeugen meines glorreichen Siegeszuges sein und vor Erstaunen und Ehrfurcht in die Knie gehen. Gut, Karina wird nicht in die Knie gehen, aber Avna wird mich sicher voller Bewunderung anhimmeln.
Ich sage den beiden nicht, was ich vorhabe und nehme sie, ohne zu fragen, mit auf diese Reise. Ich möchte, dass sie sehen, was ich sehe. Und ich rede mir ein, dass ein Geheimnis uns drei für immer verbinden wird.
Monatelang habe ich an dem Trojaner gearbeitet. Jetzt bin ich nervös. Ich zweifle daran, dass er funktionieren wird und finde plötzlich ein Loch in meiner Mauer des Selbstvertrauens. Der Gedanke daran, was wir mit seiner Hilfe gleich sehen werden, lässt mich schwitzen.
Die Wartezeit zieht sich in die Länge und ich überlege mir, mich wieder aus dem Chatraum auszuloggen, meine Brille auszuschalten und tief durchzuatmen. Doch das wäre zu auffällig. Meine Nervosität ist Au-pair sicher nicht entgangen und ich darf ihr keine Hinweise darauf geben, warum ich nervös bin. Ihre eigenen Schlussfolgerungen werden ihr Variablen vorspielen und die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit wird registriert werden.
Ich kenne ihr Programm. Ich weiß, welche Varianten sie verwerfen und welche sie als ihre Wahrheit akzeptieren wird. Es ist ein weiterer Grund für das hier. Für den Gruppenchat.
Eine Ablenkung.
Eine Camouflage.
Eine Beweihräucherung meiner Selbst.
Der Chatraum ist unauffällig gestaltet. Einfach und ohne Schnickschnack. Viele personalisieren ihre Kanäle thematisch, vor allem ihre Gruppenchats. Ich habe schon vieles gesehen: Eine idyllische Lichtung in einem Wald, ebenso auf dem Gipfel eines Berges. Auf dem Meeresgrund, umgeben von Fischen, Delphinen und manchmal sogar Haien. Ein Zimmer voller Bilder der Chat-Beteiligten. Ein Restaurant. Ein Café.
Die Möglichkeiten sind zahlreich und bei Menschen wie mir, bei Programmierern, so beschränkt oder unendlich wie die eigene Fantasie.
Ich habe einen Raum gewählt. Schlicht. Drei Sessel in einem Zimmer umgeben von Spiegeln. Ein Trick, mehr nicht. Eine Ablenkung. Die Spiegelung einer virtuellen Darstellung ist nicht einfach nur eine Spiegelung, sie schafft eine weitere Darstellung. Und wenn die Spiegelungen sich ins Unendliche wirft, wird das Programm die Daten nur schwer voneinander unterscheiden können.
Solange nichts Außerordentliches passiert, wird sich keiner dieses Chatzimmer näher ansehen. Die Programmierung hat gedauert. Spiegel sind in den Standardfunktionen nicht vorhanden und nicht beliebt, weil sie aufwendig sind und viel Rechnerkapazität fressen.
Die Oberfläche der Spiegel bewegt sich und wirft Ringe, wie die Wasseroberfläche eines Sees. Avna tritt heraus und ich bin ein wenig enttäuscht. Es wäre schön gewesen, ein wenig Zeit mit Karina alleine zu verbringen.
Doch Avnas Blick begräbt diesen unwillkommenen Gedanken wie eine Lawine.
„Oh, Noem! Das ist wunderschön! Ich sehe uns unendlich oft. Es ist wie in einem Spiegelkabinett.“ Sie dreht sich lachend im Kreis und mir wird etwas schwindelig.
„Das ist noch gar nichts!“, erwidere ich hochnäsig und bade in ihrer Bewunderung. Dann wirft ein Spiegel wieder leichte Wellen und Karina tritt hindurch. Mein Herz schlägt schneller. Ihr Anblick, sei er auch nur virtuell, bringt mich aus dem Konzept.
Viele ändern das Aussehen ihres Online-Avatars ins Unkenntliche. Einige addieren zu ihrem gescannten Körper Tierattribute, andere verändern das Aussehen, manche sogar das Geschlecht. Doch da ich die Standardprogramme kenne, weiß ich, welcher Avatar ein Fake und welcher echt ist. Außer bei wirklich guten Eigen-Programmierungen.
Karina und Avna bleiben ihrem Aussehen treu. Karina sind Äußerlichkeiten immerhin nicht wichtig und wenn Avna mit ihren süßen Sechzehn noch schöner wäre, würden meine Augen schmerzen. Karina kann mit Avnas natürlicher Schönheit nicht mithalten. Dennoch hat sie etwas Königliches an sich, das mich anzieht. Sie strahlt Stärke und Kälte aus, während Avna die Personifizierung der Wärme und Weichheit sein könnte – es vermutlich ist.
Karina sieht sich um. Ihre Begeisterung ist nicht so auffällig wie Avnas. So ist Karina nicht. Doch sie nickt mir ernst zu und es bedeutet mir mehr, als Avnas überschwängliches Kompliment.
Dann setze ich ihn ein: meinen Trojaner. Unsere Stimmen erklingen ohne, dass jemand ein Wort gesagt hat.
Avna öffnet den Mund, aber ich lege den Zeigefinger auf die Lippen und sie schluckt ihre Worte wieder herunter. Ich spüre Karinas Augen auf mir, begegne ihrem ernsten Blick und weiß, dass sie etwas ahnt. Ich grinse sie an und dann geht es wirklich los.
Unsere Avatare, Bilder unserer Selbst in die Chatrooms projiziert, verwandeln sich in etwas anderes, zerfallen zu Daten und werden in eine Richtung gezerrt. Die Daten unseres vermeidlichen Gesprächs wandern ins Archiv. Doch während das Gespräch künstlich ist, verwandeln sich auch unsere Links in Daten und wir werden transferiert.
Das Erlebnis ist einmalig. Wie auf einer Achterbahn rasen wir durch das virtuelle Netz. Oben ist nicht unten, es ist nicht rechts, nicht links. Eine Navigation, wenn ich sie eingeplant hätte, wäre schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Nicht in dieser Form. Und während ich durch Licht und Dunkelheit rase, denke ich bereits über das nächste Mal nach.
Wie antizipiert wandern die Daten an denselben Speicherort, an dem alle Aufzeichnungen von uns landen, und ich sehe mein komplettes Leben vor mir in Daten. Bilder, Videos, Texte, alles ist hier gesammelt. Chronologisch. Und so ist mein Ziel einfach zu finden.
Während ich in Einzelteile zerlegt meinen Speicherort verlasse und weiter an dem Datenmeer entlangschwebe, wird mir das wahre Ausmaß erst wirklich bewusst. Hier ist alles gespeichert. Jeder Moment meines Lebens. Und ich fühle mich betrogen. Wut steigt in mir auf.
Ich wusste es.
Jeder weiß es.
Und doch ist es so unermesslich viel. So unermesslich beleidigend. Alles was mich ausmacht ist hier gesammelt. Nicht ein Moment meines Lebens gehört wirklich mir. Mir alleine. Können sie auch in meine Gedanken dringen?
Gefühle, die körperliche Folgen haben, sind aufgezeichnet, so viel weiß ich. Aber können sie meine Gedanken lesen? Mein Verhalten antizipieren? Könnten sie aus all den Daten einen Klon von mir erschaffen, der glauben würde, er wäre echt?
Bin ich wirklich und wahrhaftig ich?
Ein Mensch? Ein Individuum? Bin ich Noem oder nur eine Reproduktion einst gesammelter Daten? Sind wir alle nur Klone? Bin ich ein Klon? Wenn jeder von uns wahrhaftig wäre und einzigartig, wozu benötigt man dann diese akribische Datenansammlung?
Zur Reproduktion? Zur Analyse?
Wir werden in Brutkästen von Computern gezeugt, geformt und nach Wunsch angefertigt. Eine kalte Fusion von manipulierter DNA und vorbereiteten Zellen.
Und ich zweifle plötzlich an meiner Existenz. An meiner Einzigartigkeit. Ich fühle mich wie ein Produkt, eine Laborratte – die Definition von Freiheit entgleitet mir.
Und doch bewege ich mich gezielt weiter.
Bin ich auch nicht mehr als ein Programm?
Lebe ich oder existiere ich nur?
Ich schwebe weiter vorbei an den Minuten, Stunden, Wochen, Monaten und Jahren meines Lebens. Bis ich an dem Nullpunkt angelangt bin. Ich bin so sehr von mir eingenommen, dass ich nicht einen Gedanken daran verliere, wie es Karina und Avna geht.
Ich bin vorbereitet gewesen. Ich wusste, wohin mein Weg mich führt, was mich am Ende erwartet. Und doch bin ich sprachlos, verwirrt und betroffen.
Dann sehe ich sie vor mir.
Die Liste meiner Eltern, die mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Zeugungslisten sind nicht öffentlich zugänglich, sie werden nach der Einarbeitung versiegelt. Selbst für die Eltern sind sie nicht mehr exakt nachvollziehbar und zugreifbar. Dennoch sind sie nicht geheim und können auf Anforderung eingesehen werden. Das passiert allerdings nur selten. Selbst wenn mein Programm auffliegt und unser Infiltrieren bemerkt wird, werden die Konsequenzen überschaubar sein.
Ich unterdrücke den Drang, wie einst Nero Rom die akribisch gesammelten Daten in Schutt und Asche zu legen, und konzentriere mich auf die Liste.
Die aufgelisteten Eigenschaften sind trivial. Unbedeutend. Sie haben keine klare Linie. Als hätte sie jemand bei einem Spiel ausgewürfelt. Dass ich lebensfähig bin, erscheint mir wie ein Wunder.
Ich möchte es nicht, will die Liste vernichten, doch das Programm, das ich geschrieben habe, ist perfekt und zieht eine Kopie. Auch Karina und Avna werden aus dem Strom eine Kopie ihrer Listen mitnehmen. Der Datenname wird verändert, der Inhalt aber der richtige sein.
Beim nächsten Datenverkehr werden wir herausgesogen. Nicht mehr als ein kurzer Datenstau wird in dem System vermerkt.
Wir sind zurück in dem Raum mit den Spiegeln, der der Form nach als Datenstrom realer wirkt und sich echter anfühlt, als mein eigener Körper es bisher getan hat.
Drei Disks erscheinen auf dem kleinen Tisch. Die programmierten Stimmen verstummen und ich durchbreche die Stille. „Hier sind die Kopien unserer ersten Aufzeichnungen. Alle drei Varianten sind darauf.“
Avna ignoriert die Disk und loggt sich wortlos aus dem Chat.
Karinas Avatar wirft mir einen bösen Blick zu und verschwindet, jedoch nicht, ohne nach einer der Disks zu greifen.
Ich bleibe alleine im Chat zurück, maskiere die Daten erneut als Erinnerungsprotokolle mit einem veralteten Datum, lösche Avnas Disk und logge mich ebenfalls aus.
Ich fühle nicht den Triumph, den ich erwartet habe.
Im Gegenteil. Es fühlt sich nicht danach an, als hätte ich das Programm umgangen und unbemerkt Daten gezogen. Die Bitterkeit in meinem Mund schmeckt nach Manipulation. Als wäre ich eine Puppe, an deren Fäden man gezogen hat. Als hätte man mich manipuliert.
Ein Lachen entreißt sich meinen Lippen.
Was für ein dämlicher Gedanke.
Natürlich bin ich manipuliert.
Wenn nicht ich, wer dann auf diesem gottverlassenen Planeten mitten im Weltall?