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Karina – Rennen

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Ich schenke euch eine Welt, in der alle die gleichen Möglichkeiten bekommen, um ihre Träume zu erfüllen. Eine Welt, in der alle mit den gleichen Rechten geboren werden.“

Programmierer 2071

Ich vergesse die Welt um mich herum. Spüre meine Beine, konzentriere mich auf das Schlagen meines Herzens, das Pumpen meiner Lungen. Ich gehe an meine Grenzen, laufe noch, als meine Beine vor Schmerzen schreien, meine Lunge nicht genug Sauerstoff in meine Blutlaufbahn pressen kann, um noch mehr Energie zu erzeugen.

Dann sehe ich das Ziel.

Und während meine Beine, kurz nachdem ich es überschritten habe, unter mir nachgeben und meine Lunge brennend und immer noch verzweifelt nach Sauerstoff japst, sich anfühlt, als würde sie jeden Moment versagen, schlägt mein Herz schneller als gewohnt, doch es schlägt und verlangsamt seinen Rhythmus allmählich.

Ich lächle, vermisse schon den Zustand der Aktion – des Nichtdenkens und des perfekten Seins, als mein Körper zu seinen Standardfunktionen herunterfährt.

Ich war wieder die Schnellste. Ich habe den Rekord der Schule gebrochen. Und in einer Welt, in dieser Welt, in der die meisten Spielsachen virtuell sind, keine haptische Materie haben, drückt Trainer auf den Knopf des 3D-Printers und ich erhalte als Belohnung meinen Lieblingsmotivationsavatar als materiellen Robot. Er ist sehr primitiv und kann nur die eingespeicherten Sätze wiedergeben. Normalerweise.

Mein Motivationsavatar, mein MoAv, ist etwas anders.

Er ist etwas Besonderes.

Immer noch außer Atem, nehme ich einen kleinen silberschwarzen Drachen mit leuchtend blauen Augen entgegen. Ein Blau in der gleichen Farbe wie Noems Augen. Ich weiß, warum meine MoAvs anders sind als die meiner Mitschüler.

„Du hast ihn dir verdient, Karina!“, sagt Trainer und ich glaube, so etwas wie Stolz in seiner leicht synthetischen Stimme zu hören. Vielleicht ist es Wunschdenken. Vielleicht höre ich, was ich hören will.

Mein Com aktiviert sich. Ein Link zu Avna ist erstellt. Ich nehme an und bereue es sofort, als sie mir ihre Glückwünsche entgegenschreit.

„Karina! Du bist wieder die Schnellste gewesen und hast noch einen Rekord gebrochen. Du bist der Wahnsinn! Herzlichen Glückwunsch!“

Okay, ich bereue es fast. Avna übertreibt oft, vor allem, wenn es sich um etwas Gutes handelt. Und doch freue ich mich über ihre Worte und erwidere immer noch etwas außer Atem: „Danke!“ Ich weiß, dass ihre Freude ehrlich gemeint ist.

Als mir meine Mitläufer die Hand geben und gratulieren, bin ich mir über die Ehrlichkeit ihrer Worte nicht sicher. Wo Ehrgeiz im Spiel ist, wohnt der Neid. Das habe ich gelernt. Wettkampf bedeutet, dass man sein Bestes gibt und besser sein will als die anderen. Ein starker Gegner kann das Beste aus einem herausholen, aber auch das Schlechteste. Er kann einen zur Höchstleistung antreiben, einen jedoch ebenso die eigenen Grenzen überschreiten lassen. Zusätzlich kann er auch schlimme Gefühle hervorrufen. Neid ist nur eines davon. Selbstzweifel, Abneigung, Missgunst und im schlimmsten Fall Hass. Und Gefühle sind der Antrieb für unsere Taten. Gute sowie schlechte.

Avnas Sorge, dass ich in meinen Interessenfächern Freunde finde, die sie und Noem ersetzen könnten, erscheint nur noch lachhaft. Hier finde ich Konkurrenten, Gegner, einige wenige, die mir nacheifern und mich nachahmen. Doch keiner davon ist ein wahrer Freund. Denn bei wahren Freunden kann man schwach sein, ohne Stärke zu provozieren. Hier, unter den Hyänen, kann ich mir keine Schwäche leisten. Ich will sie auch nicht vor Noem oder Avna zeigen, aber der Gedanke, dass ich es könnte, ist Balsam für meinen Geist, der sich in der Spirale der gesteigerten Leistung verfangen hat.

„Bringst du ihn das nächstes Mal mit?“, fragt Avna aufgeregt.

Ich blicke auf den kleinen Drachen in meiner Hand und lächle. Ein Teil von mir will ihn nicht teilen, will ihn ganz für sich behalten.

„Okay, weil du es bist“, erwidere ich trotzdem. „Vielleicht darfst du ihn sogar streicheln.“

„Das wäre toll!“, sagt Avna, ohne auf die Spitze zu reagieren, die jeder andere als Fehdehandschuh wahrgenommen hätte – auch Noem. Vor allem Noem.

„Ich muss jetzt los, Avna. Wir gehen mit dem gesamten Team Mittagessen. Ich kann heute nicht mit euch essen“, sage ich und warte auf den Vorwurf. Wie oft habe ich Avna und Noem schon versetzt?

„Genieß deinen Sieg und melde dich, wenn du Zeit für uns findest! Viel Spaß beim Feiern!“, sagt Avna, winkt mir und beendet den Call.

Ich warte auf einen zweiten Call, während ich mich zur Dusche aufmache. Doch es ruft niemand mehr an. So stelle ich meinen wertvollen Drachen in die Umkleide und will mich bereits zum Duschen umziehen, als mich die Wut packt.

Warum meldet er sich nicht?

Verärgert blicke ich auf den Drachen, beuge mich herunter und schnippe ihm auf die Schnauze. Entsetzt weiche ich zurück, als er nach mir schnappt, Feuer spuckt und schließlich mit einer bekannten Stimme sagt: „Ich wusste, dass du gewinnst!“

Ich bin erstaunt, ein wenig entsetzt und muss doch lachen. Noem ist einfach der Wahnsinn. Bevor ich mich umziehe, drehe ich den Drachen so, dass er zur Wand blickt, und drohe ihm: „Wenn du spickst, mache ich Kleinholz aus dir. Verschwendung von wertvollen Ressourcen hin oder her.“ Wer weiß, zu was Noem ihn noch alles programmiert hat.

Beim Essen loben mich meine Mitschüler und während der erste Neid ein Stich war, baut er jetzt mein Selbstbewusstsein auf. Laufen ist kein Mannschaftsport. Jeder rennt für sich. Während ich auf den Laufbahnen Flügel bekomme, engen mich die Stunden des Mannschaftsportes ein. Es ist schwer für mich daran zu denken, dass ich den Ball oder den Puck abgeben sollte, wenn jemand freisteht oder sich in einer besseren Position befindet.

Volleyball geht noch am ehesten.

Doch Basketball und Fußball sind anstrengend.

Nicht körperlich – geistig. Körperliche Anstrengung macht mir nichts aus. Mein Geist ist die Einschränkung nicht gewöhnt und ich vermisse die beißende Ehrlichkeit von Noem sowie die Rücksichtnahme von Avna, die immer ihre eigenen Bedürfnisse der Gruppe hintenanstellt.

Hier sind alle darauf aus, sich zu profilieren. Das Beste aus sich herauszuholen, zu zeigen, was sie können, um die Lorbeeren zu ernten. Es ist wie ein gestochen scharfer Spiegel: Wenn man es sonst gewohnt war, in eine neblige, idealisierte Version von sich selbst zu blicken.

Und ich sehe Ehrgeiz und Egoismus, der ihm folgen muss. Wettkämpfe sind dazu gedacht, andere hinter sich zu lassen, sie zu übertrumpfen, um bessere Leistung bringen zu können und durch ihr Versagen noch mehr zu brillieren. Denn Sieg und Niederlage gehen Hand in Hand. Es kann keine Sieger geben, wo keine Verlierer existieren. Die Siegertreppe und sogar der kleine Schwarzsilber-Drache, sie beide sind aus den Scherben zerbrochener Träume gebaut. Und ich weiß, dass es nicht immer ich sein werde, die oben stehen wird.

Macht das den Moment des Sieges umso köstlicher und wertvoller? Das Bewusstsein, dass er nicht für immer ist? In seiner Zerbrechlichkeit ist er wunderschön.

Und ich schäme mich ein wenig, dass ich darin aufgehe. Doch niemand schimpft mit mir, weist mich zurecht oder legt mir nahe, auch an die anderen zu denken. Man beobachtet uns, erklärt uns die Spielregeln und solange wir diese nicht verletzen, können wir tun, was wir wollen.

Bei Mannschaftsspielen tendiere ich zu Fouls, wenn sich mir jemand in den Weg stellt. Ich kassiere gelbe und rote Karten. Manchmal sogar Verweise. Doch das alles nur im Rahmen des Spieles. Und so bilden sich für mich zwei Welten von der eine dominiert. Und es ist nicht die Welt, in der Noem mich versucht zu ärgern und Avna mir wie ein dressiertes Hündchen nachläuft.

Ich schäme mich erneut für diesen Gedanken. Tauche tiefer, um dem Bild von mir zu entkommen, von dem ich weiß, dass es hässlich ist. Die notwendige Ruhe vor den Gedanken finde ich nur, wenn ich laufe. Und ich werde dafür gelobt.

Von Trainer.

Von Avna.

Und auch von Noem, jedenfalls auf seine Weise.

Ich scheine bis aufs Laufen nichts zu können.

Avna dagegen ist kreativ. Sie hat seltsame, interessante und für mich unverständliche Dinge erschaffen. Meist nur digital, da nur die Profis mit echten Ressourcen arbeiten dürfen. Ich gehe nicht oft in ihre digitale Ausstellung. Doch jedes Mal, wenn ich die Zeit und den Mut finde, sind neue Stücke hinzugekommen.

Avna freut sich über meinen Sieg. Über meine Erfolge. Warum kann ich mich nicht von Herzen über ihre Entwicklung freuen? Weil sie mir davonrennt? Mich zurücklässt?

Noem ist schweigsam, was seine Kurse und seine Fortschritte betrifft. Doch die Zeichen, die er sendet, sind großartig. Mein kleiner Drache ist nur die Spitze des Eisberges von vielen kleinen Aktionen. Und er plant etwas Großes, das kann ich in dem Funkeln seiner Augen erkennen, wenn ich ihn sehe. Es ist schon eine Weile da. Ein Teil von mir freut sich darauf herauszufinden, was es ist. Der andere fürchtet den Moment.


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