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Karina – OP

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Ich schaffe ein System, in dem alle gleich sind. Ein System, in dem alle Bedürfnisse befriedigt werden, ohne dass die Umwelt darunter leidet. Ein System, in dem alle Ressourcen gelistet, gerecht verteilt und recycelt werden.“

Programmierer 2079

Ich spüre nichts. Die Schmerzmittel betäuben meine untere Körperhälfte völlig. Als bestünde mein Körper nur bis zu meinem Bauch. Es ist erschreckend. Der Gedanke, dass ich keine Beine habe und nie wieder laufen oder rennen kann, würgt den Lebenswillen aus mir heraus und wirft getrocknetes Laub und Holz in das Feuer meiner Panik.

Ich setze mich mühevoll auf, taste die Decke entlang und atme erleichtert aus, als ich darunter die Form meiner Oberschenkel mit meinen Fingern spüre. Sie sind da. Meine Beine sind da. Ich lasse meine Hände auf den Oberschenkeln liegen, hoffe so, die Panik unter Kontrolle zu bekommen. Eine irrationale Angst, das ist mir bewusst, und doch ist es schwer, gegen sie anzukommen.

Die Operationen davor brachten keine so großen Nachwirkungen mit sich und es ist das erste Mal, dass ich sie spüre.

Die Angst.

Ich frage mich, ob wir zu behütet aufwachsen. Zu behütet leben. Ich fühle mich wie ein rohes Ei, das auf den Boden zurast – kurz davor zu zerschellen.

Ist der Mensch wirklich so fragil? Es hat eine Zeit vor den Bots gegeben. Eine Zeit, in der die Menschen selbst für sich gesorgt haben. Sie hatten keine Roboter, die sie Tag und Nacht begleiteten.

Wann sind wir so schwach geworden? So zerbrechlich?

Ich muss lachen. Denn ich bin diejenige, die sich das hier angetan hat. Ich habe mich in dem Bewusstsein, dass meine Schale nicht dick ist und das sie aufplatzen wird, von dem sicheren Regal fallen lassen. In der Hoffnung, dass etwas kaputt geht.

Und es ist etwas kaputt gegangen: meine Hüfte. Sie war zertrümmert. Jetzt habe ich zwei neue Hüftgelenke. Offiziell wurde nur das linke Hüftgelenk repariert. Damit ich aber ausgeglichen Laufen und gute Leistung erbringen kann, hat Trainer den Ersatz beider Gelenke erlaubt.

Ich bin erleichtert. Das bedeutet einen Unfall weniger. Und das wiederum weniger Schmerzen.

Die komplette Taubheit meiner Beine, von der Hüfte abwärts, ist furchterregend. Ich hätte mir nie ausmalen können, wie viel Kraft es mich kosten würde, nicht wie ein Kleinkind loszuheulen und zu schreien.

Ich habe kein Problem mit Schmerzen. Doch die Taubheit ist für mich schwer zu ertragen. Hätte ich dieses Gefühl gekannt, hätte ich vielleicht nicht die Kraft gehabt, den Unfall durchzuziehen.

Schmerz bedeutet Leben, Fortschritt und Verbesserung. Taubheit ist das Gegenteil. Die Nicht-Existenz schlimmer als der Tod. Die Unfähigkeit, sich zu bewegen. Der Tod des Willens. Denn so sehr ich es versuche, wie sehr ich mich auch konzentriere, bewegt sich nichts. Nicht einmal mein kleiner Zeh.

Mit jedem Muskelkater werde ich schneller, besser und effizienter. So war es jedenfalls am Anfang. Bis ich an die Grenzen stieß. Ich war bereit den Sport aufzugeben. Mich damit abzufinden, dass ich nicht besser werde, egal wie viel ich trainiere. Jeder hat Grenzen. Doch als ich angefangen habe, dachte ich nicht an sie.

Habe ich überhaupt an Leistung gedacht?

Wann wurde das Ergebnis wichtiger als der Akt selbst?

Wann bin ich gelaufen, nicht um frei zu sein, sondern um schneller zu sein als das letzte Mal?

Ich kann es nicht sagen.

Könnte Trainer es? Ist in seinen Aufzeichnungen vermerkt, wann ich das Lachen verloren habe, den Spaß? Trainer registriert alles, archiviert und agiert entsprechend. Trainer hat mich nach den Vorstellungen meiner Eltern geformt, mir beim Aufwachsen geholfen, mich effizient gemacht, wo ich effizient sein wollte. Ich musste es nur sagen.

Er hat mein Trainingsprogramm zusammengestellt. Meinen Ernährungsplan perfektioniert. Mich perfektioniert. Bis es keine Luft nach oben mehr gab.

Ich bin schnell. Schneller als jeder andere in der Gemeinschaft oder den Gemeinschaften innerhalb eines Hundert-Kilometerradius‘. Und es hätte mir gereicht, wenn ich nicht über den Tellerrand geschaut hätte. Wenn ich ihm nicht begegnet wäre. Wenn ich nicht gestolpert und meine Sehnen irreparabel geschädigt hätte.

„Keine Angst!“, hat er gesagt und mich im Arm gehalten. „Keine Angst! Du wirst wieder laufen können. Und du wirst schneller sein als zuvor.“

Hätte ich das Laufen aufgegeben, wenn er mir nicht versprochen hätte, dass ich schneller werden würde? Hätte ich mich etwas anderem zugewendet, wenn ich nicht tatsächlich schneller geworden wäre?

Während ich meine Beine nicht spüre und im Bett liege, weiß ich, dass es nur eine weitere Grenze ist, die nach all den OPs auf mich wartet. Doch ich kann nicht aufhören. Nicht, bis diese Grenze erreicht ist.

Es ist eine Sucht. Ich weiß das.

Wird er am Ende, wenn die Grenze erreicht ist, auf mich warten? Wird er da sein und mich in den Arm nehmen und mir eine neue Grenze zeigen, auf die ich hinarbeiten kann?

Wie kann eine Begegnung – ein Lauf – ein ganzes Leben ändern, einen Körper? Meinen Körper?

Die Verbesserungen sind wie ein Rausch.

Mit jeder Operation werde ich effizienter, stärker, schneller, besser. Kann ich bei meinen Beinen aufhören? In welche Richtung werde ich gehen, wenn ich mich beim Laufen nicht mehr steigern kann?

Ich bin kein Mannschaftsport-Typ. Das habe ich früh erkannt. Dafür bin ich zu ehrgeizig. Ich weiß, dass mein Vater sich Ehrgeiz gewünscht hat. Es stand ganz oben auf der Liste der Wunscheigenschaften. Dank Noem weiß ich das. Oder wegen Noem? Könnte ich mich von dem Wissen trennen, wie von geliebten Laufschuhen, die ich irreparabel verbraucht und zerschunden habe, die ich zum Recyceln abgebe?

Wäre es leichter, wenn ich es nicht wüsste? Würde es etwas ändern?

Ein vorgeschriebener Plan meines Lebens. Es hat eine Schwere an sich und eine Leichtigkeit zu wissen, dass es nicht die eigene Entwicklung, Neigung oder gar Interessen sind, die einen zu dem gemacht haben, was man ist. Bei mir jedenfalls. Ich weiß, was man sich von mir erhofft. Ich weiß, wo meine Stärken liegen. Und das ist gut. In einer Welt, in der alles möglich ist, all deine Wünsche erfüllt werden, ist es gut, wenn man eine Richtung vorgezeigt bekommt.

Nicht alle Lebenspläne, wie ich sie heimlich nenne, sind eindeutig. Ich kenne nur Noems, Avnas und meinen. Und nur aus meinem ist ersichtlich, was ich kann und können werde. Auch wenn ich es nicht zeige, habe ich Mitleid mit Avna. Sie ist erschaffen worden, um schön zu sein und Kunst zu lieben. Mehr nicht. Keine bestimmten Talente, Fähigkeiten oder Neigungen. Kunst und Musik. Ohne Spezifizierung.

Noems Liste ist widersprüchlich, hat sich nach einem Kompromiss zweier Menschen angefühlt, die nicht unterschiedlicher sein könnten.

Ist er deswegen so seltsam geworden?

Seine LEE außer Funktion zu setzen, das passiert bei eifrigen Kindern schon mal. Besonders, wenn sie sich für Technik und Software interessieren. Aber nicht mehr in seinem Alter, nicht so und nicht dreimal in so kurzer Zeit.

Au-pair hat ihn noch nicht gemeldet. Sie ist sicher noch bei der Analyse und auf der Suche nach einer Diagnose. Doch wie oft wird sie es noch durchgehen lassen, ohne den Fehler nicht bei sich zu suchen, sondern bei Noem?

Ich möchte mir nicht ausmalen, was passieren würde, wenn Noem als Fehlfunktion eingestuft werden würde. Eine akribische Genkontrolle, flexible Protokolle in der Entwicklungsphase und Verhaltenskorrekturen verhindern jede Form von Geisteskrankheiten. Und es ist seit Jahrzehnten kein Fall mehr an die Öffentlichkeit gedrungen, der nachweisbar wäre.

Was man mit einem kranken Menschen machen würde, ist nicht ganz klar. Ich habe recherchiert, aber nur wenige Aufzeichnungen über die Maßnahmen in den Kliniken für Geisteskranke gefunden. Laut Noem machen sie uns nur Informationen zugänglich, die sie als ungefährlich einstufen.

Für mich eine sinnvolle Kategorisierung.

Fehlinformationen können gefährlich sein.

Propaganda hat in der Geschichte der Menschheit viel Schlimmes geschaffen. Eine Filterung der Informationen ist sinnvoll. Vor allem auch nach Interessen und allgemein wichtigen Informationen. Was soll ich mit Newsfeeds über den neuesten Rockschnitt, neue Trock-Kompositionen oder das Comeback von Sepia bei Fotographien?

Automatisch geht meine Hand zu dem Comkanal, der seit über einem Jahr leer ist. Mehr als Stille finde ich hier nicht. Keine Sprachnachricht, keine Texte. Als hätte es ihn nie gegeben. Als hätte er mein Leben nicht mit einer Berührung und wenigen Worten verändert.

Hektor von Towna.

Und als mich die Stille schmerzt, frage ich mich, was er für mich ist. Was ich für ihn bin … oder war. Und was ich für ihn empfinde. Ob er Gefühle für mich hat und ab und zu an mich denkt? Er ist in jedem Schmerz, den ich mir selbst zufüge.

Unvorsichtig zu sein ist einfach. Sich selbst so zu verletzen, dass eine Operation nötig wird, nicht. Doch unnötige Operationen werden nicht vorgenommen. Künstliche Prothesen bekommen nur die, die es nötig haben, deren Leben und Lebensweisen sonst eingeschränkt wären.

Die Tür zu meinem Zimmer geht auf.

Trainer erhebt sich von seinem Stuhl. Ich weiß, dass er nicht sitzen muss, dass sein künstlicher Körper rund um die Uhr stehen könnte, da er nicht müde wird. Mit einem Körper wie seinem, könnte ich für immer rennen, mich im Laufen verlieren und nie wieder an Grenzen stoßen.

„Wie geht es dir, Karina?“, höre ich Avna leise fragen und zu meiner Überraschung tritt hinter ihr Noem vor. Er sieht wütend aus.

„Warum bist du gekommen?“ Alle wissen, dass meine Frage nicht Avna gilt.

„Um zu sehen, wie viel von dir noch übrig ist“, erwidert Noem kalt und doch sehe ich Schmerz in seinen Augen. Ich ignoriere ihn, wie ich schon so vieles ignoriert habe. Wie das System ignoriert, dass ich mir die Verletzungen selbst zufüge. Ich bin mir sicher, dass Trainer es weiß.

Meine Eltern bekommen es nicht mit. Die Eingriffe sind schnell gemacht. Kunstfehler passieren nicht. Alles ist präzise und abgestimmt. Ein Medikbot nimmt den Eingriff vor. Die Heilung geht schnell, die Adaption der neuen Teile ist schneller. Zu sehen ist kaum etwas. Nur in meinem File sind die Änderungen nachzuvollziehen. Doch niemand schaut dort rein. Meine Eltern zu allerletzt. Mein Vater freut sich über die neuen Rekorde. Meine Mutter schreibt Artikel darüber.

Ich bin ihr Highlight, seit Vater an seine Grenzen gestoßen und vor allem, seit sein Köper gealtert ist. Meine Mutter ist glücklich, wenn sie über mich schreiben kann. Sie ist Sportreporterin. Meine Eltern haben sich kennengelernt, als mein Vater den Gemeinderekord brach und meine Mutter darüber berichtete.

Dank meiner Mutter kenne ich Hektors Namen.

„Es ist alles noch dran“, erwidere ich nach einer langen Pause auf Noems Gemeinheit.

„Das ist wohl Definitionssache“, wirft er hinterher und blickt auf den Boden, als würde es dort etwas Interessantes zu sehen geben.

„Wir haben dir Blumen mitgebracht!“, lenkt Avna in ihrer Harmoniebedürftigkeit ein.

Avna … Sie ist der schönste Mensch, den ich kenne. Ohne, dass sie sich dafür zurecht macht. In den Kindern sieht man die Tendenzen der Eltern, ohne ihnen jemals begegnet zu sein.

Ohne dass sich unsere Interessen auch nur tangieren, sind wir doch Freunde geworden. Ist es die geographische Nähe? Weil wir die Welt im selben Hort spielerisch kennengelernt haben? Zu einer Zeit, als die Interessen noch nicht wichtig waren? Als wir die Welt zum ersten Mal entdeckten und das Seite an Seite?

Im Hier und Jetzt, während ich meine Beine nicht spüre, wünsche ich mich zurück in die Zeit, als alles einfach und neu war. Bevor sich unsere Interessen und somit unsere Wege herauskristallisiert hatten. Ich wünschte, dass die unsichtbaren Wände, die sich zwischen uns gebaut haben – nein, die wir um uns gezogen haben –, nicht existieren würden.

Doch wer wäre ich, wenn ich nicht besessen wäre vom Laufen, von Zeiten, Rekorden und Leistungen? Wer wäre Noem ohne sein Hacken und Knacken, Programmieren und Erfinden? Wer wäre Avna ohne ihre Liebe zur Kunst, zur Musik und Malerei?

Machen unsere Interessen uns aus?

Mein Blick gleitet zu meinen bewegungslosen Beinen. Bald werde ich schneller laufen können als jemals zuvor, sage ich mir.

Wie lange noch, bis wir uns so weit auseinandergelebt haben, dass wir uns nicht mehr erreichen? Noch hält uns die Schule zusammen, der Unterricht. Doch was wird, wenn wir die allgemeinen Fächer nicht mehr brauchen und unsere Neigungsfächer vertiefen? Oder wenn einer von uns die Gemeinschaft wechselt, weil die Lebensart einer anderen passender für ihn ist?

Viele Gemeinden sind wie unsere: Ein nachbarschaftliches Zusammenleben ohne zu viel Interaktion. Doch in Gemeinschaftskunde lernen wir immer mehr Lebensweisen kennen. Spezifische Gemeinden sind seltener und liegen meist abseits.

Für mich ist die Gesellschaft der Zäune, über die man sich freundlich ein- bis zweimal am Tag zuwinkt, gut. So kann ich mich ganz auf mich selbst konzentrieren. Noem geht es ähnlich. Er braucht niemanden um sich und scheint sich im Netz wohlzufühlen. Auch wenn sein Verhalten mir seit einiger Zeit Rätsel aufgibt.

Doch Avna … Avna braucht Nähe. Direkte Nähe. Es gibt Gemeinschaften, die besser für sie geeignet wären. Ich habe ihre Augen leuchten sehen, als der Gemeinschaftslehrer von der Hippiegemeinde erzählt hat. Kinder werden dort von allen erzogen. Es gibt keine direkten, biologischen Eltern. Die Geburt eines Kindes kann natürlich vonstattengehen, oder in Brutkästen. Es werden keine Listen geschrieben und die Kinder sind eine natürliche Kombination aus dem Genpool zweier Menschen.

Ich erschaudere bei dem Gedanken an das Chaos der Zufälligkeit. Ohne Kontrolle fühle ich mich verloren. LEEs sind dort überflüssig und die Avatare bleiben virtuell.

Ich stelle mir eine Welt ohne Trainer vor und mir wird schlecht.

Gerade Avna, die eine so enge Beziehung zu ihrer LEE hat, dass ihr allein bei dem Gedanken, ihre Nanny könnte irgendwann nicht mehr da sein, Tränen in die Augen schießen, müsste diese Tatsache ebenso abschrecken. Was Avna braucht ist Nähe und in der Welt der Zäune und Eltern, die sich selbst verwirklichen, ist die LEE die einzige Quelle für Nähe.

Und Freunde. Je weiter wir uns voneinander entfernten, desto enger bindet sich Avna an ihre Nanny.

Für Noem wäre die virtuelle Gemeinschaftsmatrix passend. Die Bewohner verbringen die meiste Zeit in der virtuellen Computerwelt. Ihre Körper werden in Tanks aufbewahrt, die sie wie ein Mutterleib oder Brutkasten ernährt, während sie ihr Leben in der virtuellen Realität führen.

Beide Gemeinschaften liegen weit weg von dieser. Und ich frage mich kurz, ob ich Noem und Avna wegstoße, weil ich weiß, dass sie mich hier zurücklassen werden.

„Wie schlimm ist es dieses Mal?“, frage ich, mehr um mich abzulenken, als dass die Antwort mich wirklich interessiert.

Noem schweigt. Als Kind war er redselig, hatte immer einen Spruch auf den Lippen. Jetzt bekommt er kaum einen Satz heraus. Nur seine Augen klagen mich täglich an. Weil ich nicht bin, wie er mich gerne hätte.

Avna antwortet an Noems Stelle. „Ihr Körper wird zur Recyclingstation gebracht.“

„So schlimm also … Was hast du nur mit Au-pair gemacht? Du kannst deine Wut nicht immer an ihr auslassen“, sage ich und weiß nicht warum. Es geht mich nichts an.

„An wem sonst? An mir selbst, so wie du es tust, oder an dir?“, erwidert Noem zornig und verletzt mich mit diesen Worten. Er sagt mir so direkt wie es geht, dass er es weiß. Dass er weiß, warum ich so oft verletzt bin. Ich blicke ihn streng an. Er darf es nicht aussprechen. Wenn er es trotz Trainers Anwesenheit vollends ausspricht, wird es Konsequenzen haben. Dann bin ich es vielleicht, die in eine Anstalt wandert.

„Wie wäre es, wenn du es an der Person auslassen würdest, die für deine Wut verantwortlich ist?“ Und als sein Blick meinen trifft, weiß ich, warum er es getan hat.

Ein Blick. Mehr braucht es nicht. Ich bin nicht dumm. Ich habe bemerkt, dass er mich mit anderen Augen ansieht. Wann es passiert ist und was es hervorgerufen hat, kann ich nicht sagen. Doch ich weiß, dass er mehr in mir sieht als eine Freundin.

Und das macht ihn wütend. Er ist zornig darüber, dass er ein verrücktes Mädchen mag, das sich nach und nach in einen Roboter verwandelt, um schneller laufen zu können. Um vor sich selbst davonlaufen zu können.

Und sein Zorn macht mich wütend. Wären meine Beine nicht taub und nutzlos in diesem Moment, würde ich davonrennen. Es ist mein Körper, meine Entscheidung und mein Leben. Er hat kein Recht, meine Entscheidungsfreiheit durch seine Gefühle einzuschränken.

Deshalb sage ich kalt: „Ich habe dich nicht darum gebeten. Wenn du nicht damit zurechtkommst, wie ich bin und wie ich mich entwickelt habe, sollten wir vielleicht keine Freunde mehr sein.“

„Es war ein Fehler herzukommen“, sagt Noem, dreht sich um und geht.

„Versuch‘ niemanden auf deinem Nachhauseweg zu töten!“, rufe ich ihm in meiner Dummheit und meiner Gemeinheit hinterher. Er dreht sich nicht um, erwidert aber: „Du meinst ermorden.“ Dann fällt die Tür hinter ihm zu.

Ich bin alleine mit Avna. Von Trainer und Nanny abgesehen.

„Du weißt, dass er sich nur Sorgen macht? Um dich Sorgen macht?“, flüstert Avna.

„Er sollte sich um sich selbst Sorgen machen. Wenn er sich nicht unter Kontrolle bekommt, werden seine sie Maßnahmen ergreifen, wenn sie eine Gefahr für die Gemeinschaft erkennen.“

„Noem ist nicht gefährlich! Er ist wütend und sieht in Au-pair das, in was du dich seiner Meinung nach verwandelst“, entfährt es Avna. Sie ist selten so direkt.

„Du gehst jetzt besser auch, Avna.“

Avna nickt nur, dreht sich um und verlässt mein Krankenzimmer.

Ich bleibe zurück und überlege, ob es jetzt anders wäre, wenn ich Hektor nie begegnet wäre. Wenn ich ein anderes Interesse entwickelt und mein Vater nicht an erster Stelle Ehrgeiz geschrieben hätte.

Natürlich. Natürlich wäre ich jemand anderes. Und ich wäre nicht ich.

Trainer setzt sich wieder hin. Ich schließe die Augen und träume vom Laufen.


Utopia - Die komplette Reihe

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