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Noem – Geheimnisse

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Mein System ist nicht perfekt. Nichts, was existiert, kann perfekt sein. Doch es ist gut und es wird lernen und sich euren Bedürfnissen anpassen.“

Programmierer 2070

Der Grund, warum ich nicht begeistert über meine ersten Stunden in meinem neuen Neigungsfach schwärmen kann, ist einfach. So einfach, dass es lachhaft ist. Und so unerwartet, dass es mir peinlich ist. Daher werde ich es nie laut aussprechen. Niemals!

In den Pausen und auf dem Nachhauseweg, wenn Karina und Avna über die neuesten Entwicklungen in ihren Klassen erzählen, höre ich schweigend zu.

„Noem, erzähl doch mal von deiner Klasse!“, fordert mich Avna auf, damit ich mich nicht ausgegrenzt fühle.

„So schlimm kann es doch nicht sein. Oder ist es so langweilig, dass wir beim Zuhören einschlafen würden?“, neckt mich Karina.

Nachdem ich nach zwei Wochen immer noch nichts erzähle, hartnäckig schweige, passiert es und meine Welt zerbricht. Au-pair hat mich bereits viele Male verraten. Wenn ich etwas angestellt habe, hat sie mich bestraft oder an meine Eltern verpetzt. Doch das ist in Ordnung. Sie ist eine Aufsichtsperson und auch wenn ich nicht gerne bestraft werde, sehe ich die Notwendigkeit der Grenzen.

Wenn die Gefahr des Erwischens nicht wäre, würde das Übertreten keinen Spaß machen. Und ich sehe es sportlich – mal gewinnt man, mal verliert man. Doch es ist das erste Mal, dass Au-pair ein Geheimnis frei lässt, von dem ich nicht wusste, dass sie es kennt. Das so intim ist, dass ich es mit niemandem teilen möchte. Vor allem nicht mit Karina und Avna.

„Ich mache mir Sorgen, Noem. Erzähl etwas, irgendetwas!“, schnieft die Heulsuse Avna und will schon losplärren, als Au-pair gerade den Mund aufmacht und mein Geheimnis ausspuckt, als handle es sich nur um einen zu lange gekauten Kaugummi, der seinen Geschmack verloren hat.

„Noem vermisst euch. Seine sozialen Kontakte sind mehr als ausbaufähig. Die Kinder um ihn herum verstehen seine spielerischen Bemerkungen als Beleidigungen und er greift immer wieder auf das Hologramm von euch dreien zurück, das wir letzten Frühling aufgenommen haben.“

Als mich Karina und Avna ungläubig anblicken, fühle ich mich verraten. Zum ersten Mal in meinem Leben wird mir bewusst, dass ich nie Geheimnisse haben werde. Dass Au-pair immer alles über mich wissen wird.

Seit heute weiß ich auch, dass sie meine Geheimnisse weitergeben wird, wenn sie es für notwendig erachtet.

Der Schock betäubt mich, ich drehe mich um und renne weg. Renne, so schnell ich kann. Ich kann Karina jedoch nicht davonrennen. Sie atmet nicht mal schwer, während ich keine Luft mehr bekomme und wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Sauerstoff japse. Als trainierte Sportlerin, hat Karina noch die Kraft, meinen Arm zu packen und mich herumzuwirbeln.

Ihr Griff ist stark und in ihren Augen sehe ich keine Tränen. Sie blickt mich ernst an und sagt: „Wir vermissen dich auch. Ich vermisse dich. Deine beißenden Kommentare, wie du Avna auf die Palme bringst und wie du es immer wieder bei mir versuchst. Deine klugen Kommentare, deine witzigen Analysen von komplizierten Dingen. Die in deiner Gruppe werden schon noch erkennen, dass du ein guter Freund bist. Dass du zwar selbst beleidigend sein kannst, aber niemand anderen etwas Schlechtes über deine Freunde sagen lässt.“

Karina ist größer als ich, das war sie schon immer, und die wahre Bedeutung davon verstehe ich vielleicht zum ersten Mal in diesem Augenblick. Sie beugt sich leicht herunter und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

„Der ist von Avna“, sagt sie, die Wangen leicht gerötet. Dann macht sie ein Kreuz auf meiner Schulter und boxt mit aller Kraft auf die Markierung – Karina hat viel Kraft.

Ich schreie vor Schmerz und funkle sie an.

„Der ist von mir“, schiebt sie hinterher und grinst frech.

„Das wirst du bereuen!“, schimpfe ich.

„Dafür musst du mich erst fangen!“, lacht sie und rennt los. Noch außer Atem laufe ich hinterher. Kann aber nur hilflos zusehen, wie sich der Abstand zwischen uns immer weiter vergrößert. So lange, bis sie stehen bleibt, sich umdreht und ruft: „Wo bleibst du denn, du Schnecke? Avnas Nase ist bestimmt vom vielen Heulen schon rot wie eine Tomate.“

Ich zwinge meine müden Beine weiter voran und denke an den Kuss. Es fühlte sich nicht an, als wäre er von Avna. Es fühlte sich an, als wäre er von Karina.

Der Unterricht ist nicht langweilig, aber auch nicht so weltbewegend wie Karinas oder Avnas Klassen. Fehlt mir die Leidenschaft, das Interesse? Wir machen coole Sachen, lernen, wie man programmiert. Wie wir einen Teil der Welt, in der wir leben, unseren Wünschen anpassen können.

Und es ist ein großer Teil, ein wichtiger. Siebzig Prozent aller Kommunikation läuft auf Comkanälen ab oder in Chatrooms. Alle Unterhaltungsmedien finden im virtuellen Raum statt, auch die für Kinder. Abenteuereisen, Gesellschaftsspiele, Rollenspiele, Konzerte und sogar viele Sportarten. Auch das, was Erwachsene machen und nicht wollen, dass ihre Kinder davon wissen. Es gibt viele Standardkanäle, die man sich durch feste Module nach eigenen Wünschen einrichten kann. Ich werde bald schon selbst neue Räume kreieren können und noch vieles mehr. Mich durch Daten bewegen, die anderen verschlossen bleiben. Informationen sehen, die niemand anderes erahnen kann.

Ich werde Programme ändern, sie besser machen können oder einfach nur verändern, meinen Wünschen anpassen. Ich werde ein Programmierer, eine Art Gott. Und ich freue mich auf das Ergebnis. Ich freue mich auch auf den Weg dorthin. Ich lerne gerne Neues. In diesen Momenten, wenn ich begreife, macht das Leben einen Sinn, dann ist meine Existenz gerechtfertigt.

Doch das Niveau des Unterrichtes ist nicht das, was ich erwartet habe. Alles ist einfach. Begriffen habe ich das meiste nach dem ersten Mal bereits. Einige brauchen länger und ich bin genervt, beschäftige mich mit anderen Dingen, während meine Klassenkameraden noch an ihren ersten Versuchen scheitern, ein interaktives Puppenspiel zu programmieren.

Ich denke an Karina und meine Finger springen übers Display, suchen nach Daten zu den Figuren, die Karina als Belohnung bekommt. Zuerst die Definition, dann die verschiedenen Varianten, die existieren. Kurz darauf bin ich in der Datenbank, in der die personalisierten Figuren programmiert werden. Schnell finde ich Karinas Slot und verändere das Aussehen der Miniaturwesen.

Aus Feen werden Zombies, aus Einhörnern Drachen und aus Pandabären Wölfe. Ich programmiere Sprüche in sie und stelle mir Karinas Gesicht vor, wenn ein feuerspuckender Drache anstelle eines Regenbogen-pupsenden Einhorns auftaucht und sie anpöbelt mit: „Du läufst so schnell wie eine auf dem Rücken liegende Schildkröte auf Speed!“

Ich bin so vertieft, dass ich nicht bemerke, wie die Zeit verfliegt. Die Unterrichtsklingel reißt mich aus meinen Gedanken und ich verstehe, warum ich keine Freunde finde. Alle sind so in ihr Programmieren vertieft, dass sie die Welt um sich herum vergessen. Zum ersten Mal kann ich es nachvollziehen. Empfinde Freude, wenn ich an die Früchte meiner Arbeit denke.

Ich bin auf Karinas Kommentar gespannt.


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