Читать книгу Utopia - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider - Страница 12
Avna – Liebe
Оглавление„Wie sähe eine Welt aus, in der wir uns nicht nach den gesellschaftlichen Normen richten, sondern in der wir die Gesellschaft nicht nur formen, sondern in der wir die Gesellschaft sind? Ich habe den Weg gefunden. Folgt mir und ich bringe euch in eine Welt, die ihr nach euren Wünschen anpassen könnt.“
Programmierer 2073
Weder Noem noch Karina kontaktieren mich. Und ich wahre die Stille. Es ist eine heilende Stille. Ich weiß, dass beide verletzt sind. Für mich ist es auch nicht einfach, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Also ziehe ich mich zurück in mein Zimmer und arbeite an einem Projekt. Ein weiteres Bild für meine virtuelle Galerie.
Doch anstatt mich wie sonst von der Musik führen zu lassen, arbeite ich im Stillen und lasse meinen Gedanken freien Lauf, versuche mich und meine verletzten Gefühle zu verstehen.
Warum bin ich verletzt? – Weil ich nicht unter Kontrolle habe, was meine angezüchteten Eigenschaften sind? Weil meine Eltern mein jetziges Ich durch eine Liste geformt haben? Auch bei natürlichen Zeugungen und Geburten ist es die DNA der Eltern, die über Aussehen und Talente, Krankheiten und Stärken entscheidet.
Durch die Brutkästen gehen wir sicher, dass die Kinder alle gesund sind und die Mütter es bleiben, sie keinem Stress ausgesetzt werden.
Ich verstehe meine eigenen Argumente, stimme ihnen zu, und doch ist ein Teil von mir immer noch verstimmt.
Ist es wegen der Dinge, die auf der Liste stehen? Ich habe nur einen kurzen Blick darauf geworfen, dennoch haben sich die Worte in meine Gedanken gefressen. Indifferent und aufs Äußerliche beschränkt mit weiten Neigungen zur Kunst und Musik. Beides breite Felder, in denen ich mich in verschiedene Richtungen entwickeln kann.
Und doch ist ein Teil von mir über die Oberflächlichkeit der Liste erschrocken und ich frage mich, ob ich selbst ebenso oberflächlich bin. Ob ich nicht mehr bin als eine schöne Hülle, die sich wie ein Chamäleon anpasst.
Ich bin nicht einsam.
Ich vermisse zwar Noem und Karina oft, aber nicht, weil ich niemand anderen habe. Meine Gruppe ist offen und in ihrem ständigen Bestreben, kreativ zu sein, agil und fließend.
Noch sind wir nicht der Sucht nach Applaus erlegen. Noch finden wir uns selbst in der Suche nach unserem Medium, unserer eigenen Kunst. Wir sind bereits jetzt schon unterschiedlich wie Wolken und Zuckerwatte, Sonnenschein und Neonröhren.
Ein bitterer Nachgeschmack bleibt auf meiner Zunge zurück und ich finde in einem seltsamen Gedanken Trost, den ich wie eine Decke um mich schlinge.
Ich bin ich selbst, denn ich bin zu etwas anderem geworden, als Mutter es sich erhofft hat. Ihre Enttäuschung über meinen Musikgeschmack, meine Kunst, gibt meiner Persönlichkeit einen Anker. Und ich kann nur über diese Ironie lachen.
Meine Brille fährt aus und zeigt einen ankommenden Com. Meine Wangen brennen, als ich den Namen lese.
Es ist Lean.
In meinem Eifer streiche ich mir übers Haar, klatsche mir auf die brennenden Wangen. Obwohl ich weiß, dass mein Avatar im Chatroom perfekt aussehen wird, bin ich nervös.
Lean ist der beste Maler in unserer Gruppe. Seine Technik ist perfekt und seine Werke voller Ausdruckskraft, lebendig und so fantasiebeladen, dass meine Bilder mir im Gegensatz dazu wie die Kritzeleien einer Dreijährigen vorkommen. Strichmännchen im Vergleich zu epischen Werken.
Lean ist der Erste, dem man die Arbeit mit richtigen Leinwänden erlaubt. Mit echten Pinseln und Farben. Ich bezweifle, dass ich je diesen Status erlangen werde.
Seit ich sabbernd in seiner virtuellen Galerie stand und stammelnd versucht habe, meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, kommt hin und wieder ein Com von ihm rein und jedes Mal fühlt es sich an, als würde mein Herz dabei zerspringen.
Nanny nennt es Verliebtheit.
Bin ich verliebt?
„Hallo, Avna“, begrüßt mich Leans Avatar. Er ist so perfekt wie seine Bilder. Eine Wiedergabe seiner natürlichen Schönheit. Das blonde, wallende Haar, die himmelblauen Augen. Die breiten Schultern. Nur die Narbe fehlt. Sie besteht eigentlich aus einer dünnen Linie, die sich über seine Wange zieht. Meist trägt er die Haare offen, so dass sie ihm ins Gesicht fallen und die Narbe verdecken. Immer wenn ich sie sehe, weiß ich, dass ich mich in der Realität befinde. Dass die Welt um mich herum echt ist.
Wenn ich jetzt in das perfekte Lächeln blicke, die zurückgebundenen Haare und die makellose Haut betrachte, weiß ich, dass das alles nicht echt ist. Ich schließe die Augen und stelle mir den wahren Lean vor, visualisiere die Narbe und erinnere mich daran, dass es Lean ist, der echte Lean, der sich hinter dem Avatar irgendwo verbirgt und mich angewählt hat.
„Ha… Hallo, Lean …“, stottere ich unsicher und bin erleichtert, dass mein Avatar nicht rot wie eine Tomate wird. Wenn ich jetzt in den Spiegel sehen würde, hätte mein Gesicht sicher die gleiche Farbe wie meine Haare.
„Ich wollte dir mein neues Bild zeigen … Natürlich nur, wenn du es sehen willst“, fügt er schnell hinzu.
Ist Lean auch nervös? Allein der Gedanke an diese Möglichkeit ist atemberaubend und mein Herz erreicht eine neue Frequenz.
„Sehr gerne!“, platzt es mir unbeholfen heraus.
„Das freut mich. Ich schicke dir den Link zu meinem privaten Atelier und warte dort auf dich.“
Ich nicke nur stumm, sehe den Link aufleuchten und berühre ihn ehrfürchtig. Dann betrete ich die Welt von Lean. Es handelt sich um keinen Chatroom. Es ist auch nicht seine öffentlich zugängliche Galerie. Es ist tatsächlich sein privates Atelier. Hier entstehen seine digitalen Werke und ich sauge jede Information in mich auf.
Der Raum ist hell und scheint nur aus Fenstern zu bestehen. Wie ein Wintergarten. Die Sonne fällt von allen Seiten in den Glaskubus ein. Ein blauer Himmel und ein idyllischer Garten, perfekt gepflegt und symmetrisch angeordnet, doch dezent und nicht aufdringlich, rücken in den Hintergrund. Eine riesige Leinwand steht auf einem Stativ mitten im Raum und ich gehe hypnotisiert darauf zu.
Rotes wallendes Haar, das trotz seiner Wildheit eine Ordnung zu haben scheint. Blaue Augen mit einem Stich Violett und eine perfekte Haut, fast so weiß wie Marmor. Es ist nur ein Gesicht.
Es ist mein Gesicht.
Und doch nicht.
Lean hat mich gemalt. So wie er mich sieht. Und ich sehe in seinen Augen perfekt aus. Wie eine unantastbare Göttin.
„Das ist wunderschön, Lean“, hauche ich und vergesse nervös und ungeschickt zu sein.
„Du bist wunderschön!“, flüstert er in mein Ohr. Er steht direkt hinter mir und ich fühle seinen Atem in meinem Nacken.
„Ich würde gerne den Rest von dir malen. Den Pinsel jede deiner Kurven ertasten lassen. Darf ich dich malen, Avna?“
Ein Schauder jagt über meinen Rücken und ich nicke stumm. Leans Arme schließen sich von hinten um mich, öffnen langsam die Knöpfe meines Arbeitskittels, den ich vergessen habe umzuwandeln. Und als er zu Boden fällt, stehe ich nackt vor ihm.
Lean tritt vor mich, streckt mir seine Hand hin und ich lege meine vertrauensvoll in seine. Er führt mich in die Mitte des Raumes. Die Sonne geht gerade unter. Wir sind umgeben von Sternen. Sanftes Licht erleuchtet jede Kurve meines Körpers und Lean steht einfach nur da, sieht mich eine Ewigkeit an. Dann greifen seine Finger zum Pinsel.
Ich schaue ihm fasziniert zu und stelle mir vor, dass alles um mich herum echt wäre. Dass ich in der Realität nackt vor ihm sitze und er mich malt. Ich vermeide es, auf seine Wange mit der fehlenden Narbe zu blicken, will mich dem Trug hingeben, dass dies hier real ist und nicht nur ein virtuelles Spiel.
Er könnte das Bild einfach digital kopieren und mich malen. Doch ich sitze hier und sehe zu, wie er malt. Wie er mich malt.
Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis er seinen Pinsel hinlegt und auf mich zugeht. Seine Hände umschlingen mich, dann zieht er mir meinen Kittel über die Schultern und knöpft ihn zu.
„Du bist wunderschön … Du bist perfekt, ein Meisterwerk“, sagt er und blickt mir in die Augen.
Ich sollte mich über seine Worte freuen, will mich über seine Worte freuen. Also lächle ich und schlucke den bitteren Geschmack herunter. Ich ignoriere das Echo in meinem Kopf, das ein Meisterwerk zu einem künstlichen Ding verformt.
„Irgendwann kannst du mich vielleicht wirklich malen. Meinen wahren Körper auf einer realen Leinwand“, versuche ich mich an dem Gedanken zu erfreuen und den bitteren Geschmack zu überdecken.
„Das hier ist genau richtig. Es ist perfekt. Es gibt nichts in der Realität, das dies hier übertrumpfen kann“, erwidert Lean.
Und bevor ich protestieren kann, sind seine Lippen auf meinen. Obwohl das hier nicht echt ist, nicht real, prickelt mein Körper und Blitze zucken durch meinen Unterleib. Wenn das hier virtuell ist, wie fühlt es sich dann erst in der Wirklichkeit an?