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In der Wüste

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Im Garten lag ein Viereck, begrenzt von Eisenbahnbohlen, auf denen man saß, wenn man nicht stand, um alles im Blick zu haben. Vier Vaterschritte mal vier Vaterschritte Länge und Breite, ein großes Gebiet aus Sand für vier Töchter. Es lag unter dem Mirabellenbaum.

Die Kinder waren selten gemeinsam dort. Jutta und Barbara fanden sich schon zu groß, sie spielten mit den Nachbarsjungen Autorennen. Marie behauptete: Katrin ist noch zu klein für den Sand, sie kann nicht backen, nicht bauen, sie muss in der Küche bleiben.

Doch sie selbst war draußen. Es war im großen Garten eine kleine Wüste.

Wer sie betrat, der wurde verwandelt.

Es war ein kleiner Mensch in einer großen Wüste. Marie zog dort als Wanderer umher. Sie war mit ihren Freunden unterwegs, den hellen harten Mirabellenkernen. Es gab keinen Weg, nur Massen von Sand, die eine Gruppe wandernder Kerne leicht verschütten konnten. Die Kerne legten kaum Spuren. Sie keuchten unter der Wüstensonne. Sie verloren sich mitunter aus den Augen. Mancher Kern verschwand, um nie wieder das Licht des Tages zu sehen. Eine helfende Hand kam von oben, um die höchsten Berge zu ebnen. Die Hand hielt eine Schaufel und bahnte den Kernen Wege. Die Wanderer sollten nicht lebenslänglich durch die Wüste irren. Man musste sie verwandeln, um sie zu erlösen.

Alles war in Verwandlung begriffen. Ein verbotener Apfel machte weise. Wasser wurde zu Wein. Eine ungehorsame Frau erstarrte zur Säule aus Salz. Fünf Brote und zwei Fische machten fünftausend Männer satt. Eine Schlange wurde verurteilt, künftig auf dem Bauch zu kriechen. Der Menschensohn war ein Lamm, daher wurde Blutrotes weiß wie Wolle.

Marie wusste von diesen Dingen, denn in der Kirche gab es Geschichten und Lieder darüber, und die Eltern erzählten. Auch Mamatschi, Vaters Mutter, sprach oft von Geheimnissen, die seltsam waren, denn man sollte sie nicht bei sich behalten, sondern in alle Welt verbreiten. Schwerter konnten Flammen schlagen. Bei Lämmern lagerten Löwen. Es gab keine Wüste in einem Garten, sondern umgekehrt, einen Garten in einer leeren Wüste. Im Anfang war die Leere. Dann wurde ein Garten angelegt. Gott setzte die ersten Menschen hinein. Es gab auch viele Tiere, Bäume und einen Fluss.

Marie kam mit der Arbeit nur langsam nach. Es waren sieben Kinderschritte in Länge und Breite. Ihre Kerne stapften durch die Wüste, sie hatten zwar eine Straße, aber die führte ins Nichts. Die Kernleute kullerten einen Hang hinab, versuchten den Aufstieg auf einen nächsten Hügel mit Schwung und rutschten zurück. Marie beschwor ihre Männer, wir müssen den Garten erreichen, dort gibt es Wasser und Äpfel für alle. Der gemeinsame Zug wurde größer. Haselnüsse als Lämmer, auch Kamele und Löwen kamen dazu, später sogar zwei Autos. Ihre Namen: Onkelchen und Babel. Die Kerne waren nun Kinder. Marie schuf einen Garten aus Blättern und Gras, ließ es reichlich aus Wolken regnen. Da wurde ihr Garten zu Matsch. Er verschlammte, schwamm davon, versickerte. Sie sah, dass es schlecht war. Ein böser Apfel zischelte mit gespaltener Zunge. Ihre Kernleute in der Wüste drohten zu verzagen. Die Kinder weinten und schrien. Marie eilte zu ihnen und setzte alle auf einen Hügel, auf dem zu ihrer Freude Blumen Schatten spendeten. Da lachten alle und hielten Picknick. So konnte sie sich wieder dem Gartenbau widmen. Frisches Gras und neue Blätter. Stöckchen als mäandrierender Fluss. Sie gebot den Wolken, bedachtsam zu regnen. Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt. Außerhalb des Gartens sorgte sie für glatte Wege und machte das Krumme gerade. Die Gruppe wanderte weiter. Es war ein langer Zug unterwegs durch die Wüste, ein Lkw war dazugestoßen, er trug die erschöpften Kerne und Greise. Onkelchen, Babel und Marie gingen vornweg, um den richtigen Weg zu finden. Zogen durch eine tiefe Schlucht, die über ihnen einstürzen wollte. Schon war der Weg versperrt, sie waren gefangen. Die Räder des Lkw wühlten vergeblich im Sand. Die Gruppe sollte lebendig begraben werden für all ihre Sünden. Die Leute fielen auf die Knie und beteten an. Es regnete Steine vom Himmel. Babel wurde zerstört. Da endlich hatte Marie ein Einsehen und machte alles wieder gut. Die Leute zogen hoffnungsvoll dahin, auch Babel war auferweckt worden. Der Weg war mit Blumenblättern bestreut. Ein guter Apfel ernährte alle, und sie tanzten zur Schalmei. Babel und Onkelchen lieferten sich ein Autorennen. Marie war Onkelchen. Babel war klar im Vorteil. Maries eines Vorderrad eierte, aber sie holte den Sieg. Doch neues unbekanntes Unheil drohte.

Mutter rief aus dem Küchenfenster, Mittagessen, Marie!

Die Gruppenleute durften sich nicht umdrehen. Sonst würden sie zu Salzsäulen erstarren. Die Wüste war totenstill und ganz und gar reglos. Marie wurde klein wie ein Kern. Unauffindbar zog sie ihre Straßen.

Sie saß auf den Eisenbahnbohlen. Durch die Hand ließ sie den Sand rieseln.

Sie war ein Mirabellenkern in einem Garten.

Am Fuß des Berges rasteten die Wanderer. Sie mussten essen, damit sie nicht hungers starben. Doch sie hatten nur den falschen Apfel für fünftausend Sünder. Da aßen sie sich gegenseitig auf. Aber ein Wunder geschah, so wurde alles Blutrote weiß wie ein Lamm. Die Kerne waren kleiner und größer, als sie es waren.

Marie ließ es rieseln, bedeckte sich ganz mit Sand.

Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt

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