Читать книгу Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt - Sabine Peters - Страница 8

Der Schutz der Großmutter

Оглавление

Mamatschi lag mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett. Ihre Daumen drehten sich. Marie stand auf dem Sessel, sah aus dem Fenster. Man hatte einen Überblick den ganzen Hügel runter, sah Rübenfelder, die Straße, auf der Weide daneben grasten Bauer Weilers Kühe. Marie spielte Autos zählen, aber es fuhr kaum eines den Hügel rauf oder runter. Fünf, sagte sie schließlich.

Sie holte Mamatschis Pantoffeln und ließ sie als Autos über die Fensterbank fahren. Sie knibbelte am Holzlack des Fensterrahmens. Puhlte an dem kleinen Loch der Kopfstütze des Sessels. Sah eine Fliege, die wieder und wieder gegen das Fenster dotzte. Sie nahm eines von Mamatschis Haarnetzen und schnupperte. Ein bitterer Geruch. Sie spannte das Netz, um die Fliege zu fangen, aber die ging nicht rein. Sie spielte mit sich selbst das Spiel von Taler, Maler, Kühchen, Gänschen, Ränzchen, Killewänzchen. Schließlich sah sie sich nach der Großmutter um: Schläfst du? Mamatschi sagte, ich ruhe. Aber das Daumendrehen hatte aufgehört.

Draußen ging die Wandergrete mit schnellen festen Schritten den Hügel herunter. Immer war sie auf den Straßen unterwegs, lief von Dorf zu Dorf, so war es, so würde es bleiben. Vater nannte sie unsterblich. Die Wandergrete war vielleicht so alt wie Großmutter, vielleicht auch nicht. Sie wirkte unheimlich, obwohl sie immer lächelte. Das war, weil ihr Gesicht aus Holz gemacht war.

Eine Fliege landete auf dem Kinn der Großmutter, sie schlug danach und öffnete die Augen. Mamatschi, bat Marie, bitte lies mir vor. Draußen kommen keine Autos.

Die Großmutter sah nach der Uhr, setzte sich langsam auf.

Marie zog ihr die Pantoffeln an, die eben noch Autos gewesen waren.

Mutter kam ins Zimmer, brachte Mamatschi eine Tasse Kaffee und Marie ihre Puppe Lieschen. Ihr drei passt gut aufeinander auf, ich fahre jetzt mit Katrin in die Stadt, sagte sie. Dass ihr mir kein Theater macht.

Vater war im Auto unterwegs mit Barbara und Jutta, sie suchten nach Spuren der alten Römer. Er schrieb darüber Aufsätze für Zeitschriften. Sein Beruf hieß freier Journalist. Vorher war er beim Eisenwalzwerk Rasselstein bei wertvollen alten Papieren gewesen, sein Raum hieß Archiv. Aber dann fand er, sein Chef war ein dummer Frühstücksdirektor und die Arbeit für ihn ein Dreck ohne Ende. Er hatte den Dreck gefeuert und folgte lieber den Römern. Jutta und Barbara mussten oft mit ihm fahren, auch wenn sie nicht wollten.

Mutter verschwand mit Katrin auf der Dorfstraße in Richtung Bushaltestelle.

Marie sah, wie der Bus den Hügel runterfuhr und winkte ihm nach. Sie streichelte den Gummibaum. Sie saß mit Lieschen im Sessel und fand es zu still im Zimmer. Mamatschi sagte, Courage. Du wirst schon sehen, die anderen kommen wieder. Sie gab Marie zur Beruhigung ein Stück Schokolade, griff nach einem Buch und setzte sich in ihrem Sessel zurecht. Sie trank einen Schluck Kaffee, schloss die Augen, schlug das Buch aufs Geratewohl auf. Sechzehnter Oktober, rief sie, der Tag meiner Namenspatronin! Wo ist meine Brille?

Beide kannten die Geschichte beinahe auswendig. Marie ließ ihre Puppe Purzelbäume schlagen, hörte der Großmutter zu: Die heilige Hedwig war eine Grafentochter und ging schon als Kind in ein Kloster. Dort lebten fromme Nonnen, die sie erzogen. Hedwig war noch jung, gerade zwölf Jahre alt, da wurde sie verheiratet. Der Herzog ging mit ihr nach Schlesien, das liegt im fernen Osten, im Herrschaftsgebiet der Kommunisten. Hedwig schenkte sieben Kindern das Leben und musste doch manche verlieren. Aber sie lobte Gott und klagte nie. Nach zweiundzwanzig Jahren Ehe lebten sie und ihr Mann enthaltsam. Sie gründeten eine Abtei. Hedwig half den Armen, wo sie konnte. Sie kasteite sich, das heißt, sie ging im Winter barfuß. Da ermahnte sie der Bischof, du musst Schuhe tragen. Mamatschi fragte, warum wohl? Lieschen schlug den Purzelbaum rückwärts. Hedwig holt sich barfuß im Schnee den Tod, sagte Marie. Mamatschi fragte, und was tat die heilige Hedwig? Sie gehorchte, trug die Schuhe, aber in der Hand. Marie hatte diesen Teil der Geschichte noch nie verstanden. Gab Hedwig ihre Schuhe nicht den Armen? Mamatschi sagte, hier steht nur, sie machte sich den Armen gleich. Marie stand auf und sah im Buch das Bild der verschleierten Frau, sie hatte einen gelben Reifen um den Kopf, das Zeichen ihrer Heiligkeit, und sie hielt Schuhe in der Hand. Lieschen verliert ihre immer, sagte Marie, die sind ihr zu groß.

Sie blätterte im Buch der Namenspatronen. Viele waren Märtyrer, die hatten ihr Blut für den Herrn Jesus gegeben. Bunte Bilder, Stephanus wurde gesteinigt, Sebastian durchbohrt von Pfeilen, die er vorerst überlebte. Maria war die Königin der Märtyrer, obwohl sie ganz natürlich starb und dann sofort, ganz ohne Prüfung und Gericht, in Gottes Reich einging. Sie hatte zwar keine Schläge und Wunden am Leib empfangen. Aber ein scharfes Schwert des Schmerzes hatte ihr die Seele zerfetzt. Das war, als sie erleben musste, wie ihr Sohn den Kreuztod duldete, um die Menschen zu retten.

Marie war nicht Maria, sie war keine Königin der Märtyrer so wie die Mutter Gottes. Aber Marie hatte noch einen zweiten Namen. Sie bat Mamatschi, lies mir von Agnes vor.

Großmutter trank ihren Kaffee, spuckte Satz aus, braune winzige Körnchen. Marie setzte sich auf ihren Schoß. Mamatschi roch aus ihrem schwarzen Knisterkleid nach Kaffee, süßem Schweiß und Schokolade.

Ein junges römisches Mädchen, Agnes, weigerte sich, vor des Kaisers Standbild und vor ihm selbst niederzuknien. Sie wurde in ein Verlies geworfen und zum Tod verurteilt. Mehrere reiche junge Männer wollten sie zur Frau nehmen, dann wäre sie aus dem Kerker herausgekommen und hätte in Freuden leben können. Aber Agnes hatte schon einen Bräutigam, den sie so liebte wie er sie, sein Name: Jesus. Daher wies Agnes die ganze Bagage der Freier ab. Die rissen ihr zornig die Kleider vom Leib und stellten sie draußen vor alle Leute, damit jeder sie verhöhnen konnte. Aber die Menschen wandten ihre Augen von dem reinen Mädchen ab. Das ergrimmte die Freier noch mehr. Sie schichteten einen großen Scheiterhaufen auf, um Agnes zu verbrennen. Die fürchtete sich, zitterte aber nicht, sondern betete für die Heiden, die ihr so großes Unrecht taten. Ein Schutzengel kam vom Himmel hernieder und hütete sie, so dass die Flammen ihr nichts taten. Als das der Richter sah, gab er dem Henker einen Wink, der zog das Schwert. Agnes beugte ihr Haupt auf den Richtblock. Noch im Sterben betete sie für ihre Mörder.

Ach ja, sagte Mamatschi, heilige Agnes, bitte für uns.

Das Bild im Buch zeigte ein Scheiterfeuer, lodernde rote und gelbe Flammen. Der Scharfrichter hielt sein silbernes Schwert, im Hintergrund stand ein Lamm, in den Wolken flogen Engel in weißen Hemdchen.

Mamatschi fingerte an ihrem braunen Samthalsband mit den fünf aufgestickten Perlen, versuchte noch einen Schluck von dem Kaffee, sie spuckte wieder Satz aus.

Lies auch den Rest vor, sagte Marie. Bitte.

Die bekehrten Römer erbauten über dem Grab der heiligen Agnes eine große Kirche. Lange Zeit wurden Lämmer geopfert, allerdings nicht geschlachtet, sie wurden geschoren. Aus der Wolle der Agnes-Lämmer webten fromme Nonnen weiße Bänder für die Gewänder der Erzbischöfe.

Ach ja, seufzte Mamatschi, so war es.

Auch Lieschen hatte weiße Wolle auf dem Kopf.

Marie ließ sich mit ihr auf dem Boden nieder. Die Puppe schlug Purzelbäume über Mamatschis Pantoffeln, vorwärts, rückwärts, dann kletterte sie an Mamatschis Beinen hoch, krallte sich an den labbrigen Strumpfhosen fest, rutschte ab, stieg wieder aufwärts, sie landete auf Mamatschis Schoß und wurde gewiegt.

Wieder stand Marie auf dem Sessel am Fenster.

Es ging nicht vorwärts mit dem Autozählen, es kam auch kein Bus.

Bauer Weiler trieb die Kühe in den Stall, zum Melken. Also schon Abend.

Dann kamen gleich mehrere Autos hintereinander den Hügel hinauf, Marie erkannte das von Herrn Frings und das von Herrn Zebner. Also Feierabend bei den Rasselsteinern.

Am Feierabend sitzen die Familien zusammen um den Abendbrottisch. Dann Spielen, Aufräumen und Waschen. Dann ins Bett und Beten. Dann kommt die Nacht.

Der Vater und die beiden großen Schwestern wurden von alten Römern in einem Kerker gefangen gehalten. Sie hatten auch Mutter und Katrin erwischt.

Marie wusste: Kinder, die alleine aus dem Haus laufen und auf der Straße schreien, werden verdroschen. Agnes war voll Furcht, zitterte aber nicht. Sie beugte ihr Haupt. Marie rutschte schnell vom Sessel runter, wollte schnell auf die Straße, schnell schreien. Mamatschi hielt sie am Kragen fest: Du musst dich nicht echauffieren! Immer Courage! Marie schrie, Mamatschi, bete!

Die Großmutter nahm das Kind auf ihren Schoß und betete. Mamatschi, bete lauter, schrie Marie.

Sie beteten gemeinsam, laut und lang, immer im Kreis. Mutter weckte sie auf.

Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt

Подняться наверх