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Ort der großen Vorführung

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Es war einmal ein Fürstensaal, ein hohes, kahles Haus. Dort wurden Feiern abgehalten.

Gott selbst war der König, die heilige einige Drei aus Vater, Sohn und heiligem Geist.

Er lebte dreifach, im Himmel, auf Erden und in den Herzen der Menschen, die ihm zu Ehren Kirchen bauten. Manche waren bis in jeden Winkel reich geschmückt mit Bildern, Skulpturen, Blumen, Teppichen, Vorhängen, andere sahen kahl aus. Die Eltern sagten, Gott braucht keinen Prunk. Sie fuhren sonntags mit den Kindern in eine neu gebaute Kirche am Stadtrand. Heilig-Kreuz, heller Beton.

Ein weiß verputzter, hoher, kahler Saal, von Leuchtstoffröhren erhellt. Die Gemeinde saß in einem großen Halbkreis auf Holzbänken vor dem erhöhten Altarraum. Es führten zwei mal drei Stufen hinauf. Dahinter ging es zwei mal drei Stufen abwärts, in einen kleinen Halbkreis, Betreten verboten. Dort lag das Herz der Finsternis.

Im Altarraum gab es den steinernen Opfertisch, er war gedeckt mit einem weißen Tuch. Darüber hing ein Kruzifix aus Holz. Im Altarraum standen auch ein Rednerpult, der Tabernakel mit dem Allerheiligsten und drei Schemel, ein kleiner, ein großer und wieder ein kleiner.

Die Wand im Rücken der Gemeinde war aus vielen einzelnen Bogenfenstern zusammengesetzt. Beton und Bleiglas. Diese Fensterwand ließ wenig Licht ein, außerdem stand die Empore mit der Orgel in ihrer Mitte.

Ein nüchternes, hohes, kahles und kaltes Haus, im Winter behielt man den Mantel an. Wenn man die Kirche betrat, ging man nicht mehr als Gruppe, sondern in einer Reihe.

Die Erwachsenen schienen betreten zu sein, das verstanden die Kinder nicht. Sie hörten und sahen, wie alles war, sie machten sich ihren Reim darauf.

Die Gemeinde schmückte sich am Sonntag für den Herrn, doch niemand sah so königlich aus wie die Männer im Altarraum. In der Woche lebten sie als schwarzgekleidete Witwer miteinander im Pfarrhaus, eine alte Frau besorgte ihren Haushalt. Sonntags trugen sie schwingende, lange Gewänder. Jeder hatte eine bunte Stola um den Hals, sie waren mit Gott verheiratet.

An diesem Ort wurden Sätze in einer ausgestorbenen Sprache zum Leben erweckt, sie wurden gesprochen oder gesungen. Man stand nach Regeln auf, man setzte sich oder kniete sich hin. Wer die Kommunion empfangen durfte, reihte sich in eine Schlange ein und ging nach vorne, bis vor die Altarstufen. Wer noch zu klein war, wartete. Es gab wenig zu sehen, denn die Menschen sollten sich auf Gottes Wort besinnen. Es war die Rede von Blut und Dank, von Hingabe und Gehorsam. Es wurde beschworen, gedroht. Auch das Wort Liebe fiel oft. Man durfte nicht am Daumen lutschen. Alle gelobten immer wieder, Gott zu lieben. Er war ein Lamm und allmächtig. Man musste ihn gleichzeitig lieben und fürchten. Man hörte zu, was über ihn gesagt wurde, man sprach im Chor mit anderen. Viele Wörter entglitten einem, selbst wenn sie auf deutsch gesprochen wurden. Die Wörter waren schwer von Bedeutung, so schwer, dass eins sich beim anderen anlehnen musste. So, aneinander gelehnt, aufeinander gestützt, ineinander gestürzt, flossen sie als ein Schwall dahin. NachlassVergebungundVerzeihungunsererSündenschenkeunsderallmächtigeGottderVaterderSohnund der heiligeGeistAmen.

Neben den regelmäßig wiederholten Wortschwällen gab es wechselnde Reden von den erhöhten Männern. Sie waren Priester, Gottes Stellvertreter.

Es war einmal ein Ort der großen Vorführung. In den Bankreihen saß die Gemeinde still und wartete, bis eine Glocke läutete. Die Orgel setzte im Hintergrund ein, sie brauste. Alle erhoben sich. Aus einer Seitentür traten die Priester und Messdiener ein, man nannte es: Sie halten Einzug. Sie stiegen die Stufen empor. Die Priester lasen aus der Bibel, lasen Geschichten, die auch die Kinder teilweise kannten, denn Mutter erzählte sie zu Hause oft. Marie verwechselte manchmal die Hauptpersonen und die Reihenfolge. Der Ackerbauer Kain ermordete den Viehhirten Abel, seinen eigenen Bruder, oder es war umgekehrt. Moses konnte machen, dass das Wasser aus den Felsen sprang. Elia und Elisa standen am Fluss und einer schlug mit dem Mantel aufs Wasser, da teilte es sich, sie kamen trocken ans andere Ufer. Die beiden wurden von feurigen Pferden getrennt. Marie wäre gern einem feurigen Pferd begegnet. Doch in der Halle hielt man sich still und senkte den Kopf. Später bezeichnete man sich und malte mit dem Daumen unsichtbare Kreuze, eins auf die Stirn, eins auf den Mund und eins aufs Herz. Man stand und sang. Man saß und hörte zu. Erst kam der Tod, danach das Leben. Denn die Menschen hatten allzumal gehasst, den Nächsten, den Bruder, den Herrn. Sie hatten ihr Lamm ans Kreuz geschlagen. Man sagte Amen und sang.

Ein Priester mit Glatze stand auf und hielt einen Vortrag. Er machte in der Ansprache aus allen Leuten eine einzige Familie, er nannte sie Brüder und Schwestern. Er stellte Fragen, die er selbst beantwortete. Man hörte zu. Man machte aus seinem Gesicht eine leere offene Fläche, in der sich nichts regte. Der Redner betrat diese Fläche mit seinen Worten, seiner Stimme. Er herrschte die Leute an, dann klagte er, dann säuselte er und lockte mit dem Zeigefinger. Er runzelte oft die Stirn, er lachte nie. Man konnte mitzählen, wie oft er zur Saaldecke aufsah und dabei eine Sprechpause machte. Alle Priester machten große Gesten. Ihr Gehen war Schreiten. Ihr Nicken war eine Verbeugung des ganzen Oberkörpers. Einer von ihnen schielte leicht, Marie verehrte ihn. Denn er war feurig wie das Pferd, und er meinte es gut. Er donnerte, schlug mit der Faust auf das Pult. Manchmal schüttelte er beide Fäuste gegen die Leute. Immer wieder breitete er die Arme weit aus, dann hob er sie über den Kopf.

Die Gemeinde saß still. Fast alle hatten die Hände gefaltet, so dass man sie leicht hätte fesseln können. Man sollte sich auf das Wort besinnen.

Das fiel einem beim Knien schwer. Es hing jeweils vom Redner ab, wie lang man knien musste. Der schielende Priester horchte jeder Bitte, jedem Geständnis und jedem Dank lange nach, dann fügte er noch eine Bitte, noch ein Geständnis und noch einen Dank hinzu. Er dachte nicht mehr an die Leute, er dachte an Gott, er war in seine Vorführung für ihn versunken.

Der Körper fühlte sich taub an, wenn man aufstehen durfte. Der Geist aber musste sich auf das Wort besinnen.

Ein seltsames Wort war das. Einerseits sprach man es selbst, in Wechselrede mit den erhöhten Priestern. Andererseits waren alle Worte vorgeschrieben von Gott, der abwesend war. Die Worte umkreisten den Abwesenden. Der Abwesende war die Worte. Es war nicht zu verstehen. Er war nicht da und war überall jederzeit. Er schwebte über den Wassern und war ein Geist. Zu Hause in der Badewanne durfte man ihn nicht herbeibeschwören. In der Kirche war er oft zu viel, auch wenn er fort war. Marie mochte auch nicht, dass fremde Leute zu Brüdern und Schwestern wurden. Und es gefiel ihr nicht, dass die Leute aus ihren Gesichtern leere offene Flächen machten, die von den Priestern betreten wurden. Es atmete sich nicht leicht in der Halle. Der Abwesende war beklemmend, man musste stillsitzen, man durfte nicht lachen. Der Herrgott war ein gewaltiges Lamm. Herr Gott war Vater, Sohn und Geist. Er konnte das Leben nehmen und schenken, wofür man dankte. Er gab den Atem und nahm ihn. Als Menschensohn war er Bruder und Freund. Marie hätte es gern verstanden. Sie sah die große Vorführung, sie jubilierte mit den anderen und allen Heerscharen im Himmel, sie verstand es nicht.

Der Abwesende aus der Halle war bei ihr im Bett, in jeder stillen Nacht, wenn alles schläft. Da war er ganz verwandelt. Er kannte kein Müssen. Er war das Wort und nahm Gestalt an.

Er wurde vom weißen Lamm zum feurigen Pferd. Er näherte sich ihr als Bruder und als Freund.

Er war ihre große Verführung. Sie hörte: Wie du willst, Marie.

Auf in Bewegung, ins Offene, los, alles los, in die Wildnis, ins Freie, ich bin es, auf dem feurigen Pferd der Ritt mit dem Daumen im Mund auf die wortlose Reise, langsame Steigerung, schneller und heißer und wilder werden, geschmiegt auf das Pferd, in einem einzigen Rhythmus sein, in einer Bewegung das Atmen, das Pferd und der Reiter, sie stürmen durchs Weite, sie bäumen sich auf, sie sinken zusammen, sie halten einander fest, ein klopfendes Herz ist zu hören, das Eine in Allem und Alles in Einem.

Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt

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