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KAPITEL 4
ОглавлениеDie Stadt erinnerte Martin nicht nur mit ihren zu den Gassen hingewandten Hausdächern an die italienischen Städte, die er auf seinen Pilgerreisen durchquert hatte. Viel welsches Volk war zu sehen und zu hören, das Sprachengewirr wirkte geradezu babylonisch. Er sah Spanier, die sich Goldfäden in die Bärte geflochten hatten, Russen in üppigen Pelzgewändern, griechische Patriarchen, böhmische Studenten, sogar Schwarzhäutige und natürlich Juden. Eine solche Vielfalt verschiedener Menschen hatte er nicht einmal in Venedig gesehen, das als die größte Stadt der Welt galt. Sogar das Geschrei der Händler, Bettler und Stadtknechte war lauter als anderswo. Und überall liefen Frauen in gelben Kleidern umher, boten ihre Dienste an und stritten sich untereinander mit schwäbischem und alemannischem Zungenschlag.
Der Mönch führte sie durch ein weiteres Tor und dann an einer alten Stadtmauer entlang. Vor einer Klosterpforte blieb er stehen. Rogatus reckte den Kopf aus dem Wagen und musterte die Reihe der Wappen, die über der Pforte anzeigten, wer hier alles sein Quartier hatte. Auch das der Abtei Steinreuth war dabei, was ihm ein stolzes Nicken entlockte. Sowie sie die Umfassungsmauer passiert hatten, stieg er aus und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Martin und seine Männer warteten auf weitere Anweisungen, doch Rogatus strafte sie mit Missachtung. Der Novize eilte in die Abtei und kehrte rasch mit einem alten Mann zurück, der sich als der Prior der Abtei vorstellte.
»Ehrwürdigster Bruder Abt«, sagte der Augustiner, empfing Rogatus mit ausgebreiteten Armen und drückte ihm den Bruderkuss auf die Wange. »Pax vobiscum.«
»Et cum spiritu tuo.« Fahrig erwiderte Rogatus den Kuss und winkte Alban heran. Der neigte den Kopf.
»Ich bin Prior Lukas. Lasst mich Eure Füße waschen. Erstaunlich, dass Ihr es in die Stadt geschafft habt.«
»Ich hätte es nicht ertragen, da draußen warten zu müssen. Die Reise war schon schlimm genug. Wir wurden überfallen.«
»Herr im Himmel!« Der Prior schlug ein Kreuz. »Man ist nirgends sicher.«
»Der Heiland hat über uns gewacht, niemandem ist etwas geschehen.« Ungeduldig winkte Rogatus ab. »Warum sind die Stadttore denn geschlossen?«
»Wegen der schlechten Quartierverhältnisse in der Stadt, so hat man uns gesagt. Man kann ja kaum gehen, ohne jemandem auf die Füße zu treten.«
»Das ist allerdings verständlich! Wo sollen denn all die Leute noch hin, die draußen vor den Toren lungern?«
»Das sind zumeist Händler und Bauern, die ihre Waren liefern und dann wieder gehen. Die hohen Herren haben damit wenig zu tun.« Die heisere Stimme des Alten senkte sich, und er neigte sich ein wenig vor. »Tatsächlich ist die drückende Enge nur ein Vorwand. In Wahrheit ist hier ein Machtspiel im Gange. Johannes XXIII. ist nach Konstanz gekommen, um als wahrer und einziger Papst bestätigt zu werden. Er ist der Meinung, über dem Konzil zu stehen, doch das sehen der König und einige sehr mächtige Kardinäle anders. Sie wollen seine Abdankung erzwingen. Das Konzilium ist allein Christus Gehorsam schuldig, sagen sie. Und nun geht das Gerücht, der Papst wolle es zum Scheitern bringen, indem er die Stadt verlässt und den Kardinälen befiehlt, mit ihm zu kommen, um dann in Pisa ein neues Konzil unter seiner alleinigen Führung einzuberufen. Der König will das natürlich nicht dulden und hat deshalb die Tore schließen lassen.«
»Ich bin wahrhaft in einem Tollhaus gelandet!«
Martin hatte aus einigen Schritten Entfernung zugehört und trat nun an den Abt heran. Widerstrebend wandte sich Rogatus zu ihm um. »Was ist?«, fragte er ungehalten.
»Ich warte auf den Sold. Darf ich Euch erinnern, dass ...«
»Jaja, ich sagte, gleich nach unserer Ankunft, aber muss es sofort sein?«
»Nun, wenn der Beutel leer ist ... Meine Leute wollen heute noch in die Stadt, und ich halte sie ungern hin.«
»Vor allem du willst in die Stadt, wie? Die Zeit, meine Zelle aufzusuchen, wirst du mir wohl zugestehen.«
»Ich will Euch nur deutlich machen, dass ich nicht lange auf das Geld zu warten gedenke!«, erwiderte Martin laut und mit Nachdruck. Rogatus presste die Finger an die Schläfen und schüttelte angewidert den Kopf. Dann fasste er Lukas am Ellbogen und ging. Ein weiterer Augustiner erschien und fragte, wer der Anführer der Männer sei.
»Ich bin das«, sagte Martin.
»Dann folge mir, ich zeige dir und deinen Leuten, wo ihr schlafen werdet. Den Wagen werden derweil zwei Knechte leeren. Eigentlich müssten die Pferde in den Ställen außerhalb der Stadt untergebracht werden, aber einen Stall haben wir auch hier, es wird schon gehen. Dort ist auch euer Quartier. Es ist eng und laut, aber besser als nichts.«
»Und was ist mit der Pforte?«
»Der Pforte?« Das Unbehagen, sich um die Truppe kümmern zu müssen, war dem Mönch deutlich anzumerken. »Was meinst du damit?«
»Nun, wir wollen kommen und gehen, wie es uns passt. Außer natürlich, unser Auftraggeber benötigt uns.«
»Ah, ich verstehe.« Die Miene des Augustiners wurde noch säuerlicher. »Ihr wollt fleischlichen Sünden nachgehen. Das könnt ihr ungehindert tun, allerdings müsst ihr bis kurz vor der Komplet das Gelände verlassen haben, weil dann die Pforte geschlossen wird. Geöffnet wird sie nach der Matutin. Erst dann könnt ihr wieder herein.«
»Zum Teufel mit Eurem Latein«, knurrte Martin. »Wann?«
Der Mönch seufzte. »Drei Stunden vor Mitternacht wird sie geschlossen und zwei Stunden nach Mitternacht wieder geöffnet.«
Sie gingen an der Abteikirche vorbei, durch einen noch fast kahlen und größtenteils niedergetrampelten Garten und von dort aus zum Stall. Vor den Verschlägen hockten Söldner auf dem mit Stroh bestreuten Boden und beschäftigten sich mit Würfelspielen.
»Was gibt es hier zu essen?«, fragte Martin.
»Jeden Abend wird reichlich Suppe gekocht. Darüber hinaus gibt es nichts, ihr müsst euch selbst verpflegen. Für die Pferde ist genug Heu und Hafer vorhanden. Ihr Unterhalt kostet drei Pfennige am Tag. Das ist der von der Stadt festgelegte Preis.«
»Suppe.« Misstrauisch äugte Sandro in den Stall. »O Martino, ich will hier so schnell wie möglich weg.«
Der Augustiner eilte fort. Martin führte sein Pferd in die Halle, Sandro und die anderen folgten ihm. Kurz darauf hatten die Männer die Tiere versorgt und ihre wenigen Habseligkeiten im Stroh ausgebreitet. Sie machten sich ebenfalls ans Würfeln, um sich die Zeit bis zur Auszahlung zu vertreiben. Martin ließ seine Brigantine von den Schultern gleiten und suchte dafür einen halbwegs trockenen Aufbewahrungsort. Wahrscheinlich würde er jeden Morgen damit zubringen müssen, frische Rostflecken von den Metallplättchen zu kratzen.
»He, du!«, rief Sandro einem bärtigen Mann zu, der in der Nähe an der Hallenwand kauerte. Nur der tanzende Strohhalm in seinem Mund verriet, dass er wach war. »Erzähl uns ein wenig über die Stadt. Wo muss man hingehen, wenn man sich vergnügen will? Und wo gibt es die schönsten und saubersten Hübschlerinnen und Badehäuser?«
Der Mann brummte etwas in einem äußerst seltsam klingenden Dialekt, ohne die Augen zu öffnen. Ein anderer kam herzu, stieß ihn mit dem Stiefel an und stieg über seine Beine hinweg. »Einen Thurgauer Bergbauern kann man so etwas nicht fragen. Wie viel Geld könnt ihr denn ausgeben?«
»Wenig. Aber es sollte schon für jede Nacht reichen.«
»Jede Nacht? Prahlerisch bist du wohl gar nicht, was?« Er kauerte vor Martin und Sandro auf den Fersen. »Die Badehäuser schlagt euch aus dem Kopf. Die sind immer hoffnungslos überfüllt, da haben sogar vornehme Leute Schwierigkeiten, einen Zuber zu ergattern.«
»Hättest du dir denken können, Sandro«, brummte Martin, während er nachsah, ob seine Laute keinen Schaden genommen hatte. »Die Gaststuben werden ja hoffentlich zahlreicher sein.«
»Oh, das sind sie. Aber brechend voll ist es überall. Wisst ihr überhaupt, wo die Huren ihr Viertel haben?«
»Das muss dort sein, wo wir in die Stadt gekommen sind.« Sandro grinste. »So viele aufgehübschte Weiber habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen.«
»Am Kreuzlinger Tor? Ja, die Gegend nennt man deshalb auch den Süßen Winkel. Aber das größte Hurenviertel ist am anderen Ende der Stadt, am Ziegelgraben. Wer ein Hurenhaus aufsuchen will, muss tiefer in den Geldbeutel greifen, aber dafür sind sie auch sauber. Die Hurenwirte achten auf strenge Zucht. Müssen sie auch, denn die Stadt lädt ihre hochherrschaftlichen Gäste gerne zu einem kostenlosen Besuch ein. Hab ich gehört!« Der Mann lachte über ihre fassungslosen Gesichter. »Ansonsten ist in jeder Gasse eine Hütte oder ein Zelt, wo man schnell sein Vergnügen findet. Die billigsten Huren findet ihr allerdings hier.«
»Hier?«, fragte Martin verblüfft.
»Ja, manchmal kommen welche über Nacht und treiben es mit dir hier in einem Verschlag, wenn du das willst. Der Bruder Pförtner drückt immer ein Auge zu, und die andern Mönche tun so, als wüssten sie nichts. Manchmal winken sie auch selber eine Frau heran, wenn sie den Stall wieder verlässt.«
Sandro lachte und verzog dann die Lippen. »Die billige Möglichkeit behagt mir nicht so.«
Martin stieß ihn mit dem Stiefel an. »Du hässlicher Vogel wirst vielleicht keine Wahl haben? Was dann, hm?«
Die Männer lachten. In gespielter Verlegenheit kratzte sich Sandro am Kopf. »Kennt ihr denn Frauen, die ihr empfehlen könnt? Die keine Krankheiten haben und ... gut sind?«
»Imperia«, sagte plötzlich der Thurgauer genießerisch, öffnete langsam die Augen und nahm ebenso langsam den Strohhalm aus dem Mund.
»Imperia?«, wiederholte Martin. »Was für ein seltsamer Name.«
»So nennt sie sich. Er klingt wahrhaft königlich, nicht wahr?« Es schien, als bereite der Zunge des Thurgauers jedes einzelne Wort große Mühe, so bedächtig redete er. »Wie sie wirklich heißt, weiß niemand. Sie ist eine Römerin. Mit allem Gepränge ist sie in Konstanz eingezogen, wie eine Königin, und hat ein Hurenhaus angemietet, für sich und noch ein paar andere Frauen. Es heißt aber auch, aus ihrem Kopf würden Hörner wachsen. Sie ist die Beste, sagt man, die Königin aller Huren.«
»Ja«, der andere Söldner winkte ab. »Das ist sie. Aber sie empfängt nur allerhöchste Adlige und Würdenträger. Sie ist unglaublich teuer und lässt zudem ihre Besucher auf der Harfe spielen, Gedichte vortragen und andere seltsame Sachen tun.«
Sandro schlug Martin auf die Schulter. »Diese gehörnte Imperia werden wir uns wohl aus dem Kopf schlagen müssen, denn deine Fähigkeiten auf der Laute dürften zu bescheiden sein, um sie zu erweichen.«
»Da magst du recht haben, mio amico. Aber wenn der Abt nicht bald den Sold bringen lässt, schaffen wir es heute ohnehin nicht mehr rechtzeitig hinaus.«
Der Söldner lachte. »Kümmert euch nicht um die vorgeschriebene Nachtruhe! Es gibt einen bequemen Weg über die Mauer, den nehmen wir, wenn das Tor verschlossen ist.«
»Und dann? Sollen wir im Dunkeln herumstolpern, oder wie?«
»Konstanz ist nicht wie andere Städte, das wirst du schon noch merken. Hier kann man auch nachts durch die Straßen laufen, denn überall haben sich reiche Leute einquartiert, deren Fenster bis weit in die Nacht erhellt sind. Und auf den Gassen gibt es immer welche, die eine Lampe bei sich tragen. Man kann sogar Lampenträger mieten. Hier schert sich niemand um die Nachtruhe, und die Sperrstunden sind spät. Es laufen zwar jede Menge Stadtwachen herum, aber die machen nur Ärger, wenn man laut ist. Kommt, ich zeige euch den Weg über die Mauer.« Er erhob sich, Martin und Sandro folgten ihm. Es war nur ein kurzes Stück hinter den Stall und an der Mauer entlang, die zwei Klafter hoch war und überall gut und glatt verputzt. Nur an einer Stelle zeigten sich Brüche und Löcher. Hier würde es nicht schwierig sein, auf die andere Seite zu kommen. Zurück beim Stall, fand Martin seinen Bruder am Eingang, mit einem Geldbeutel in der Hand. Während der Söldner im Stall verschwand, händigte Alban ihm mit steifer Geste den Beutel aus, ohne ihn dabei anzusehen. »Es sind die gewünschten ungarischen Rotgulden. Es gibt in der Stadt Wechseltische, wo ihr sie in Kleingeld eintauschen könnt.«
Martin ließ die Gulden auf seine Handfläche gleiten. Rasch hatte er sie gezählt und wieder zurück in den Beutel gesteckt, den er Sandro in die Hand drückte. »Zahl die Männer aus, Sandro«, sagte er, ohne den Blick von Alban zu lösen. Misstrauisch sah Sandro von einem zum andern, gehorchte aber und ging.
»Dass du dich nicht schämst, hier zu erscheinen«, stieß Martin endlich hervor. Seine Hände zuckten; am liebsten hätte er seinen Bruder am Habit gepackt und geschüttelt, bis dieser alle Sinne verlor.
»Martin ...« Noch immer wagte Alban nicht, die Augen zu heben. »Ich habe versucht, es ihm auszureden.«
»Das wird ein erbärmlicher Versuch gewesen sein! Ich glaube ja eher, du warst schadenfroh und hast erst so kläglich dreingeschaut, als er dir sagte, dass du es sein wirst, der mir die frohe Kunde bringt. Zum Teufel mit ihm, Alban! Ich habe ja damit gerechnet, dass er es wahr machen wird, mir meinen Sold zu halbieren. Aber nun verweigert er mir nicht nur die Hälfte, sondern alles?«
»Er ... er meinte, dass du deinen Teil vom Sold der Männer abzweigen sollst.«
»So unehrenhaft wie er bin ich aber nicht!«, schrie Martin. Es war ihm völlig gleichgültig, ob er im ganzen Kloster zu hören war. Er stieß seinen Bruder beiseite. »Das soll er mir selbst erklären.«
»Tu das nicht«, sagte Alban hastig. »Oder warte wenigstens bis morgen früh. Jetzt ist er müde und unleidlich.«
»Das bin ich auch. Und? Hat er darauf Rücksicht genommen?«
»Du wirst jetzt nichts erreichen. Schon gar nicht mit solch einer Wut im Bauch.«
Martin musste dreimal tief Atem holen, um sich halbwegs zu beruhigen. »Gut, morgen also. Wann genau?«
»Nach der Laudes, kurz nach Sonnenaufgang. Ich bin dann hier, um dir den Weg zu zeigen.«
»Und um aufzupassen, dass es nicht allzu schlimm wird, nehme ich an, aber meinetwegen. Nur denk daran: Ich drehe dir den Hals um, wenn du nicht pünktlich bist.« Martin machte auf dem Stiefelabsatz kehrt und stapfte in den Stall zurück. Seine Männer waren bereits mit ihren Plänen beschäftigt, wie sich die klingenden Münzen am besten ausgeben ließen. Nur Sandro stand abseits, den geleerten Beutel in der Hand.
»Er hat es wirklich getan?«
»Ja.«
»Ach, mio amico, lass dir deshalb die Laune nicht schlecht werden. Was ich habe, genügt heute Abend für uns beide, und morgen ...«
»Nein, Sandro. Ich will dein Geld nicht. Geh ohne mich.« Martin breitete seine Wolldecke auf dem Stroh aus, setzte sich darauf und ergriff seine Laute. Über ihm baute sich sein Freund auf.
»Willst du mir jetzt auch noch den Abend verderben, indem du nicht mitkommst? Wochenlang haben wir darüber geredet, wie wir beide zusammen die Stadt erkunden wollen. Und jetzt soll es an deinem verdammten Stolz scheitern? Das kannst du mir nicht antun!«
»Ich tu es aber. Dein Versuch, mich umzustimmen, ist entsetzlich durchschaubar. Du wirst auch so deinen Spaß haben, also verschwinde.«
»Sei un disastro!« Schnaufend stapfte Sandro fort und schloss sich den Männern an, die sich bereits auf den Weg machten. Martin betrachtete die Laute und fing nach einer Weile an zu spielen. Es klang grauenhaft, denn ein stechender Schmerz zuckte durch seine rechte Hand und ließ sie verkrampfen. Mit einem wütenden Aufschrei schleuderte er das Instrument zu Boden.
***
Alban fürchtete sich vor dem Morgen. Er bezweifelte nicht, dass das Gespräch zwischen Martin und seinem Herrn zu einem erneuten Streit führen würde, und gewiss würde sich Martin dazu hinreißen lassen, Rogatus unter die Nase zu reiben, dass er und Alban Brüder waren. Alban fragte sich, ob er denn verrückt gewesen sei, geglaubt zu haben, die Reise mit Martin könne gut ausgehen. Einerseits verstand er seinen Zorn, denn Rogatus’ Verhalten war unrecht. Andererseits war der schändliche Mammon kein Grund, sich derart gehenzulassen. Geld war des Teufels.
Gemeinsam mit den anderen Mönchen beteten sie im Kapitelsaal die Komplet. Danach wurden sie in ihre Unterkunft geführt. Albans Zelle entpuppte sich als eine winzige Kammer, in der kaum mehr als eine schmale Pritsche Platz fand. Sie war kalt, zugig und stank, denn das winzige Fenster ging auf eine Abwassergrube hinaus. Aber er nahm es hin. Rogatus hingegen, der ganz in der Nähe eine ähnliche Zelle zugewiesen bekommen hatte, trat mit grimmiger Miene heraus und befahl Alban, ihm zu folgen. Nach wenigen Schritten kam ihnen der Prior entgegen. Lukas grüßte sie mit einem Nicken und wollte vorübergehen, doch Rogatus versperrte ihm den Weg.
»Eine üble Zelle hat man mir da zugeteilt, Bruder Prior. Sie stinkt nach Gülle, weil sie zur Latrine hinausgeht; es liegen tote Mäuse darin, die Decke ist voller Spinnweben, und der Türriegel ist wohl schon vor Jahren abgefallen. Ich bin wirklich genügsam, wie es der heilige Benedikt verlangt, aber – muss das sein?«
Alban räusperte sich und senkte den Kopf. Die Unbescheidenheit seines Abtes beschämte ihn, auch dass dieser das Gebot, nur zu sprechen, was nötig und ehrbar war, so oft übertrat. Auch Prior Lukas schaute verwirrt, antwortete aber freundlich: »Es ist ein alter Lagerraum. Die Abtei ist hoffnungslos überfüllt, Ihr hattet Glück, untergekommen zu sein. Aber ich werde einen Bruder bitten, die Kammer auszufegen. Es hätte längst geschehen sollen, ich bitte um Eure Nachsicht.«
»Danke. Wo ist das Skriptorium? Ich möchte heute noch ein wenig an meinem Bericht über die Ketzerlehren und ihre Auswirkungen rund um Steinreuth feilen, damit ich ihn in den nächsten Tagen dem Konzil übergeben kann.«
Der Prior führte sie in einen weitläufigen Raum, in dem mehrere Schreibpulte standen. Auf allen lagen Bücher, Pergamente und Papier; sorgfältig aufgeräumt standen die Tintenfässchen und Gänsekiele in ihren Halterungen. Alban atmete den vertrauten, holzigen Duft ein, der ihn daran erinnerte, wie er selbst früher in der Schreibstube gestanden und die berühmten Werke großer Lehrmeister kopiert und illuminiert hatte. Doch mit dem Geruch verbanden sich auch hässliche Erinnerungen, und er schüttelte den Kopf, um sie zu vertreiben.
Von einem Pult hob Lukas einen großen Folianten herunter, um Platz zu schaffen. »Fühlt Euch frei, alles zu benutzen.«
Rogatus bedankte sich. Nachdem Lukas fort war, zog er eine kleine Kladde unter seinem Skapulier hervor, öffnete sie und legte sie auf das Pult. »Alban, möchtest du für mich schreiben, oder soll ich es selbst tun?«
»Wenn Ihr es wünscht, ehrwürdiger Abt, schreibe ich.« Zwar war es Alban höchst unangenehm, etwas aufschreiben zu müssen, das seinem verehrten Meister Hus schadete, aber er hatte kaum eine Wahl. Er schuldete seinem Abt Gehorsam.
»Gut.« Rogatus ließ ihn ans Pult treten. Ein wenig befangen nahm Alban die Gänsefeder aus ihrer Halterung, prüfte den Kiel, feilte ihn und öffnete das Tintenfass. Eine ganze Weile beobachtete Rogatus ihn, ohne ein Wort zu sagen. Alban spürte, dass dem Abt etwas auf der Zunge lag, das er nur mühsam zurückhalten konnte.
»Ich habe Neues über den Ketzer gehört«, sagte Rogatus endlich und lächelte dabei. »Wirklich interessante Dinge.«
Nur kurz verharrte Alban in seinen Bewegungen. »Was sind das denn für Neuigkeiten?«
»Die französischen Kardinäle haben ihn gefangen setzen lassen.«
»Aber ...«, Alban fasste sich rasch. Er wollte nicht, dass Rogatus merkte, wie sehr ihn diese Mitteilung bestürzte. »Hatte er nicht königliches Geleit?«
»Der Brief Sigismunds, der ihm Freiheit zugestand? Der ist offenbar das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben stand.«
Alban schluckte, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Er konnte kaum glauben, dass der König so skrupellos sein Wort brach. »Und der Papst?«
»Welcher?«
»Ich meine ... ich meine den einen Papst, der in der Stadt ist«, stotterte er. »Er sagte doch, er werde Hus schützen.«
»Nun, bisher hat er das wohl nicht getan. Es bleibt noch abzuwarten, wie er sich verhält. Zurzeit befindet sich Hus in einem Verlies auf der Dominikanerinsel, und zwar schon seit St. Nikolaus.«
Alban erinnerte sich, diese Insel bei seiner Ankunft gesehen zu haben. Wuchtig und düster hatte sie vor der Stadt auf dem See gethront. Im Kloster der Dominikaner also sollte Hus gefangen sein? Das klang nicht so schlimm, auch wenn mehr als drei Monate in Gefangenschaft eine üble Sache waren.
»Sie haben einen Käfig für ihn gezimmert und in einem feuchten Turmgelass aufgestellt, gleich neben einer Sickergrube.«
Der Kiel entglitt Albans Fingern, und er bückte sich hastig danach. Was er da hörte, klang so entsetzlich, dass er es kaum glauben mochte. Wie konnte man einen Menschen so behandeln? Und das in einem Kloster? So also ging der Klerus mit Menschen um, die es wagten, seine Macht in Frage zu stellen. Auf zittrigen Knien erhob er sich und versuchte, den Kiel festzuhalten.
»Es erging ihm darin so dreckig, dass er schwer erkrankte«, fuhr Rogatus genüsslich fort.
Alban umschloss das Schreibwerkzeug mit der Faust und hoffte, dass er nicht sofort schreiben musste, er hätte nur hässliches Gekritzel hervorgebracht. »Es erging ihm schlecht? Was heißt das? Ist er gestorben?«
»Nein, bevor das geschehen konnte, kam er in ein anderes Verlies, wo es wohl nicht ganz so schlimm zugeht. Sie wollen ihn zermürben, aber nicht sterben lassen. Angeblich hat ihm der Papst sogar seine eigenen Leibärzte geschickt, damit er bis zum Prozess durchhält. Bist du nun endlich bereit?«
Unwillkürlich zuckte Alban zusammen. Bereit wofür? Die traurige Wahrheit zu erkennen, dass Johannes Hus übel mitgespielt wurde? Dass seine einzige Hoffnung offenbar auf den Schultern des italienischen Papstes ruhte, der im Grunde sein Feind war? Balthasar Cossa war sein bürgerlicher Name; er war ein hitzköpfiger Neapolitaner, der als einziger der drei Päpste selbstbewusst genug war, sich dem Konzil zu stellen. Er konnte Hus helfen. Wenn er wollte.
»Du zitterst ja.«
Eine warme Hand legte sich auf seinen Hinterkopf und streichelte ihn sanft. Er biss sich auf die Lippe, um den Wunsch, sie abzuschütteln, zu unterdrücken. Vorsichtig tauchte er den Federkiel in die Tinte und zog ihn heraus. Er suchte das Ende des Manuskripts und ließ den Kiel über dem Blatt schweben. »Ehrwürdiger Abt, ich bin bereit.«